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Der lange Schatten der 8er Jahre | Österreich | bpb.de

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Der lange Schatten der 8er Jahre Kritische Geschichtsbetrachtung und Demokratiebewusstsein - Essay

Oliver Rathkolb

/ 15 Minuten zu lesen

Die sogenannten 8er Jahre in Österreich – 1848, 1918, 1938 und 1968 – sind Schlüsseljahre der österreichischen Demokratiegeschichte. Eine Beschäftigung mit ihnen schärft ein kritisches Geschichtsbewusstsein und stärkt das Demokratiebewusstsein.

Nach Étienne François und Hagen Schulze sind Erinnerungsorte, wie sie der Französische Historiker Pierre Nora als "Lieux de Mémoire" entwickelt hat, "langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität". Die sogenannten 8er Jahre in Österreich – 1848 (Revolution), 1918 (Republikgründung), 1938 ("Anschluss"), 1968 (Prager Frühling beziehungsweise 68er-Bewegung) – sind Schlüsseljahre der österreichischen Demokratiegeschichte. Sie veranschaulichen die Definition der "Erinnerungsorte", wobei deutlich wird, dass diese wie auch das kollektive Gedächtnis selbst immer Wandlungen unterworfen sind beziehungsweise im Laufe von Generationen verschwinden können. Zu diesen Topoi gehören beispielsweise zentrale historische Schlüsseljahre und Ereignisse oder in der jeweiligen historischen, nationalen Diskussion zentrale Begriffe, Feste, Rituale, Persönlichkeiten oder Mythen. Im Folgenden werde ich die genannten Erinnerungsorte der 8er Jahre thematisieren, die die Erinnerung an die Geschichte der parlamentarischen Demokratie reflektieren, punktuell mit vergleichbaren kollektiven Erinnerungsdebatten in Ungarn in Beziehung setzen und am Ende begründen, warum die Beschäftigung mit diesen Daten von Wert für die Demokratie ist.

1848 – ein polarisierender, vergessener Erinnerungsort

Als der damalige Kulturminister Josef Ostermayer zu Beginn der Debatte um ein Haus der Geschichte Österreich in der Neuen Burg im Februar 2015 "1848" als einen möglichen Beginn für die museale Umsetzung dieses Museumprojekts vorgeschlagen hatte, gab es Aufregung bei einigen der Österreichischen Volkspartei nahestehenden KommentatorInnen, die meinten, hier würde eine Art "sozialistische Revolution" ins Zentrum des Hauses der Geschichte gestellt werden.

Tatsächlich hatte die Sozialdemokratie die eigentlich bürgerliche Revolution 1848 Ende des 19. Jahrhundert (bis 1933) zu einer sozialistischen umcodiert und auch große Feiern für die "Märzgefallenen" organisiert, die zu Machtdemonstrationen, vergleichbar mit dem 1. Mai, wurden. Schon 1895 sah sich die Sozialdemokratie in Cisleithanien als Nachfolgerin des liberalen Bürgertums, das diese Revolution nicht mehr feierte, da der Liberalismus als politische Kraft bereits fast wieder verschwunden war. Ab 1888 wurde nicht mehr der Obelisk auf der Schmelz, sondern der neue Zentralfriedhof zum Treffpunkt der Gedenkfeiern, nachdem der Friedhof auf der Schmelz aufgelöst und die 35 Märzgefallenen exhumiert worden waren. An die Niederschlagung der Wiener Oktoberrevolution 1848 mit 3000 bis 4000 Toten, 70 in Österreich vollstreckten Todesurteilen und 120 Exekutionen in Ungarn wurde nur indirekt erinnert. Nach den Märzereignissen 1848 schien sich ja die bürgerliche Revolution durchgesetzt zu haben, die Niederlage war scheinbar weniger zur symbolischen Inszenierung geeignet.

Nach 1945 wurde diese konstruierte Parteitradition der Sozialdemokratie nur von dem kommunistischen Vordenker Ernst Fischer, der ursprünglich Sozialdemokrat war, in einer Broschüre wieder aufgenommen, die nun im Zeichen des Klassenkampfes und des Nationalitätenkonflikts stand. Der Sozialdemokratischen Partei Österreichs hingegen waren die großdeutschen Traditionen, die mit 1848 und der Frankfurter Paulskirche verbunden waren, nicht mehr genehm, da der "Anschluss" an Deutschland als politische Doktrin zugunsten der Akzeptanz eines kleinen Österreichs aufgegeben worden war.

Heute ist 1848 ein vergessener Erinnerungsort. Der Jurist und Politikwissenschaftler Manfried Welan schreibt zu Recht in diesem Zusammenhang vom Fehlen eines Revolutionspatriotismus, der letztlich das Manko erkläre, warum es in Österreich keinen Verfassungspatriotismus gebe. Heute erinnern nur mehr schlagende deutschnationale Burschenschaften an 1848 – und die Israelitische Kultusgemeinde, da unter den Märzgefallenen Studenten jüdischer Herkunft waren. In Ungarn hingegen ist die Erinnerung an 1848 nach den intensiven Feiern zur 1956er Revolution eine nach wie vor wichtige Säule der aktuellen Geschichtspolitik – weniger aber aus demokratiepolitischer Sicht, sondern eher als Teil der Konstruktion einer ungarischen Nation auf der Basis von Niederlagen auf dem Weg zur nationalen Unabhängigkeit.

12. November 1918 – ein umstrittener Nationalfeiertag

Nicht nur 1848, sondern auch 1918 war in der Ersten Republik ein umkämpfter, "ungeliebter" Erinnerungsort, obwohl der 12. November 1918 als Tag der Ausrufung der Republik "Deutsch-Österreich" zum Staatsfeiertag erklärt worden war. Während Otto Bauer, die prägende Führungspersönlichkeit der Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit, diesen Tag als Symbol für eine "demokratisch-nationale" Revolution bezeichnete, wandten sich die bürgerlichen Kräfte gerade gegen diese Deutung. Immer wieder kam es später zu gewalttägigen Auseinandersetzungen an diesem Jahrestag – in den frühen 1930er Jahren auch zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten.

Bestenfalls gibt es heute vage visuelle Erinnerungen an das Foto von diesem Ereignis, mit dem Transparent "Hoch lebe die sozialistische Republik" vor dem Haupteingang des Parlaments und der Figur der Pallas Athene. Nur im Filmdokument werden die zerstückelten ehemals rot-weiß-roten Fahnen, aus der der weiße Mittelteil herausgetrennt worden war, sichtbar: Rote Garden wollten offensichtlich symbolisch den Beginn des Sozialismus und einer Revolution markieren. Bald nachdem diese Fahnen aufgezogen wurden, fielen Schüsse Richtung Parlament: Der sozialdemokratische Schriftsteller Ludwig Brügel wurde von einer Kugel getroffen und verlor ein Auge, 30 Menschen wurden verletzt, zwei angeblich getötet. Trotz der folgenden Massenpanik am Ring blieb die angesagte Revolution aus, nur die Redaktionsräume der "Neuen Freien Presse" wurden kurzzeitig besetzt.

Geblieben sind von diesem Tag jedoch die prägenden "Geburtsfehler" für eine funktionierende demokratische politische Kultur in der Ersten Republik: die Identitätsfrage, die Tendenz, Politik mit Gewalt durchzusetzen, die ausgrenzende Versäulung der großen politischen Massenparteien aus der Zeit der Monarchie, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten, mit größtenteils völlig konträren Lebens- und Politikentwürfen sowie die katastrophale wirtschaftliche Lage als Folge der Auflösung des Österreichisch-Ungarischen Staates und des Krieges.

Während heute das Nationalbewusstsein der ÖsterreicherInnen im internationalen Vergleich bereits als "Hyperpatriotismus" bezeichnet werden kann und im europäischen Kontext ziemliche Probleme bereitet, blieb die Identitätsfrage, die schon die Monarchie geplagt hatte, nach 1918 ungelöst – selbst nach dem Verbot eines Anschlusses an Deutschland der Alliierten dominierten darauf bezogene Ideen zumindest bis zur Machtübernahme Hitlers 1933.

Diese Vorstellungen waren auch im katholischen Kulturdeutschnationalismus des ursprünglich antinazistischen, klerikal orientierten Regimes von Engelbert Dollfuß und seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg am Rande Wegweiser für den "Anschluss" 1938. Der autoritär, ohne Parlament agierende Schuschnigg brachte die Folgen dieser Identitätsverwirrung der ÖsterreicherInnen in seiner Kapitulationsrede mit dem Verzicht auf militärischen Widerstand auf den Punkt: "weil wir um keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind".

Der Nationalfeiertag der Ersten Republik, der 12. November 1918, galt als umstrittener Feiertag, wie Aufmärsche paramilitärischer Organisationen der großen Parteien und Pressepolemiken am zehnten Jahrestag 1928 untermauerten. Daran konnte selbst die Grundsteinlegung für das Wiener Praterstadion anlässlich des Republikjubiläums nichts ändern. Das von dem sozialdemokratischen Gesundheitsstadtrat und Universitätsprofessor für Anatomie, Julius Tandler, initiierte Republikdenkmal beim Parlament zeigte nur die sozialdemokratischen Politiker Victor Adler, Jakob Reumann und Ferdinand Hanusch.

Trotz dieser Gegensätze und der sozialen und ökonomischen Krise war es aber zumindest in den ersten Jahren nach 1918 gelungen, nach dem Zerfall der Monarchie in neue Nationalstaaten in einer Konzentrationsregierung beziehungsweise Großen Koalition bis Oktober 1920 unter der Führung des sozialdemokratischen Staatskanzlers Karl Renner, den formalen Rahmen sowohl für Wahlen als auch sozialpolitische Gesetze über den Acht-Stundentag, die Kinderarbeit und die Heimarbeit in der Nationalversammlung zu erarbeiten. Im Zentrum standen auch das allgemeine Frauenwahlrecht und die österreichische Verfassung 1920 als die großen Erfolge dieser kurzen Nachkriegsallianz. Diese erfolgreiche erste Große Koalition blieb in der Erinnerungspolitik der Zweiten Republik ausgeklammert, die maßgeblich von Großer Koalition und Sozialpartnerschaft geprägt werden sollte.

Heute, 100 Jahre später stellt kaum jemand mehr den demokratischen und republikanischen Weg Österreichs nach 1918 infrage. Gleichzeitig wird der brutale Erste Weltkrieg, den die Eliten der Habsburger Monarchie – unterstützt vom preußischen Imperialismus – vom Zaun gebrochen haben, und der die europäische Gesellschaft radikal verändert hat, in Österreich kaum mehr bewusst erinnert – obwohl seine Folgen bis heute wirksam sind.

Dabei könnte 1918 für Europa ein neuer gemeinsamer Reflexionspunkt im Sinne transnationaler Erfahrungen und Prägungen werden. Vor dem Hintergrund der europäischen Integration sind Fragen wie Migration und Integration im Habsburgerreich, aber auch der Nationalitätenkonflikt und die Gründung der Nachfolgestaaten sowie die Erosion der jungen demokratischen Strukturen höchst relevante Geschichtsthemen. Diese könnten durchaus die vorherrschende nationalstaatliche Abgrenzung und Ausgrenzung der Nachbarstaaten aus dem österreichischen Geschichtskanon nach 1918 auflösen.

Was aber ist von 1918 und der Zeit danach im Gedächtnis geblieben? In einer Studie von 2007 zeigte sich beispielsweise, dass jener Kanzler, der 1933 das Parlament nach einer Geschäftsordnungskrise auflöste und im Juli 1934 von österreichischen Nationalsozialisten bei einem Putschversuch ermordet wurde, nur mehr von etwas mehr als 40 Prozent der befragten Personen historisch bewertet werden konnte. Der Aussage "Bundeskanzler Dollfuß verdient große Bewunderung" stimmten 24,6 Prozent zu, 40,3 Prozent gaben keine Antwort, 36,6 Prozent lehnten diese Feststellung ab. Hinsichtlich der Nachfrage, ob Bundeskanzler Dollfuß die Demokratie zerstört habe, antworteten 19,1 Prozent mit Ja und 19,6 Prozent mit Nein, 47,7 Prozent hatten keine Meinung.

Wie stark die Erinnerung an 1918 an die jeweilige Geschichtspolitik angebunden ist, zeigt sich an den Ergebnissen derselben Umfrage, bei der 80 Prozent der befragten Ungarn den Friedensvertrag von Trianon als die größte nationale Tragödie bezeichneten. Dieses Leidensnarrativ wird durch die Erinnerung an die blutig niedergeschlagene Revolution von 1956, aber auch eine sehr negative Einschätzung der sozialen und ökonomischen Entwicklungen nach 1989 und das Ende des Kalten Krieges verstärkt. In Tschechien und Polen hingegen wird 1989 wesentlich positiver erinnert.

1938 – Seismograf für die Opferdoktrin und eine kritische Geschichtspolitik gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust

Das Jahr 1938 und der nachfolgende nationalsozialistische Terror im Zweiten Weltkrieg und Holocaust sind inzwischen bereits nicht nur europäische, sondern internationale Erinnerungsorte geworden. Bereits 2008 wurde nicht nur an den "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland erinnert, sondern auch an die Kollaboration zahlreicher ÖsterreicherInnen. Gerade 2018 sollten wir weiter an der notwendigen Dekonstruktion der selbstverliebten "Opferdoktrin" arbeiten – durch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Novemberpogromen am 9./10. November 1938 an Juden und Jüdinnen, bei denen es zahlreiche österreichische TäterInnen und viele ZuschauerInnen gegeben hat.

Umfragen aus 2017 belegen aber, dass es durchaus – trotz gestiegenem selbstkritischen Geschichtsbewusstsein zur Kollaboration mit den Nationalsozialisten – eine Tendenz zum "Schlussstrich" gibt: 40 Prozent der Befragten äußern sich dahingehend, dass Diskussionen über den Zweiten Weltkrieg und Holocaust beendet werden sollten.

1945 wurden nur teilweise die "Lehren aus der Geschichte" gezogen, wobei die beiden großen Parteien ein gemeinsames Ziel hatten: die Wiederherstellung der Souveränität eines demokratischen Österreichs und die Loslösung von Deutschland. Die externen Zwänge des Wiederaufbaus, die alliierte Administration und der beginnende Kalte Krieg überwanden die durchaus bestehenden ideologischen Gräben und Konfliktzonen. Der Bürgerkrieg des Februar 1934 wurde nach 1945 durch einen "Burgfrieden" neutralisiert, aber nicht aufgearbeitet. Der Mythos der gemeinsamen "Lagerstraße", das heißt das gemeinsame Erleben ehemaliger politischer Gegner von Verfolgung, Haft und Folter in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, sollte einen Schlussstrich unter die umkämpfte Vergangenheit und die Gewalt in der Politik der Ersten Republik ziehen, während gleichzeitig die "Opferdoktrin" die Kollaboration von ÖsterreicherInnen in der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Expansionsmaschinerie auf wenige TäterInnen reduzieren wollte. 2018 ist hoffentlich kein Platz mehr für derartige Geschichtsverfälschungen.

Sonderfall 1968

Die Ereignisse des Jahres 1968 – "Prager Frühling" und seine Niederschlagung sowie die Studentenproteste – bilden in Österreich zunehmend zwei getrennte Erinnerungsorte. 2018 wird ausführlicher als zuvor über die 1968er-Bewegung berichtet, wohingegen der Erinnerungsort der Zerschlagung des "Prager Frühlings" aufgrund des Endes des Kalten Krieges und des Generationenwechsels etwas an Bedeutung abnimmt. Nichtsdestotrotz dominiert er weiterhin die kollektive und mediale Auseinandersetzung in Österreich.

Niederschlagung des Prager Frühlings

Der Fokus auf die Ereignisse im Nachbarland, die mit der militärischen Intervention der Sowjetunion und Verbündeter des Warschauer Paktes endeten, hängt damit zusammen, dass die Bedeutung der österreichischen Neutralität als geopolitisch nützliches Modell betont und diese wichtige Identitätsmetapher verstärkt werden kann. 2008 ist eine interessante Zusatzvariante in den medialen Inszenierungen dazu gekommen – die am Rande aber immer vorhanden war –, nämlich die starke prowestliche und massiv antikommunistische Parteinahme österreichischer Medien, obwohl oft übersehen wird, dass das Dubček-Regime letztlich nur einen anderen Kommunismus umsetzen, aber keineswegs eine westliche pluralistische Demokratie mit Mehrparteiensystem etablieren wollte.

Betont wird aber letztlich, dass Österreich damals wie 1956 bei der ungarischen Revolution als Asyltransitland funktionierte und damit seinen Neutralitätsstatus in der Krise erfüllte. Bis zum 17. September 1968 wurden in 93.653 Fällen für tschechoslowakische Staatsbürger, die vorerst in Österreich die Entwicklung der Situation abwarten wollten, Quartier und Verpflegung zur Verfügung gestellt. In diesem Zeitraum stellten aber nur 1355 Personen Asylanträge. Bis 1970 blieben 160.000 Tschechen und Slowaken nur für kurze Zeit in Österreich, nur rund 10.000 stellten Asylanträge, und nur 600 wurden eingebürgert.

1968er-Bewegung

Während in vielen westeuropäischen Gesellschaften bei 1968er Jahrestagen immer die Studentenbewegung 1968 und der Sturm auf die autoritären Strukturen betont wird – so in Frankreich oder in der Bundesrepublik Deutschland – spielte dies lange in Österreich keine Rolle, obwohl "1968" natürlich auch ein Teil der demokratischen Entwicklung in der Zeit nach 1945 in Westeuropa war. Typisch für die Situation in Österreich ist, dass die "68er-Revolution", wie dies der Historiker Fritz Keller treffend formuliert hat, im universitären-studentischen Umfeld höchstens eine "heiße Viertelstunde" gewesen ist.

Zwar gab es bereits im Jänner 1968 Versuche, die deutsche und französische studentische Debatte an der Universität Wien mit ersten Diskussionen über die autoritären und rückschrittlichen Strukturen an österreichischen Universitäten mit deutschen und österreichischen Professoren und Studenten aufzunehmen. Tenor der damaligen Berichterstattung war: "Universität: Wie im Mittelalter! Deutsche Professoren sind über Verhältnisse an Österreichs Hochschulen entsetzt. Erschütternder Eindruck von dem reaktionären Geist, von der Missachtung der demokratischen Grundprinzipien".

Doch derartige Kontroversen wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und führten zu keinen kurzfristigen Strukturänderungen. Selbst Demonstrationen wie bei einem Vortrag eines Diplomaten des autoritären griechischen Regimes lassen sich in deren Wirken mit dem Bonmot eines Pedells gegenüber dem damaligen Rektor Fritz Schwind zusammenfassen: "Magnifizenz, im Audi Max is’ a Wirbel" (12. März 1968), der sich seinerseits auf einem Ball im Großen Festsaal der Universität Wien befand und nicht wirklich irritiert zeigte.

Heftige negative öffentliche Meinungsmache und massive polizeiliche und gerichtliche Verfolgung folgte aber der "Aktion Kunst und Revolution" von Otto Muehl, Günter Brus, Oswald Wiener und anderen am 7. Juni 1968 im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes. Die AktionistInnen versuchten, Bewusstsein für die autoritären gesellschaftlichen Zustände zu schaffen und vor allem öffentliche Reaktionen zu initiieren, was durch zahlreiche Tabubrüche erfolgen sollte. Selbst der "linke" "Express" jagte "Österreichs Kulturrevoluzzer" und die konservative Tageszeitung "Die Presse" beklagte "dass hunderte Studenten hier wohlgefällig zusehen und nicht zumindest weggesehen haben". Die linken Studentenfunktionäre fürchteten, dass durch diese Diskussion endgültig Studentenproteste wie in Frankreich oder der Bundesrepublik Deutschland in Österreich nicht Nachahmung finden konnten – und sie sollten Recht behalten. Typisch für die andere 1968er-Bewegung in Österreich ist, dass sie nicht nur von "Linken", sondern auch von ÖVP-nahen StudentInnen und jungen NachwuchspolitikerInnen aus dem Cartellverband (CV) getragen wurden und dass kleinere Universitäten wie Graz oder Salzburg eine wichtige Rolle bei Strukturänderungsdebatten spielten.

Die großen demokratiepolitischen Reformprojekte in den Universitäten – Drittelparitäten und Entscheidungsmöglichkeiten für StudentInnen und MittelbauvertreterInnen gleichberechtigt mit ProfessorInnen –, in der Justiz und im Sozialbereich erfolgten erst im Laufe der 1970er Jahre. Kanzler Bruno Kreisky kanalisierte den gesellschaftlichen Druck nach mehr gesellschaftlicher Öffnung geschickt und setzte ihn in konkrete Reformmaßnahmen um. "Wer die Demokratie stabilisieren will, muss sie in Bewegung halten", ist ein typisches von Kreisky verwendetes Zitat aus dieser Zeit. Immer wieder thematisierte er diese Vision, die die gesamte Gesellschaft umfassen sollte: "Durchflutung aller gesellschaftlichen Bereiche mit Ideen der Demokratie". Hier steht er wie Willy Brandt in der Bundesrepublik Deutschland mit seiner Devise "Mehr Demokratie wagen" in einem Diskurs, der radikale Konzepte der 1968er-Bewegung politisch kanalisieren, aber die Jugend stärker in die politische Kommunikation einbinden sollte.

Die Reformen nahmen der 1968er-Bewegung letztlich den gesellschaftlichen Druck und verhinderten eine mögliche militante Radikalisierung wie in der Bundesrepublik Deutschland (mit der RAF) oder in Italien (Rote Brigaden). Viele damals aufgeworfene Themen wie extreme Gewalt und Zwang gegen Jugendliche in Kinderheimen wurden aber erst nach 2010 politisch ernsthaft institutionell diskutiert und führten zu finanziellen Entschädigungen.

2018 wird zunehmend ausführlicher über das österreichische "Mailüfterl" 1968 berichtet. Eine jüngere Generation von JournalistInnen versucht hier, an westeuropäische Erinnerungsdebatten anzuschließen. Im Vergleich zu Deutschland spielt die 1968er Bewegung im öffentlichen Diskurs aber nach wie vor eher eine marginale und Elitenrolle.

Schluss

Wer glaubt, dass eine kritische Analyse der 8er Jahre nur ein irrelevantes Hobby von einigen HistorikerInnen sowie an historischen Jahrestagen interessierten Medien ist, irrt. Studien und Umfragen in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn im Jahre 2007 und Nachfolgestudien in Österreich 2017 belegen eindeutig, dass es eine Wechselwirkung zwischen kritischem Geschichtsbewusstsein und einem aktiven und positiven Demokratiebewusstsein gibt. Je selbstkritischer die Auseinandersetzungen sind, umso stärker ist auch das demokratische Bewusstsein und desto geringer zeigen sich autoritäre Einstellungsdispositionen. Es ist kein Zufall, dass umfassende Bildung sowohl das Demokratiebewusstsein fördert, als auch die grassierende Suche nach einem "starken Mann" oder einem "starken Führer", der ohne Parlament und Wahlen zu Rande kommt, zurückdrängt.

Wohin politisches Desinteresse beziehungsweise Politikverdrossenheit führen kann, haben die Wahlsiege Viktor Orbáns und seiner Partei Fidesz in Ungarn gezeigt. In den Umfragen von 2007 zeigte sich eine deutlich höhere apathische Grundstimmung in Ungarn im Vergleich zu Polen, der Tschechischen Republik und Österreich. Gerade diese apathischen WählerInnengruppen lassen sich mit autoritären und auch nationalistischen Botschaften mobilisieren. Inzwischen haben die Wahlergebnisse in Polen, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen in den USA, aber letztlich auch die Brexit-Entscheidung in Großbritannien dokumentiert, dass sich jene WählerInnenschichten, die sich sozial und auch gesellschaftlich deklassiert fühlen und meinen, politisch nichts mehr verändern zu können, durch entsprechend autoritär aufgeladene Botschaften und das Aufbauen von Feindbildern ansprechen lassen.

Die Erfahrung mit der Zwischenkriegszeit, aber auch die aktuellen Entwicklungen – heute auf deutlich höherem sozioökonomischen Niveau – unterstreichen die fragile Basis der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Wenn das demokratische System nicht für soziale Gerechtigkeit möglichst vieler Gruppen, Gerechtigkeit, Solidarität und demokratische Orientierung im Lebens- und Arbeitsalltag sorgen kann, steigt die Bereitschaft, einem "starken Führer" zu folgen, deutlich an.

Scheinbare Lösungen kündigen sich an mittels "Volksakklamation" durch Volksabstimmungen als einzige wirkliche Form der unmittelbaren und direkten Demokratie. Damit scheiterte schon der konservative Staatsrechtslehrer und NS-"Kronjurist" Carl Schmitt kläglich, heute ist er aber wieder nicht nur bei der rechtsextremen Identitären Bewegung hoch im Kurs. Die Mühsal parlamentarischer Aushandlungsprozesse und die dabei notwendige Berücksichtigung von Minderheitenpositionen sind auch in der Gegenwart nicht wirklich als wichtige Bestandteile der politischen Kultur akzeptiert. In einer komplexen und unübersichtlichen Zeit sind rasche und scheinbar einfache Entscheidungen gefragt.

Bemerkenswert dabei ist, dass zunehmend das Nichtwissen über vergangene Diktaturen aus der Zwischenkriegszeit ansteigt und die gespaltene Erinnerung beispielsweise über die Kanzler-Diktatur von Dollfuß in Österreich nicht aufgearbeitet und demokratiegeschichtlich neu eingeordnet wird. Zwar gibt es inzwischen Übereinstimmung über den Diktaturcharakter des Regimes 1933 bis 1938, umstritten bleiben aber seine Zielsetzungen bezüglich der Zerschlagung der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften als Voraussetzung für eine Politik zur Erhaltung den Unabhängigkeit als zweiter Deutscher Staat. Auch hier wird das Nichtwissen über die historischen Entwicklungen zunehmend ein veritables Problem der Geschichtspolitik und damit auch letztlich der Demokratiepolitik.

In Bezug auf die Zustimmung zur Demokratie als – trotz aller Probleme – beste Regierungsform ist ein Rückgang in den Umfragen 2007 und 2017 von 86 auf 78 Prozent der befragten ÖsterreicherInnen zu verzeichnen. Das Votum für autoritäre Regierungsformen stieg hingegen leicht an, und der (gewählte) "starke Mann" an der Spitze Österreichs ist für 43 Prozent der Befragten attraktiv. 23 Prozent stimmen darüber hinaus der Aussage zu, man "sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen kümmern muss". In diesem Sinne bleibt das Mantra nach mehr politischer Bildung ein wesentliches Ziel einer modernen und aufgeschlossenen demokratischen Gesellschaft.

Ich bin gespannt, ob es 2018 gelingt, doch noch den Samen für einen demokratischen Verfassungspatriotismus in Österreich zu pflanzen, der auch die europäische Entwicklung und ein globales Bewusstsein gleichermaßen mitträgt. Die Zeitgeschichtsforschung kann ihren Beitrag zu dieser Orientierung leisten.

ist Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. E-Mail Link: oliver.rathkolb@univie.ac.at