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Ein arabisches Dilemma | Der Islam | bpb.de

Der Islam Editorial Ein arabisches Dilemma Die muslimische Welt und der Westen Der Islam als Faktor in der internationalen Politik Der Islam in der arabischen Welt Zum "peripheren Islam" in Südostasien Der Islam im subsaharischen Afrika Macht und Glauben in Zentralasien

Ein arabisches Dilemma

Rafik Schami

/ 9 Minuten zu lesen

Worin liegen die Hemmnisse für eine Demokratisierung der arabischen Welt? Ein Ansatzpunkt könnte die dominante Rolle der Familien und Sippen sein.

Einleitung

Vor über zweitausend Jahren hat ein junger Rebell eine nicht unähnliche Situation wie die in unserer heutigen Welt durchlebt und darauf eine entscheidende Antwort gefunden. Damals war das winzige Land Palästina genau wie heute zerfressen von Selbsthass und Unruhen, und das Imperium Romanum stand wie ein Gigant dieser ihm ausgelieferten Gesellschaft gegenüber, in der Heuchelei, Mord und Selbstmord an der Tagesordnung waren.

Seit dem Terroranschlag am 11. September 2001 und der dadurch losgetretenen Hasslawine gegen den Islam versuchen Menschen mit gutem Willen, die Religionen des Orients einander gleichzumachen. Das ist verständlich, aber falsch. Nicht die theologische, sondern die irdische, diesseitige Differenz beschäftigt mich.

Die drei Religionsstifter sind in ihrer Rolle als Menschen von Grund auf verschieden. Moses war ein Retter seines Volkes aus physischer und psychischer Sklaverei. Der lange, zermürbende, aber reinigende Gang durch die Wüste war nötig, um das Gelobte Land zu erreichen. Jesus war ein Rebell in einem besetzten Land. Er begriff, dass nur, wenn die menschliche Verbundenheit die ganze Welt erfasst, sein kleines Volk eine Chance haben würde, zu seiner Menschlichkeit zu finden. Muhammad war ein genialer Staatsmann. Das Christentum brauchte viele Anpassungen, glückliche Fügungen und dreihundert Jahre, um legalisiert zu werden. Der Islam war eine Staatsreligion vom ersten Augenblick an.

Diese Differenzen beeinflussen bis heute die Weltpolitik. Der Islam beinhaltet in seinem Grundkonzept einen weltumspannenden Staat. Dieser Gedanke, fundamentalistisch gewendet, bedeutet Krieg. Der zurzeit mächtigste Herrscher im christlichen Abendland, der Präsident der USA, verkörpert den Missionar, allerdings in seiner problematischsten Art. Das Gute ist sein Spiegelbild, alles andere ist aus dem Reich des Bösen. Auch hier ist Krieg vorprogrammiert. Und der israelische Staat? Verhält er sich nicht so, als wäre jeder seiner Ministerpräsidenten ein Retter und als wären seine Bürger immer noch auf der Flucht? Dies führt zu gefährlichen Projektionen und zum Krieg. Aber Differenzen können auch bereichern. Ein Orient, in dem alle Kulturen der Völker in Freiheit und Demokratie neben- und wenn möglich miteinander wirken, könnte, gestützt auf die vorhandenen Reichtümer, den Mittelmeerraum in ein Paradies verwandeln.

Dort liegt aber eine der lebendigsten Kulturen der Welt brach. Ihr Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung ist sehr gering. Die Araber sind große Lieferanten und Verbraucher, aber man beteiligt sie an keiner Entscheidung. Und wenn die Freiheit einer Nation die Summe der Freiheit ihrer Bürger ist, so geht diese Summe in allen arabischen Ländern gegen null. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig, und ebenso vielfältig werden auch die Lösungen aussehen müssen, wenn sie etwas Hoffnung und Zuversicht geben sollen.

Vieles, was die Araber und ihre Kultur prägte, wurde zwar nicht ausschließlich, aber doch stark von der Wüste verursacht. Will man also die Araber auch im Jahre 2003 verstehen, muss man immer den Einfluss der Wüste berücksichtigen. Die Wüste ist die Meisterin der Abstraktion. Die Araber waren ihre tüchtigen Schüler. Sie sinnierten mit Worten über die Welt. Alle drei Propheten, Moses, Jesus und Muhammad, ließen die lärmende Schwatzhaftigkeit und Hektik der Städte hinter sich und gingen in die Wüste, bevor sie ihre Ideen verkündeten. Aber nicht nur das. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass hier das erste Alphabet der Menschheit entwickelt wurde.

Die Wüste war es auch, welche die Geschlechterrollen anders formulierte. Nicht Vater und Sohn kämpften um die Gunst der Mutter und erzeugten zu Freuds Freude den uns heute als Ödipus bekannten Komplex, sondern es entstand ein Wettstreit zwischen Vater und Mutter um die Gunst der Kinder. Wer deren Gunst erwarb, sicherte seine alten Tage in Würde. Die Frau siegte öfter, solange man in der Wüste lebte. Nicht selten bekamen die Kinder den Namen ihrer Mutter, weil sie der sichere, lebenserhaltende Halt in der Wüste war. Die Väter kamen oft von ihren Kämpfen nicht zurück. Erst in den Städten verbannten die Männer die Frauen in den Harem, aus Angst vor ihrer Macht. Damit war der Kampf in der Öffentlichkeit entschieden, nicht aber in den eigenen vier Wänden.

Das enge Band der Familie und Sippe war eine unentbehrliche Voraussetzung, um in der lebensfeindlichen Umgebung der Wüste zu überleben. Die daraus resultierende blinde und bedingungslose Solidarität mit dieser Sippe (arab. Assabija) hat beim Aufstieg der Araber zu einer Weltmacht eine beschleunigende Rolle gespielt. Heute ist sie ein Hemmschuh gegen die Errettung der arabischen Gesellschaft aus ihrer tiefen Misere.

Heute ist die arabische Familie, die sich nicht den Einflüssen der Moderne entziehen kann, genauso gut oder schlecht wie die deutsche, die indonesische oder die amerikanische Familie. Aber die Sippe, der Stamm als System, überlebte als eine Mutation. Die Sippe ist nicht mehr ein Schutzmechanismus gegen die Lebensfeindlichkeit der Wüste, sondern mittlerweile ein kriminelles Instrument, das die Macht eines Diktators zu sichern hat. Die Mutation der Sippe ähnelt sehr der Mutation der Mafia, übrigens auch ein arabisches Produkt. Die Mafia (arab. Schatten geben, verstecken) mutierte von einer Organisation, die sizilianischen Aufständischen und Freiheitskämpfern im 11. Jahrhundert Schutz bot im Kampf gegen die Normannen und im 15. Jahrhundert gegen die Spanier und ihre Inquisition, zu einer kriminellen Vereinigung, die das eigene Volk terrorisiert. So ist auch die Sippe heute in Arabien ein perfektes System, das es Verbrechern erlaubt, ein wunderbares Kulturvolk zu unterwerfen, seinen Reichtum zu vergeuden, es zu quälen und dem Tod auszuliefern. Mit der Sippenherrschaft wurden nicht nur die reaktionärsten Regime am Golf etabliert, sondern die Ansätze der republikanischen Entwicklung in den anderen aufgeklärteren Ländern zerstört. Parlament, Partei, Armee, Polizei und Justiz wurden marginalisiert, ihrer Funktion enthoben, gedemütigt. Nur Loyalität gegenüber dem Diktator und Unmenschlichkeit sind Voraussetzungen für den Aufstieg.

Hierin liegt die Dummheit, wenn europäische Salonintellektuelle einen arabischen Diktator mit Hitler vergleichen. Unter der Sippenherrschaft mutiert die Republik zum Kalifat. Der Sohn erbt die Herrschaft vom Vater. In Syrien ist dieser Wandel bereits vollzogen, in Ägypten und Libyen ist er geplant. Der Diktator kam in allen diesen Ländern aus ärmsten Verhältnissen. Daher neigt einer wie der andere zur Verkleidung und zur krankhaften Gier nach Superlativen in den Titeln, nach Palästen, Geld und nach Autos. Er trägt Titel und Kleider, die folkloristisch anmuten und in keiner Armee und keinem anderen Land bekannt sind.

Das Scheitern in Arabien liegt am begrenzten Horizont dieser Herrscher, die immer mehr zu Verwaltern der Erdöl- und Waffengeschäfte werden wollen und jeden als Bedrohung empfinden, der Selbstständigkeit anstrebt. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass Lehrer, Architekten, Mediziner und Politiker nichts als schlechte Kopisten sind, wenn sie nicht die Besonderheit der jeweiligen Region, der Kultur in Betracht ziehen, und so sind unsere Wohnhäuser, Städte, Strände, Kliniken und Universitäten schlechte Kopien europäischen Baustils. Oft sind Mitglieder der Regierung selbst Vertreter westlicher Firmenniederlassungen, Importeure, die jeden bedrohlich finden, der eigene Wege gehen will, und ihn deshalb mit allen Mitteln bekämpfen.

Die Herrscher dieser Länder - deformierte, in ihrer Seele kolonialisierte Verwalter und nicht Befreier - haben gar keine Vorstellung davon, wie eine neue Gesellschaft beschaffen sein soll, sondern wollen bloß weitergehen. Sie drehen sich aber unentwegt im Kreis. Alle arabischen Regierungen setzen in blinder Nachahmung auf das wirtschaftliche Wachstum, diese westliche Erfindung. Statt die Gesellschaft aus ihrem tiefen Schlaf nach 400 bis 500 Jahren Kolonialismus wachzurütteln, ereifern sich unsere Herrscher über Prokopfeinkommen, Zahl der Schüler, Studenten und Soldaten. Und weil sie dauernd im Hintertreffen sind, lügen sie und manipulieren die Zahlen, um bessere Ergebnisse vorzeigen zu können.

Die moderne Technik und der Reichtum durch das Erdöl ließen die arabischen Gesellschaften viele Tarnmittel importieren und sich einbilden, sie beteiligten sich am Fortschritt, wenn sie über Satellitenantenne, Handy und Videokamera verfügen. Dabei können alle diese Länder nicht einmal selbstständig eine Schraube herstellen. Sie importieren alles und werfen den politischen Gegnern vor, importierte Gedanken (Afkar Mustawrade), die zur arabischen Gesellschaft angeblich nicht passen, wie Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder die Emanzipation der Frau, aus Europa eingeschmuggelt zu haben. Sie dulden keine Kritik. Die arabischen Intellektuellen flüchten, werden mundtot gemacht oder gekauft. Eine vierte Kategorie gibt es nicht. Die Diktatoren versuchten, mit einem Heer gekaufter Dichter, Denker und Künstler, nicht ohne Erfolg, das Herz ihrer Bevölkerung zu erreichen.

Es mangelt in Arabien weder am Willen der Bevölkerung noch an Theorien und Ideen, sondern an Demokratie. Viele Ansätze, philosophisch und politisch zu begründen, warum und wie die Araber im Stande sind, einen eigenen Weg zu gehen, wurden im Keim erstickt. Geniale Frauen und Männer versuchten, der eigenen Kultur verpflichtet, eine Antwort auf die spezifischen Fragen unserer Gesellschaft zu geben und damit einen selbstständigen Beitrag zur Zivilisation zu leisten, doch sie waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Drei von ihnen seien hier erwähnt: die Libanesen Hussein Muruwa und Mehdi Amel sowie der Iraker Hadi al Alawi. Die ersten beiden wurden erschossen. Hadi al Alawi, der große Sufigelehrte, flüchtete von Bagdad bis nach China. Er kehrte über Beirut und Zypern schwer krank zurück und lebte verarmt in Damaskus bis zu seinem viel zu frühen Tod 1998.

Wer diesem Mord an Geist und Seele entkommen will, muss ins Exil gehen. Millionen fähiger und hoch qualifizierter Araber flüchteten. Die Länder versinken in Dunkelheit. Doch Jahrzehnte der Diktatur rächen sich. Die arabischen Diktatoren wissen, dass weder ihre Armee fähig zum Kampf mit einem äußeren Feind ist, noch dass sie der Bevölkerung trauen können. Sie lassen sich feige und oft geheim auf alles ein, was ihre Macht erhält. Nicht selten bettelten Diktatoren, die offiziell gegen Israel hetzten, hinter dem schweren Vorhang der Diplomatie um Kontakt mit Israel.

Welch eine tiefe Demütigung. Keine einzige Regierung leistet Widerstand. Die Nachbarländer des Iraks erlaubten sogar den Amerikanern und Engländern, ihre Länder als Startbasis für einen Krieg zu missbrauchen, der viel Leid gebracht hat. Das sind genau die Regime, die in ihren Medien von den Europäern Haltung verlangen und von den Palästinensern ein Martyrium. Diese Sippen überwinden, das können weder Fundamentalisten noch einmarschierende fremde Armeen. Das kann einzig und allein die Demokratie, die bei all ihren Schwächen doch so radikal gegen die Sippe ist, weil sie auf das Individuum zählt und dieses achtet, was so viel wie ein Todesurteil für die Sippe ist.

In gewisser Hinsicht stellt der Krieg gegen den Irak eine ökologische, materielle, politische und kulturelle Katastrophe für die Araber dar. Sie zeigt ungeschminkt, dass weder der Ruf nach arabischer Bruderschaft noch der Islam ihnen mehr hilft, ihre Niederlage zu mildern oder zu vertuschen. Sie werden kolonialisiert, als hätten sie fünfzig Jahre lang nichts dagegen unternommen. Gibt es einen Ausweg aus dieser Sackgasse?

Statt einen Wandel durch kritische Annäherung zu vollziehen, um im gesamten Mittelmeerraum einen freiheitlichen Geist in demokratischen Ländern mit höchst produktiven multinationalen Projekten zu schaffen, überließ Europa fast beschämt und gelähmt das Feld anderen Mächten. Die Europäer stürzten sich auf rein wirtschaftliche, nicht selten bedenklich einseitige Lieferungen von Europa Richtung Mittelmeer. Jeder, der zahlte, bekam, was er bestellt hatte, ohne einmal gefragt zu werden, wofür. Damit disqualifizierte sich Europa als Partner der Völker. Und weil es an einem humanistischen Angebot der Zusammenarbeit fehlte, das aufklärend und aufrüttelnd auf die Völker hätte wirken können, konnten sich die Herrscher in die Arme der Amerikaner werfen.

In Bezug auf den Orient heuchelte Europa. Es stellte sich blind gegenüber den berechtigten Forderungen der Palästinenser, der Kurden und der Frauen. Es handelte lieber mit Diktatoren als mit deren Opposition, lieferte harmonisch geeint von Russland bis Spanien sowohl Waffen als auch Elektronik. Während dieser Zeit hatte die demokratische Opposition kein Geld, kein Hinterland, manchmal nicht einmal eine Schreibmaschine. Ihre Anhänger bekamen weder Asyl noch Sender.

Die Europäer und die Völker des Orients müssen gemeinsame Wege suchen, sie müssen die Diktatur und Massenvernichtungswaffen ächten und einem Diktator sofort zeigen, dass niemand mehr mit ihm zusammenarbeitet. Das wäre ein Bund der Menschlichkeit. Wir können nicht Missstände, die seit über 50 Jahren andauern, wie die Situation in Israel und Palästina, innerhalb zweier Wochen beheben.

Einer der gefährlichsten Konfliktherde des Orients ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Diese beiden Völker sind in die Gewaltspirale geraten, aus der sie allein nicht herauskommen können. Auch dieser Konflikt ist lösbar, wenn wir mit Geduld die Zweistaatenlösung angehen, bei der Israel und Palästina in sicheren Grenzen und in normalen diplomatischen Beziehungen zu allen Nachbarn in Frieden und Freiheit leben und gedeihen.

geb. 1946 in Damaskus; seit 1971 in Deutschland; Studium und Promotion in Chemie; seit 2002 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Veröffentlichungen u.a.: Die Sehnsucht der Schwalbe, München 2000; Mit fremden Augen, Heidelberg 2002; (zus. mit Root Leeb) Farbe der Worte, Cadolzburg 2002.