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Hans Kelsen und die österreichische Verfassung

Thomas Olechowski

/ 17 Minuten zu lesen

Der Jurist Hans Kelsen gilt als "Vater der Verfassung" Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere die Einrichtung des Verfassungsgerichtshofes geht auf ihn zurück. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwingt ihn schließlich ins Exil in die USA.

Hans Kelsen, um 1930 (© Anne Feder Lee)

Im Jahr 1971, als Hans Kelsen 90 Jahre alt wurde, nahm dies die österreichische Bundesregierung zum Anlass, eine Bundesstiftung mit dem Namen "Hans Kelsen-Institut" zu errichten, die das wissenschaftliche Werk des Jubilars fortführen und bewahren sollte; das Amt des Vorsitzenden dieser Stiftung sollte stets mit dem des Bundeskanzlers der Republik Österreich verbunden sein. Diese außergewöhnliche Ehrung, die noch nie zuvor einem noch lebenden Juristen zuteil geworden war, wurde im Stiftsbrief folgendermaßen begründet: "Die Republik verdankt Hans Kelsen ihre Verfassung; was immer am österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz über die Zeiten hinaus Bestand haben wird, ist mit seinem Namen verbunden." Wer war dieser Mann, von dem schon 1934 der damalige Dean der Harvard Law School, Roscoe Pound, erklärte, dass er "unquestionably the leading jurist of the time" sei, und der heute von vielen als "Jahrhundertjurist" bezeichnet wird?

Ein junger Jurist in den letzten Tagen der Habsburgermonarchie

Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag geboren; er starb am 19. April 1973 in Orinda in Kalifornien. Er teilt somit das Schicksal vieler berühmter Österreicherinnen und Österreicher, wie etwa Kaiserin "Sisi" oder Billy Wilder, auf dem Gebiet der heutigen Republik weder geboren noch gestorben zu sein. Doch verbrachte er mehr als die Hälfte seines Lebens in Wien, wohin seine jüdische Familie schon 1885 zog, und die damals fünftgrößte Stadt der Welt mit ihrem bunten Gemisch von Menschen aus allen Teilen des Vielvölkerstaates prägte auch ihn und seine Lehre, wie er stets einbekannte.

Der älteste Sohn eines Bronzelusterfabrikanten sollte nach dem Wunsch seines Vaters nicht dessen Geschäft übernehmen, sondern an der Universität studieren und möglichst als Arzt oder Anwalt den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie fortsetzen. Mehr aus Pflichtgefühl denn aus Neigung inskribierte er 1901 die Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien und war von den ersten Vorlesungen enttäuscht. Stärker als die Rechtswissenschaften interessierte ihn die Philosophie, und noch während des Studiums reifte bei ihm der Entschluss, sich mit einer rechtsphilosophischen beziehungsweise rechtstheoretischen Schrift an der Universität Wien zu habilitieren, das heißt die Lehrbefugnis als Privatdozent zu erhalten. Dem ehrgeizigen Ziel stand zunächst eine Reihe von Hindernissen, vor allem materieller Art, entgegen. 1905 ließ sich Kelsen taufen, da Angehörige der jüdischen Religion deutlich schlechtere Aussichten als Katholiken hatten, beim Staat, dem wichtigsten Arbeitgeber für Juristen, eine Anstellung zu finden.

Ab 1909 war Kelsen an der k.k. (kaiserlich-königlichen) Exportakademie (der Vorläuferin der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) tätig, was es ihm erlaubte, zügig an einer umfangreichen Monografie zu arbeiten. Diese erschien 1911 und hatte "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" zum Gegenstand. Kelsen bemühte sich in diesem Buch, wie er es später selbst ausdrückte, "eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln". Die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" sind somit die Geburtsstunde der "Reinen Rechtslehre", an der Kelsen sein Leben lang arbeitete. Zwei Prinzipien dieser Lehre prägten schon dieses Buch: die Trennung von "Sein" und "Sollen" als zwei grundverschiedene Formen menschlichen Denkens sowie die Überzeugung, dass oberste, allgemeingültige Werte, wie etwa Gerechtigkeit, mit rationalen Mitteln nicht erkannt werden können. Letzteres zeigte schon die Tatsache, dass noch nie in der Menschheitsgeschichte Einigkeit darüber bestand, was "gerecht" sei.

Trotz der – aus heutiger Sicht – bahnbrechenden Bedeutung des Buches war das Echo auf Kelsens "Hauptprobleme" anfangs mäßig; Kelsen erhielt am 10. Juli 1911 die Lehrbefugnis als Privatdozent an der Universität Wien, aber vorerst keine Anstellung, sondern blieb weiter beruflich an der Exportakademie tätig. Die entscheidende Wende in Kelsens Leben war der Erste Weltkrieg, als er, nach verschiedenen Tätigkeiten in Militärjustiz und -verwaltung, im Oktober 1917 zum persönlichen Berater des k.u.k. Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner zu Steinstätten aufstieg und auf diese Weise in Kontakt zu allen politischen Größen seiner Zeit kam. Mithilfe dieser Kontakte gelang es Kelsen auch, gegen alle antisemitischen Widerstände von Seiten der Fakultät, im Juli 1918 eine Professur für Staatsrecht an der Universität Wien zu erhalten.

Politisch stand Kelsen wohl schon seit seiner Studienzeit den Sozialdemokraten nahe und war auch persönlich mit den drei Vordenkern des "Austromarxismus", Max Adler (1873–1937), Otto Bauer (1881–1938) und Karl Renner (1870–1950), befreundet. Er trat allerdings niemals der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei, und auch dem Marxismus selbst stand Kelsen durchaus kritisch gegenüber, was sich später in einer Vielzahl von Schriften niederschlug. Vor dem Krieg, zur Zeit der Monarchie, äußerten sich Kelsens politische Positionen lediglich in seinem Interesse am Wahlrecht und in seinem Engagement für die Volksbildung. Denn politische Bildung, wie er sie selbst in einer Reihe von Abendveranstaltungen in Volksbildungshäusern betrieb, war seines Erachtens für eine funktionierende Demokratie unerlässlich.

Gründung der Republik

Den Zusammenbruch der Monarchie erlebte Kelsen aus nächster Nähe mit, und in seiner Autobiografie beschreibt er ausführlich, wie er als Vertrauensmann des Kriegsministers den letzten k.k. Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch bei dessen Versuchen, den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten, unterstützte. Am 16. Oktober 1918 unterzeichnete Kaiser Karl ein Manifest, in dem er verkündete, Österreich (nicht aber Ungarn) nach Nationalitäten neu gliedern zu wollen und die Abgeordneten des österreichischen Reichsrates dazu aufrief, "Nationalräte" zu bilden. Der Vorstoß war, zumal er die Integrität des multiethnisch zusammengesetzten ungarischen Königreiches nicht antasten wollte, ungenügend und kam ohnedies viel zu spät, weil die meisten Völker zu diesem Zeitpunkt schon ihre eigenen Staaten gebildet hatten. Nur die deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates schienen dem Aufruf des Kaisers zu folgen, indem sie sich wenige Tage später zu einer "Vollversammlung" trafen, doch auch ihnen ging es nicht (mehr) um eine Umgestaltung der Habsburgermonarchie, sondern um die Bildung eines eigenen Staatswesens. Als am 28. Oktober der "Tschechoslowakische Staat" und am 29. Oktober der "Staat der Slowenen, Kroaten und Serben" ausgerufen wurde, folgte die "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" am 30. Oktober mit der Gründung des "Staates Deutschösterreich".

Hans Kelsen war ab Anfang November für die neue deutschösterreichische Staatsführung, insbesondere für Staatskanzler Karl Renner, beratend tätig und erstellte zunächst ein Gutachten, in dem er erklärte, dass Deutschösterreich ebenso "revolutionär" wie der tschechoslowakische und der jugoslawische Staat entstanden sei und ebenso wenig wie diese beiden als Rechtsnachfolger nach der Monarchie angesehen werden könne. Diese bis heute offizielle Staatsdoktrin konnte sich bei den Siegermächten allerdings nicht durchsetzen. Sie sahen "Deutschösterreich" als einen der beiden Rechtsnachfolger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und daher, neben Deutschland und Ungarn, als mitschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Deutschösterreich, das unmittelbar nach dem Regierungsverzicht Kaiser Karls, am 12. November 1918, sich nicht nur zu einer "Republik", sondern auch zu einem "Bestandteil der Deutschen Republik" erklärt hatte, wurde mit dem Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 gezwungen, sich in "Österreich" umzubenennen und auf einen Zusammenschluss mit Deutschland zu verzichten. So sehr dies von weiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung, darunter auch Karl Renner und Hans Kelsen, bedauert wurde, so fiel damit doch das Haupthindernis für die Umgestaltung Österreichs in einen Bundesstaat weg. Denn Anfang 1919 hatte Kelsen erklärt, dass es praktisch unmöglich sei, dass Österreich ein Bundesstaat sein und selbst einem Bundesstaat – dem Deutschen Reich – betreten könne. Würde Österreich hingegen souverän bleiben, "dann wäre zweifellos die bundesstaatliche Verfassung nach dem Muster der Schweiz der beste Ausdruck der gegebenen politischen Konstellation", so Kelsen.

"Architekt" der Bundesverfassung

Kurz bevor Staatskanzler Karl Renner zu den Friedensverhandlungen nach St. Germain fuhr, erteilte er Hans Kelsen den Auftrag, den Entwurf zu einer Bundesstaatsverfassung auszuarbeiten. Die Länder, die bis 1918 nur eine geringe politische Rolle gespielt hatten, hatten in den Monaten des Umbruchs erheblich an Macht gewonnen. Die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat war nur die Konsequenz dieser Entwicklung, ja Kelsen war bestrebt, diese Macht durchaus wieder zugunsten der Zentralgewalt zu beschränken. Bund und Länder sollten dem Prinzip der parlamentarischen Demokratie folgen; im Übrigen sollte alles aus der Verfassung der Monarchie, was sich bewährt hatte und unter den geänderten politischen Bedingungen unverändert bleiben konnte, auch tatsächlich unverändert bleiben (so etwa die Justiz). Kelsen fertigte bis Anfang Juli einen ersten Verfassungsentwurf an und schickte ihn nach St. Germain zu Renner. Noch während dessen Abwesenheit von Österreich aber entwarf Kelsen auch mehrere Varianten seines Grundentwurfes. Diese Varianten betrafen insbesondere drei Bereiche: Manche Entwürfe sahen einen Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt vor, andere dagegen verbanden diese Funktion mit der des Parlamentspräsidenten. Verschiedene Varianten legte Kelsen auch zum Bundesrat, der Länderkammer des österreichischen Parlaments, vor. Der dritte und schwierigste Bereich betraf die Grund- und Menschenrechte. Hier trafen die ideologischen Fronten von Sozialdemokraten und Christlichsozialen mit voller Wucht aufeinander; einige von Kelsens Entwürfen folgten dem (eher konservativen) Vorbild der österreichischen Verfassung 1867, anderen dem (eher progressiven) Vorbild der Weimarer Reichsverfassung 1919.

Nach seiner Rückkehr aus St. Germain im Herbst 1919 wählte Renner einen dieser Kelsenschen Verfassungsentwürfe aus und machte ihn zur Grundlage der politischen Verhandlungen. Diese wurden sowohl zwischen den Parteien als auch zwischen der Staatsregierung und den Landesregierungen geführt. Eine Reihe weiterer Entwürfe wurde vorgelegt; die meisten von ihnen waren aber nur Varianten der Kelsen-Entwürfe, sodass rasch deutlich wurde, wo Konsens erzielt werden konnte und wo nicht. Kompromisslösungen wurden etwa in der Frage des Staatsoberhauptes sowie der Länderkammer erzielt: Zwar wurde ein eigenes Amt des Bundespräsidenten geschaffen, dieser aber fast nur mit repräsentativen Aufgaben betraut, sodass er kein Gegengewicht zum Parlament bilden konnte. Ähnlich auch die Lösung beim Bundesrat, dem kaum politisches Gewicht neben dem – vom Volk direkt gewählten – Nationalrat zukam.

Keine Lösung dagegen war bei der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern in Sicht, da es hier um die Verteilung der Macht schlechthin ging, und unüberbrückbar schienen auch die ideologischen Gegensätze bei den Grundrechten. Im Sommer 1920 zerbrach die Große Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen, Renner trat als Staatskanzler zurück, die Fertigstellung der Verfassung schien in weiter Ferne. Noch einmal rafften sich die beiden Parteien auf und bildeten – trotz Regierungskrise – einen parlamentarischen Ausschuss, dem auch Kelsen als parteiunabhängiger Verfassungsexperte angehörte, und der bis zum Herbst die Verfassung fertigstellen sollte. Aber auch er wäre gescheitert, hätten nicht die beiden Parteien am 18. September 1920 vereinbart, all jene Materien, über die bislang keine Übereinkunft erzielt hatte werden können, einfach auszuklammern und hier – provisorisch – den Rechtszustand der Monarchie unverändert beizubehalten. So konnte am 1. Oktober 1920 das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) formell beschlossen werden, doch war es eine unvollständige Verfassung, ein Verfassungstorso. So enthielt es – und enthält bis heute – (fast) keine Grundrechte; diesbezüglich ist bis heute "provisorisch" das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 in Geltung.

Vom Wesen und Wert der Demokratie

Kelsens Rolle bei der Verfassungsgesetzgebung darf also nicht überschätzt werden. Er war an ihr nicht als Politiker, sondern als Jurist beteiligt, und seine Aufgabe war es nicht, eigene politische Überzeugungen kundzutun, sondern den von den beiden großen Parteien mühsam errungenen Kompromiss in einen technisch perfekten Verfassungstext umzugießen. Diese Aufgabe sollte allerdings nicht gering geschätzt werden; gerade bei den "technischen Lesungen", die Ende September 1920 im Parlament geführt wurden, um der Verfassung den "Feinschliff" zu geben, gelang es Kelsen, noch eine Reihe bedeutsamer Punkte in die Verfassung zu bringen. Dies betraf insbesondere den Verfassungsgerichtshof, der (als einziger österreichischer Gerichtshof) das Recht bekam, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Diese Art der Verfassungskontrolle war neuartig, wurde weltweit bestaunt und vielfach zum Vorbild genommen, so insbesondere von der Bundesrepublik Deutschland bei der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts 1951.

Auch ist zu konstatieren, dass das Demokratiekonzept des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz 1920 weitgehend mit den Demokratievorstellungen Hans Kelsens übereinstimmte. Kelsen publizierte im Jahr 1920 gleich drei Bücher: "Das Problem der Souveränität", "Sozialismus und Staat" sowie "Vom Wesen und Wert der Demokratie". Wir dürfen annehmen, dass er mit diesen Schriften noch mehr als mit seiner parlamentarischen Beratertätigkeit von Einfluss auf das verfassungsrechtliche und politische Denken seiner Zeitgenossen war.

Kelsens Demokratiekonzept kann gewissermaßen als das Pendant seiner Rechtstheorie bezeichnet werden. Beide gingen davon aus, dass oberste Werte nicht rational erkennbar seien, dass Wertvorstellungen immer nur subjektiver Natur seien. Dazu gesellte sich ein Menschenbild, das Kelsen mit dem aus der indischen Philosophie stammenden "Tat Tvam Asi" ("das bist du") beschrieb: dem Erlebnis, in dem Anderen sich selbst zu erkennen. Der Mensch, der die Demokratie wolle, sei jener, der die Gleichartigkeit, die Gleichwertigkeit des Anderen mit sich selbst erkenne, der die Freiheit nicht nur für sich selbst, sondern für alle wolle. Realisierbar sei dies freilich nur mit Einschränkungen: Denn wenn die Mehrheit ein Gesetz beschließe, so seien nur jene frei, die diesen Inhalt auch selbst gewollt haben, die anderen müssen sich diesem Willen beugen. So erklärte Kelsen die Freiheit zum "Ideal" der Demokratie, doch mache diese auf dem Weg zur Demokratie eine bedeutsame Metamorphose durch, indem an die Stelle der Freiheit des Einzelnen die Freiheit eines ganzen Volkes trete. Dazu trete in der Praxis eine zweite Metamorphose: durch die Wandlung von der direkten zur indirekten (repräsentativen) Demokratie.

Kelsen war ein vehementer Verfechter des – gerade in der Zwischenkriegszeit so umstrittenen – Parlamentarismus. Er hielt ihn schlicht für "die einzig mögliche reale Form (…), in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann". Dabei stand er direktdemokratischen Elementen, wie etwa Volksabstimmungen, nicht ablehnend gegenüber; aber er erkannte auch deren Grenzen. Das Parlament sollte nicht nur Abstimmungsmaschine sein, sondern in erster Linie der gemeinsamen Diskussion, der Suche nach einem Kompromiss, der alle Seiten befriedige, dienen.

Dazu schien es nötig, dass das Parlament möglichst alle Strömungen in der Gesellschaft entsprechend ihrem tatsächlichen Kräfteverhältnis widerspiegle. Kelsen befürwortete daher ein Verhältniswahlrecht, das den Willen des Volkes möglichst unverfälscht wiedergebe, und lehnte aus demselben Grund beispielsweise Wahlkreise, die nur die großen Parteien begünstigen, ab.

Skeptisch stand Kelsen dem Gedanken gegenüber, dass eine Einzelperson – etwa ein Staatspräsident – ein Volk repräsentieren könne. Schon bei Parlamentsabgeordneten hielt er den Repräsentationsgedanken für eine "Fiktion"; der Parlamentarismus war für ihn lediglich "ein Kompromiß zwischen der demokratischen Forderung der Freiheit und dem allen sozialtechnischen Fortschritt bedingenden Grundsatz diferenzierender Arbeitsteilung". Aber immerhin könne – bei entsprechender Ausgestaltung des Wahlrechtes – jeder Wahlberechtigte sagen, dass er einen Abgeordneten gewählt habe, der auch wirklich im Parlament sitze. Auch wenn in manchen Verfassungen (wie etwa in Deutschland in Artikel 41 der Weimarer Reichsverfassung) stehe, dass der Präsident "vom ganzen Volk" gewählt werde, so werde er in Wirklichkeit doch nur von einer Mehrheit gewählt, und höchstens diese könne er daher repräsentieren. Er stellte sich damit in direkten Widerspruch zu zahlreichen deutschen Staatsrechtlern, wie etwa Carl Schmitt, der den deutschen Reichspräsidenten als Garanten für die Einheit des Volkes und als "Hüter der Verfassung" bezeichnete. Während Schmitt das Volk als ein einheitliches Ganzes ansah, das einen Kollektivwillen entwickeln könne, vertrat Kelsen die Idee eines pluralistischen Volksbegriffes und sah im angeblichen "Volkswillen" nur die Resultante der verschiedenen Einzelinteressen.

Aus diesem Grund konnte ein gewählter Präsident für Kelsen auch kein "Hüter der Verfassung" sein, wie dies Schmitt behauptete. Eine solche Aufgabe müsse einem Gericht zukommen, das lediglich darüber zu wachen habe, dass alles staatliche Handeln in jenem Rahmen verbleibe, den die Verfassung vorgebe. Wie dieser Rahmen ausgefüllt werde – das sei Sache der Politik und daher vom Gericht nicht überprüfbar. Nur dort, wo der Rahmen überschritten werde, könne ein Verfassungsgericht eingreifen und verfassungswidrige Normen aufheben. Somit kam auch der Verfassungsgerichtsbarkeit eine wesentliche Rolle in Kelsens Demokratietheorie hinzu.

International gefeiert – zu Hause unter Druck

Als "Vater der Verfassung" genoss Kelsen hohes Ansehen – sowohl in seiner Heimat Österreich als auch international. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er damit begonnen, einen Kreis von Schülern zu bilden, mit denen er sich zu "Privatseminaren" traf und von denen er nach 1920 immerhin sieben zur Habilitation führte; viele von ihnen erhielten später selbst Lehrstühle an verschiedenen Universitäten. Aus Deutschland, Frankreich und aus den Niederlanden, aus Japan, Guatemala und vielen anderen Staaten kamen Rechtswissenschaftler nach Wien, um hier den österreichischen Verfassungsgerichtshof kennenzulernen und mit Hans Kelsen über seine "Reine Rechtslehre" zu diskutieren.

Kelsen war aber nicht nur als Universitätsprofessor, sondern auch als Richter am österreichischen Verfassungsgerichtshof, an dessen Errichtung er selbst entscheidenden Anteil gehabt hatte, tätig. Als solcher prägte er die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes entscheidend.

Wie in vielen europäischen Ländern, so geriet auch in Österreich die parlamentarische Demokratie schon nach wenigen Jahren in eine tiefe Krise. Vor allem die austrofaschistischen Heimwehren drängten auf eine umfassende Verfassungsreform, die das parlamentarisch-demokratische System zugunsten eines "starken Mannes" beseitigen sollte. Um der drohenden Gefahr eines Putsches zuvorzukommen, einigten sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten 1929 auf eine größere Verfassungsreform, die das politische Gewicht des Bundespräsidenten im Verhältnis zum Nationalrat deutlich aufwertete, aber doch das demokratische Element dieser Verfassung nicht infrage stellte.

Kelsen hatte an diesen Verfassungsarbeiten keinen Anteil mehr, sondern konnte nur von außen Kritik an demokratiefeindlichen Bestrebungen üben. Er war allerdings auch persönlich von dieser Reform betroffen, da mit ihr sämtliche Richter des Verfassungsgerichtshofes abgesetzt wurden und der Verfassungsgerichtshof nach einem völlig neuen Bestellmodus zusammengesetzt wurde. Diese Neuerung war vor allem deshalb zustande gekommen, weil die Christlichsozialen Kritik an einigen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes geübt und ihm zu große Nähe zu den Sozialdemokraten vorgeworfen hatten. Tatsächlich "verfügten" die Sozialdemokraten – nach einer informellen Absprache mit den anderen Parteien – fortan nur mehr über zwei Richterstellen, während die Nominierung der übrigen zwölf Stellen in der Hand der bürgerlichen Parteien war. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Karl Seitz, bot denn auch Kelsen an, auf einem "roten Ticket" erneut in den Verfassungsgerichtshof einzuziehen. Kelsen aber lehnte ab: Er war seinerzeit von allen Parteien einvernehmlich nominiert worden; Kelsen, der, wie bereits betont, niemals einer politischen Partei angehört hatte, wollte nun nicht aufgrund des Votums einer einzigen Partei in diesen Gerichtshof geschickt werden.

Auch an der Universität Wien waren die Zustände für Kelsen zunehmend unerfreulich: Der Antisemitismus unter Professoren und Studierenden wurde immer stärker; eine "Gelbe Liste" warnte vor dem Besuch von Vorlesungen jüdischer Professoren, darunter auch des "Marxisten" Kelsen. Mehrere Professoren seiner Fakultät verfassten umfangreiche Streitschriften gegen Kelsen, die scheinbar sachlich gehalten waren, in Wahrheit aber doch auch die antisemitische Karte recht deutlich ausspielten. All dies veranlasste Kelsen, 1930 Wien zu verlassen und einen Ruf der Universität Köln anzunehmen, wofür sich der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer persönlich eingesetzt hatte.

Zehn Jahre Odyssee

In Wien hatte Kelsen vor allem Vorlesungen über österreichisches Staatsrecht gehalten; an diesem Fach bestand im preußischen Köln kein Bedarf. Der mittlerweile 49-jährige Kelsen wechselte nunmehr ins Völkerrecht, in das er sich in den folgenden Jahren fast ebenso gut einarbeitete wie seinerzeit in das Verfassungsrecht. Und natürlich waren seine rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Arbeiten von übernationaler Bedeutung. Insgesamt behielt Kelsen die drei Jahre, die er in Köln verbrachte, "in sehr angenehmer Erinnerung".

Fast unmittelbar nach Hitlers "Machtergreifung", am 13. April 1933, wurde Kelsen als Professor "beurlaubt" und einige Monate später in den Ruhestand versetzt. Nur mit viel Glück konnte Kelsen mit seiner Frau und seinen beiden fast erwachsenen Töchtern nach Österreich fliehen; den größten Teil seiner Ersparnisse musste er zurücklassen, und der Staat Preußen weigerte sich auch, ihm eine Pension auszubezahlen (seine Ansprüche gegen die Republik Österreich waren seinerzeit an Preußen abgetreten worden), sodass sich Kelsen auch materiell in einer äußerst schwierigen Position befand. Weder eine österreichische noch eine deutschschweizerische Universität bot ihm eine Professur an. Lediglich an der Deutschen Universität Prag bemühten sich seine Freunde um eine Berufung, zumal dort der Lehrstuhl für Völkerrecht schon seit einiger Zeit unbesetzt war. Sie stießen dort aber auf hinhaltenden Widerstand der mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Professoren.

So nahm Kelsen einstweilen eine Lehrtätigkeit beim Genfer Institut universitaire de hautes études internationales an. Er fand hier eine sehr angenehme, internationale Atmosphäre vor und konnte forschen, unter anderem erschien in jener Zeit sein wohl berühmtestes Buch, die "Reine Rechtslehre", in dem er seine gleichnamige Theorie zusammenfasste. Doch war die Lehrtätigkeit nur befristet und mit keinen Pensionsansprüchen verbunden. Als daher die Deutsche Universität zu Prag doch noch Kelsen berief, nahm dieser den Ruf an und reiste im Herbst 1936 in die Hauptstadt der Tschechoslowakei.

Dort begegnete ihm ein feindseliges, gewaltbereites Klima. Nationalsozialistische Studierende störten seine Vorlesung, und es kam zu Krawallen, sodass die Fakultät für mehrere Monate geschlossen werden musste. In einem anonymen Brief wurde seine Ermordung angedroht, und Kelsen erhielt Polizeischutz. Das Münchener Abkommen 1938 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 beendeten Kelsens kurzes "Prager Gastspiel", wie er es selbst genannt hatte, und er kehrte nach Genf zurück. Überflüssig zu betonen, dass die neuen, nationalsozialistischen Machthaber in Prag Kelsen auch nun wieder Gehalts- oder Pensionszahlungen verweigerten. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Kelsens Entschluss gefasst, Europa zu verlassen, und im Mai 1940 verließ er mit seiner Frau Genf und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Die jüngere Tochter war schon zuvor in die USA gegangen, die ältere nach Palästina ausgewandert.

In Amerika

Kelsen war zum Zeitpunkt seiner Emigration in die Vereinigten Staaten schon fast 60 Jahre alt und sprach kaum Englisch. Nur mit großer Mühe konnte er sich in der neuen Umgebung zurechtfinden; er erlernte zwar die neue Sprache, beherrschte sie aber stets nur unvollkommen, was mit ein Grund für den mangelnden Erfolg seiner "Reinen Rechtslehre" in den USA gewesen sein dürfte. 1936 hatte ihm die Harvard University ein Ehrendoktorat verliehen, doch nach seiner Emigration gelang es ihm dort nur, zwei Jahre lang zu unterrichten, nicht jedoch eine dauernde Anstellung zu erhalten, weshalb er 1942 als Gastprofessor an die University of California ging.

Wie schon im Ersten Weltkrieg, so war es auch nun wieder das Militär, das die Leistungen Kelsens als erstes würdigte und so auch seiner akademischen Laufbahn neuen Antrieb gab. In den Jahren 1944 und 1945 reiste er mehrfach zu Beratertätigkeiten nach Washington. Dort war er unter anderem mit der Neugestaltung Österreichs nach dem Krieg sowie auch mit der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse befasst. Kelsens Beratertätigkeit für die Army und das State Department wurde auch in Berkeley positiv registriert, und im Juni 1945 wurde Hans Kelsen full professor der University of California, wo er bis 1952 lehrte. Der wissenschaftliche Durchbruch in den USA blieb ihm zwar versagt, doch konnte er auf zahlreichen Vortragsreisen nach Lateinamerika und Europa große Erfolge feiern. Im Zuge dieser Reisen kam er auch mehrmals nach Deutschland und Österreich; eine echte Rückkehr jedoch erfolgte nicht. Seine einstige Heimat war ihm fremd geworden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Stiftsbrief ist abgedruckt in: Hans Kelsen-Institut (Hrsg.), Hans zum Gedenken, Wien 1974, S. 77–85. Zur Tätigkeit des Hans Kelsen-Instituts siehe Externer Link: http://www.kelseninstitut.at.

  2. Vgl. Rudolf A. Métall, Hans Kelsen, Wien 1969.

  3. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig–Wien 1934, S. III.

  4. Vgl. Tamara Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat, Wien 2007.

  5. Hans Kelsen, Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht 1/1919, S. 115–146.

  6. Vgl. Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Robert Walter/Werner Ogris/ders. (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 211–230.

  7. Vgl. Ewald Wiederin, Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter als eigenständiges Verfassungsgericht, in: Thomas Simon/Johannes Kalwoda (Hrsg.), Schutz der Verfassung, Berlin 2014, S. 283–306.

  8. Vgl. Clemens Jabloner, Menschenbild und Friedenssicherung, in: Robert Walter/Clemens Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, Wien 1997, S. 57–73.

  9. Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien 1925, S. 5.

  10. Ebd., S. 7.

  11. Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6/1931, 576–628, hier: S. 615. Diese Problematik ist nicht zu verwechseln mit der Frage, ob der Präsident sich in seinem Amt um parteipolitische Neutralität bemühen soll.

  12. Vgl. Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hrsg.), Der Kreis um Hans Kelsen, Wien 2018.

  13. Vgl. Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter, in: Stanley L. Paulson/Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen, Tübingen 2005, S. 353–384.

  14. Vgl. Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938, Wien 2014.

  15. Hans Kelsen, Autobiographie, in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen Werke 1, Tübingen 2007, S. 29–91, hier S. 77.

  16. Vgl. Jürgen Busch/Nicoletta Bersier Ladavac, Zwischen zwei Welten. Hans Kelsens Genfer Jahre, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5/2015, 7–31.

  17. Vgl. Thomas Olechowski, Hans Kelsen, The Second World War and the U.S. Government, in: D.A. Jeremy Telman (Hrsg.), Hans Kelsen in America, Cham 2016, S. 101–112.

  18. Vgl. Miriam Gassner, Der Kreis um Hans Kelsen in Lateinamerika, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 4/2014, S. 64–83.

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ist Außerordentlicher Universitätsprofessor, Leiter der Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, Obmann der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie Geschäftsführer der Bundesstiftung "Hans Kelsen-Institut". E-Mail Link: thomas.olechowski@univie.ac.at