Im Jahr 1971, als Hans Kelsen 90 Jahre alt wurde, nahm dies die österreichische Bundesregierung zum Anlass, eine Bundesstiftung mit dem Namen "Hans Kelsen-Institut" zu errichten, die das wissenschaftliche Werk des Jubilars fortführen und bewahren sollte; das Amt des Vorsitzenden dieser Stiftung sollte stets mit dem des Bundeskanzlers der Republik Österreich verbunden sein. Diese außergewöhnliche Ehrung, die noch nie zuvor einem noch lebenden Juristen zuteil geworden war, wurde im Stiftsbrief folgendermaßen begründet: "Die Republik verdankt Hans Kelsen ihre Verfassung; was immer am österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz über die Zeiten hinaus Bestand haben wird, ist mit seinem Namen verbunden."
Ein junger Jurist in den letzten Tagen der Habsburgermonarchie
Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag geboren; er starb am 19. April 1973 in Orinda in Kalifornien.
Der älteste Sohn eines Bronzelusterfabrikanten sollte nach dem Wunsch seines Vaters nicht dessen Geschäft übernehmen, sondern an der Universität studieren und möglichst als Arzt oder Anwalt den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie fortsetzen. Mehr aus Pflichtgefühl denn aus Neigung inskribierte er 1901 die Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien und war von den ersten Vorlesungen enttäuscht. Stärker als die Rechtswissenschaften interessierte ihn die Philosophie, und noch während des Studiums reifte bei ihm der Entschluss, sich mit einer rechtsphilosophischen beziehungsweise rechtstheoretischen Schrift an der Universität Wien zu habilitieren, das heißt die Lehrbefugnis als Privatdozent zu erhalten. Dem ehrgeizigen Ziel stand zunächst eine Reihe von Hindernissen, vor allem materieller Art, entgegen. 1905 ließ sich Kelsen taufen, da Angehörige der jüdischen Religion deutlich schlechtere Aussichten als Katholiken hatten, beim Staat, dem wichtigsten Arbeitgeber für Juristen, eine Anstellung zu finden.
Ab 1909 war Kelsen an der k.k. (kaiserlich-königlichen) Exportakademie (der Vorläuferin der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) tätig, was es ihm erlaubte, zügig an einer umfangreichen Monografie zu arbeiten. Diese erschien 1911 und hatte "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" zum Gegenstand. Kelsen bemühte sich in diesem Buch, wie er es später selbst ausdrückte, "eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln".
Trotz der – aus heutiger Sicht – bahnbrechenden Bedeutung des Buches war das Echo auf Kelsens "Hauptprobleme" anfangs mäßig; Kelsen erhielt am 10. Juli 1911 die Lehrbefugnis als Privatdozent an der Universität Wien, aber vorerst keine Anstellung, sondern blieb weiter beruflich an der Exportakademie tätig. Die entscheidende Wende in Kelsens Leben war der Erste Weltkrieg, als er, nach verschiedenen Tätigkeiten in Militärjustiz und -verwaltung, im Oktober 1917 zum persönlichen Berater des k.u.k. Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner zu Steinstätten aufstieg und auf diese Weise in Kontakt zu allen politischen Größen seiner Zeit kam. Mithilfe dieser Kontakte gelang es Kelsen auch, gegen alle antisemitischen Widerstände von Seiten der Fakultät, im Juli 1918 eine Professur für Staatsrecht an der Universität Wien zu erhalten.
Politisch stand Kelsen wohl schon seit seiner Studienzeit den Sozialdemokraten nahe und war auch persönlich mit den drei Vordenkern des "Austromarxismus", Max Adler (1873–1937), Otto Bauer (1881–1938) und Karl Renner (1870–1950), befreundet. Er trat allerdings niemals der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei, und auch dem Marxismus selbst stand Kelsen durchaus kritisch gegenüber, was sich später in einer Vielzahl von Schriften niederschlug. Vor dem Krieg, zur Zeit der Monarchie, äußerten sich Kelsens politische Positionen lediglich in seinem Interesse am Wahlrecht und in seinem Engagement für die Volksbildung. Denn politische Bildung, wie er sie selbst in einer Reihe von Abendveranstaltungen in Volksbildungshäusern betrieb, war seines Erachtens für eine funktionierende Demokratie unerlässlich.
Gründung der Republik
Den Zusammenbruch der Monarchie erlebte Kelsen aus nächster Nähe mit, und in seiner Autobiografie beschreibt er ausführlich, wie er als Vertrauensmann des Kriegsministers den letzten k.k. Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch bei dessen Versuchen, den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten, unterstützte. Am 16. Oktober 1918 unterzeichnete Kaiser Karl ein Manifest, in dem er verkündete, Österreich (nicht aber Ungarn) nach Nationalitäten neu gliedern zu wollen und die Abgeordneten des österreichischen Reichsrates dazu aufrief, "Nationalräte" zu bilden. Der Vorstoß war, zumal er die Integrität des multiethnisch zusammengesetzten ungarischen Königreiches nicht antasten wollte, ungenügend und kam ohnedies viel zu spät, weil die meisten Völker zu diesem Zeitpunkt schon ihre eigenen Staaten gebildet hatten. Nur die deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates schienen dem Aufruf des Kaisers zu folgen, indem sie sich wenige Tage später zu einer "Vollversammlung" trafen, doch auch ihnen ging es nicht (mehr) um eine Umgestaltung der Habsburgermonarchie, sondern um die Bildung eines eigenen Staatswesens. Als am 28. Oktober der "Tschechoslowakische Staat" und am 29. Oktober der "Staat der Slowenen, Kroaten und Serben" ausgerufen wurde, folgte die "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" am 30. Oktober mit der Gründung des "Staates Deutschösterreich".
Hans Kelsen war ab Anfang November für die neue deutschösterreichische Staatsführung, insbesondere für Staatskanzler Karl Renner, beratend tätig und erstellte zunächst ein Gutachten, in dem er erklärte, dass Deutschösterreich ebenso "revolutionär" wie der tschechoslowakische und der jugoslawische Staat entstanden sei und ebenso wenig wie diese beiden als Rechtsnachfolger nach der Monarchie angesehen werden könne. Diese bis heute offizielle Staatsdoktrin konnte sich bei den Siegermächten allerdings nicht durchsetzen. Sie sahen "Deutschösterreich" als einen der beiden Rechtsnachfolger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und daher, neben Deutschland und Ungarn, als mitschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Deutschösterreich, das unmittelbar nach dem Regierungsverzicht Kaiser Karls, am 12. November 1918, sich nicht nur zu einer "Republik", sondern auch zu einem "Bestandteil der Deutschen Republik" erklärt hatte, wurde mit dem Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 gezwungen, sich in "Österreich" umzubenennen und auf einen Zusammenschluss mit Deutschland zu verzichten. So sehr dies von weiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung, darunter auch Karl Renner und Hans Kelsen, bedauert wurde, so fiel damit doch das Haupthindernis für die Umgestaltung Österreichs in einen Bundesstaat weg. Denn Anfang 1919 hatte Kelsen erklärt, dass es praktisch unmöglich sei, dass Österreich ein Bundesstaat sein und selbst einem Bundesstaat – dem Deutschen Reich – betreten könne. Würde Österreich hingegen souverän bleiben, "dann wäre zweifellos die bundesstaatliche Verfassung nach dem Muster der Schweiz der beste Ausdruck der gegebenen politischen Konstellation", so Kelsen.
"Architekt" der Bundesverfassung
Kurz bevor Staatskanzler Karl Renner zu den Friedensverhandlungen nach St. Germain fuhr, erteilte er Hans Kelsen den Auftrag, den Entwurf zu einer Bundesstaatsverfassung auszuarbeiten.
Nach seiner Rückkehr aus St. Germain im Herbst 1919 wählte Renner einen dieser Kelsenschen Verfassungsentwürfe aus und machte ihn zur Grundlage der politischen Verhandlungen. Diese wurden sowohl zwischen den Parteien als auch zwischen der Staatsregierung und den Landesregierungen geführt. Eine Reihe weiterer Entwürfe wurde vorgelegt; die meisten von ihnen waren aber nur Varianten der Kelsen-Entwürfe, sodass rasch deutlich wurde, wo Konsens erzielt werden konnte und wo nicht. Kompromisslösungen wurden etwa in der Frage des Staatsoberhauptes sowie der Länderkammer erzielt: Zwar wurde ein eigenes Amt des Bundespräsidenten geschaffen, dieser aber fast nur mit repräsentativen Aufgaben betraut, sodass er kein Gegengewicht zum Parlament bilden konnte. Ähnlich auch die Lösung beim Bundesrat, dem kaum politisches Gewicht neben dem – vom Volk direkt gewählten – Nationalrat zukam.
Keine Lösung dagegen war bei der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern in Sicht, da es hier um die Verteilung der Macht schlechthin ging, und unüberbrückbar schienen auch die ideologischen Gegensätze bei den Grundrechten. Im Sommer 1920 zerbrach die Große Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen, Renner trat als Staatskanzler zurück, die Fertigstellung der Verfassung schien in weiter Ferne. Noch einmal rafften sich die beiden Parteien auf und bildeten – trotz Regierungskrise – einen parlamentarischen Ausschuss, dem auch Kelsen als parteiunabhängiger Verfassungsexperte angehörte, und der bis zum Herbst die Verfassung fertigstellen sollte. Aber auch er wäre gescheitert, hätten nicht die beiden Parteien am 18. September 1920 vereinbart, all jene Materien, über die bislang keine Übereinkunft erzielt hatte werden können, einfach auszuklammern und hier – provisorisch – den Rechtszustand der Monarchie unverändert beizubehalten. So konnte am 1. Oktober 1920 das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) formell beschlossen werden, doch war es eine unvollständige Verfassung, ein Verfassungstorso. So enthielt es – und enthält bis heute – (fast) keine Grundrechte; diesbezüglich ist bis heute "provisorisch" das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 in Geltung.
Vom Wesen und Wert der Demokratie
Kelsens Rolle bei der Verfassungsgesetzgebung darf also nicht überschätzt werden. Er war an ihr nicht als Politiker, sondern als Jurist beteiligt, und seine Aufgabe war es nicht, eigene politische Überzeugungen kundzutun, sondern den von den beiden großen Parteien mühsam errungenen Kompromiss in einen technisch perfekten Verfassungstext umzugießen. Diese Aufgabe sollte allerdings nicht gering geschätzt werden; gerade bei den "technischen Lesungen", die Ende September 1920 im Parlament geführt wurden, um der Verfassung den "Feinschliff" zu geben, gelang es Kelsen, noch eine Reihe bedeutsamer Punkte in die Verfassung zu bringen. Dies betraf insbesondere den Verfassungsgerichtshof, der (als einziger österreichischer Gerichtshof) das Recht bekam, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben.
Auch ist zu konstatieren, dass das Demokratiekonzept des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz 1920 weitgehend mit den Demokratievorstellungen Hans Kelsens übereinstimmte. Kelsen publizierte im Jahr 1920 gleich drei Bücher: "Das Problem der Souveränität", "Sozialismus und Staat" sowie "Vom Wesen und Wert der Demokratie". Wir dürfen annehmen, dass er mit diesen Schriften noch mehr als mit seiner parlamentarischen Beratertätigkeit von Einfluss auf das verfassungsrechtliche und politische Denken seiner Zeitgenossen war.
Kelsens Demokratiekonzept kann gewissermaßen als das Pendant seiner Rechtstheorie bezeichnet werden. Beide gingen davon aus, dass oberste Werte nicht rational erkennbar seien, dass Wertvorstellungen immer nur subjektiver Natur seien. Dazu gesellte sich ein Menschenbild, das Kelsen mit dem aus der indischen Philosophie stammenden "Tat Tvam Asi" ("das bist du") beschrieb: dem Erlebnis, in dem Anderen sich selbst zu erkennen.
Kelsen war ein vehementer Verfechter des – gerade in der Zwischenkriegszeit so umstrittenen – Parlamentarismus. Er hielt ihn schlicht für "die einzig mögliche reale Form (…), in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann".
Dazu schien es nötig, dass das Parlament möglichst alle Strömungen in der Gesellschaft entsprechend ihrem tatsächlichen Kräfteverhältnis widerspiegle. Kelsen befürwortete daher ein Verhältniswahlrecht, das den Willen des Volkes möglichst unverfälscht wiedergebe, und lehnte aus demselben Grund beispielsweise Wahlkreise, die nur die großen Parteien begünstigen, ab.
Skeptisch stand Kelsen dem Gedanken gegenüber, dass eine Einzelperson – etwa ein Staatspräsident – ein Volk repräsentieren könne. Schon bei Parlamentsabgeordneten hielt er den Repräsentationsgedanken für eine "Fiktion"; der Parlamentarismus war für ihn lediglich "ein Kompromiß zwischen der demokratischen Forderung der Freiheit und dem allen sozialtechnischen Fortschritt bedingenden Grundsatz diferenzierender Arbeitsteilung".
Aus diesem Grund konnte ein gewählter Präsident für Kelsen auch kein "Hüter der Verfassung" sein, wie dies Schmitt behauptete. Eine solche Aufgabe müsse einem Gericht zukommen, das lediglich darüber zu wachen habe, dass alles staatliche Handeln in jenem Rahmen verbleibe, den die Verfassung vorgebe. Wie dieser Rahmen ausgefüllt werde – das sei Sache der Politik und daher vom Gericht nicht überprüfbar. Nur dort, wo der Rahmen überschritten werde, könne ein Verfassungsgericht eingreifen und verfassungswidrige Normen aufheben. Somit kam auch der Verfassungsgerichtsbarkeit eine wesentliche Rolle in Kelsens Demokratietheorie hinzu.
International gefeiert – zu Hause unter Druck
Als "Vater der Verfassung" genoss Kelsen hohes Ansehen – sowohl in seiner Heimat Österreich als auch international. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er damit begonnen, einen Kreis von Schülern zu bilden, mit denen er sich zu "Privatseminaren" traf und von denen er nach 1920 immerhin sieben zur Habilitation führte; viele von ihnen erhielten später selbst Lehrstühle an verschiedenen Universitäten. Aus Deutschland, Frankreich und aus den Niederlanden, aus Japan, Guatemala und vielen anderen Staaten kamen Rechtswissenschaftler nach Wien, um hier den österreichischen Verfassungsgerichtshof kennenzulernen und mit Hans Kelsen über seine "Reine Rechtslehre" zu diskutieren.
Kelsen war aber nicht nur als Universitätsprofessor, sondern auch als Richter am österreichischen Verfassungsgerichtshof, an dessen Errichtung er selbst entscheidenden Anteil gehabt hatte, tätig. Als solcher prägte er die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes entscheidend.
Wie in vielen europäischen Ländern, so geriet auch in Österreich die parlamentarische Demokratie schon nach wenigen Jahren in eine tiefe Krise. Vor allem die austrofaschistischen Heimwehren drängten auf eine umfassende Verfassungsreform, die das parlamentarisch-demokratische System zugunsten eines "starken Mannes" beseitigen sollte. Um der drohenden Gefahr eines Putsches zuvorzukommen, einigten sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten 1929 auf eine größere Verfassungsreform, die das politische Gewicht des Bundespräsidenten im Verhältnis zum Nationalrat deutlich aufwertete, aber doch das demokratische Element dieser Verfassung nicht infrage stellte.
Kelsen hatte an diesen Verfassungsarbeiten keinen Anteil mehr, sondern konnte nur von außen Kritik an demokratiefeindlichen Bestrebungen üben. Er war allerdings auch persönlich von dieser Reform betroffen, da mit ihr sämtliche Richter des Verfassungsgerichtshofes abgesetzt wurden und der Verfassungsgerichtshof nach einem völlig neuen Bestellmodus zusammengesetzt wurde.
Auch an der Universität Wien waren die Zustände für Kelsen zunehmend unerfreulich: Der Antisemitismus unter Professoren und Studierenden wurde immer stärker; eine "Gelbe Liste" warnte vor dem Besuch von Vorlesungen jüdischer Professoren, darunter auch des "Marxisten" Kelsen. Mehrere Professoren seiner Fakultät verfassten umfangreiche Streitschriften gegen Kelsen, die scheinbar sachlich gehalten waren, in Wahrheit aber doch auch die antisemitische Karte recht deutlich ausspielten.
Zehn Jahre Odyssee
In Wien hatte Kelsen vor allem Vorlesungen über österreichisches Staatsrecht gehalten; an diesem Fach bestand im preußischen Köln kein Bedarf. Der mittlerweile 49-jährige Kelsen wechselte nunmehr ins Völkerrecht, in das er sich in den folgenden Jahren fast ebenso gut einarbeitete wie seinerzeit in das Verfassungsrecht. Und natürlich waren seine rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Arbeiten von übernationaler Bedeutung. Insgesamt behielt Kelsen die drei Jahre, die er in Köln verbrachte, "in sehr angenehmer Erinnerung".
Fast unmittelbar nach Hitlers "Machtergreifung", am 13. April 1933, wurde Kelsen als Professor "beurlaubt" und einige Monate später in den Ruhestand versetzt. Nur mit viel Glück konnte Kelsen mit seiner Frau und seinen beiden fast erwachsenen Töchtern nach Österreich fliehen; den größten Teil seiner Ersparnisse musste er zurücklassen, und der Staat Preußen weigerte sich auch, ihm eine Pension auszubezahlen (seine Ansprüche gegen die Republik Österreich waren seinerzeit an Preußen abgetreten worden), sodass sich Kelsen auch materiell in einer äußerst schwierigen Position befand. Weder eine österreichische noch eine deutschschweizerische Universität bot ihm eine Professur an. Lediglich an der Deutschen Universität Prag bemühten sich seine Freunde um eine Berufung, zumal dort der Lehrstuhl für Völkerrecht schon seit einiger Zeit unbesetzt war. Sie stießen dort aber auf hinhaltenden Widerstand der mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Professoren.
So nahm Kelsen einstweilen eine Lehrtätigkeit beim Genfer Institut universitaire de hautes études internationales an.
Dort begegnete ihm ein feindseliges, gewaltbereites Klima. Nationalsozialistische Studierende störten seine Vorlesung, und es kam zu Krawallen, sodass die Fakultät für mehrere Monate geschlossen werden musste. In einem anonymen Brief wurde seine Ermordung angedroht, und Kelsen erhielt Polizeischutz. Das Münchener Abkommen 1938 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 beendeten Kelsens kurzes "Prager Gastspiel", wie er es selbst genannt hatte, und er kehrte nach Genf zurück. Überflüssig zu betonen, dass die neuen, nationalsozialistischen Machthaber in Prag Kelsen auch nun wieder Gehalts- oder Pensionszahlungen verweigerten. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Kelsens Entschluss gefasst, Europa zu verlassen, und im Mai 1940 verließ er mit seiner Frau Genf und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Die jüngere Tochter war schon zuvor in die USA gegangen, die ältere nach Palästina ausgewandert.
In Amerika
Kelsen war zum Zeitpunkt seiner Emigration in die Vereinigten Staaten schon fast 60 Jahre alt und sprach kaum Englisch. Nur mit großer Mühe konnte er sich in der neuen Umgebung zurechtfinden; er erlernte zwar die neue Sprache, beherrschte sie aber stets nur unvollkommen, was mit ein Grund für den mangelnden Erfolg seiner "Reinen Rechtslehre" in den USA gewesen sein dürfte. 1936 hatte ihm die Harvard University ein Ehrendoktorat verliehen, doch nach seiner Emigration gelang es ihm dort nur, zwei Jahre lang zu unterrichten, nicht jedoch eine dauernde Anstellung zu erhalten, weshalb er 1942 als Gastprofessor an die University of California ging.
Wie schon im Ersten Weltkrieg, so war es auch nun wieder das Militär, das die Leistungen Kelsens als erstes würdigte und so auch seiner akademischen Laufbahn neuen Antrieb gab. In den Jahren 1944 und 1945 reiste er mehrfach zu Beratertätigkeiten nach Washington.