I. Eine gesamtamerikanische Freihandelszone: Neue Wachstums- und Entwicklungschancen für Lateinamerika?
Einer der wichtigsten Punkte auf der Agenda des I. Summit of the Americas, zu dem US-Präsident Bill Clinton im Dezember 1994 nach Miami eingeladen hatte, war der Vorschlag, die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der westlichen Hemisphäre durch die Gründung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone zu vertiefen. Die in Miami versammelten Staats- und Regierungschefs von 34 Staaten Nordamerikas, Südamerikas und der Karibik stimmten dem Projekt einer Free Trade Area of the Americas (FTAA) grundsätzlich zu, allerdings ohne einen festen Zeitplan zu vereinbaren.
Rund hundert Jahre später war der Enterprise for the Americas-Initiative von Präsident Bush sen. immerhin ein Teilerfolg beschieden: der Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (North American Free Trade Agreement/NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko, das am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Damit konnte sich Mexiko als erstes Land Lateinamerikas im Rahmen eines regionalen Nord-Süd-Bündnisses den bevorzugten Zugang zu den Märkten zweier Industrieländer verschaffen. In den meisten anderen Volkswirtschaften Lateinamerikas wurde hingegen traditionellerweise einer zu engen Anbindung an die USA misstraut und (sub-)regionalen Süd-Süd-Bündnissen der Vorzug gegeben, auch wenn die diesbezüglichen Erfahrungen in der fast zweihundertjährigen Geschichte lateinamerikanischer Integrationsbemühungen wenig ermutigend geblieben waren.
Der Gedanke regionaler Integration und wirtschaftlicher Kooperation hatte gegen Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen Lateinamerikas und der Karibik neue Impulse erhalten; inzwischen gehören alle lateinamerikanischen Staaten einem oder sogar mehreren (sub-)regionalen Integrationsbündnissen an. Dieser Integrationsschub war Reaktion auf die weltweit zu beobachtende Tendenz der Formierung regionaler Wirtschaftsblöcke. Wollten die Länder Lateinamerikas diesen Bündnissen nicht vereinzelt gegenüberstehen, dann mussten sie sich entweder einem der Blöcke anschließen oder eigene Formen regionaler Kooperation und Blockbildung entwickeln. Die Renaissance des regionalen Integrationsgedankens in Lateinamerika ist aber auch im Kontext des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels der achtziger Jahre zu sehen; an die Stelle des ein halbes Jahrhundert lang favorisierten Modells binnenorientierter Importsubstitution trat mit der "neoliberalen Revolution" das Paradigma exportorientierter Weltmarktintegration. Damit erhielt regionale Integration eine neue Zielsetzung: Lateinamerikanische Integrationsbündnisse sind nicht mehr gegen den Weltmarkt gerichtet, sondern als pragmatische Zwischenschritte auf dem Weg in einen liberalisierten Weltmarkt konzipiert.
Die neue Integrationswelle und der "offene Regionalismus" haben bislang allerdings nichts an dem Tatbestand geändert, dass die außenwirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den (sub-)regionalen Integrationsbündnissen in Lateinamerika und der Karibik relativ gering sind.
Konkrete Schritte zur Bildung der FTAA wurden erst 1998 anlässlich des II. Summit of the Americas in Santiago de Chile vereinbart, und es vergingen weitere drei Jahre, bis die bei dem III. Summit of the Americas 2001 in Quebec erneut versammelten 34 Staats- und Regierungschefs ihre Absicht erklärten, auf der Basis eines vorläufigen Entwurfs für ein FTAA-Abkommen die Verhandlungen über die Verwirklichung des freien Marktzugangs auf dem gesamten amerikanischen Kontinent abzuschließen. Die vierte und letzte Verhandlungsphase für das FTAA-Projekt hat im November 2002 begonnen. Der Zeitplan für die Verhandlungen sieht vor, dass sich die beteiligten Staaten bis Januar 2005 auf ein umfassendes Abkommen zur Liberalisierung ihrer außenwirtschaftlichen Beziehungen einigen, so dass die Vereinbarungen zum 1. Januar 2006 in Kraft treten könnten. Wird das FTAA-Projekt termingerecht verwirklicht, entsteht mit der panamerikanischen Freihandelszone von Alaska bis Feuerland einer der weltweit wichtigsten Wirtschaftsblöcke. Die lateinamerikanischen und karibischen Staaten erhoffen sich von dem FTAA-Projekt neue Wachstums- und Entwicklungschancen und damit auch einen Abbau der Wohlstandskluft gegenüber dem reichen Nordamerika.
In der Abschlusserklärung des III. Summit of the Americas wird das FTAA-Projekt als ein Schlüsselelement zur Anregung von Wirtschaftswachstum und für das Wohlergehen der Hemisphäre bezeichnet; denn der freie Handel, ohne Subventionen oder illoyale Praktiken, begleitet von einem wachsenden Strom produktiver Investitionen und einer größeren wirtschaftlichen Integration, begünstige das regionale Wohlergehen, erhöhe das Lebensniveau, verbessere die Arbeitsbedingungen der Völker Amerikas und schütze die Umwelt.
Das FTAA-Projekt ist mehr als ein klassisches Freihandelsabkommen; denn es zielt neben dem Zollabbau für den grenzüberschreitenden Warenhandel auch auf die Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse (wie z.B. Subventionen für heimische Produzenten, Einfuhrquoten, technische oder hygienische Vorschriften etc.), auf den Abbau der Beschränkungen für grenzüberschreitende Dienstleistungen sowie auf die Liberalisierung von Investitionen innerhalb des gesamten Integrationsraums. Doch schon für den ersten, vergleichsweise einfachen Schritt, den Zollabbau, zeichnen sich erhebliche Kontroversen zwischen den Verhandlungspartnern ab, obwohl die durchschnittlichen Zollhürden nach mehreren GATT/WTO-Runden während der zurückliegenden Dekaden bereits deutlich gesunken sind. Als bei dem III. Summit of the Americas 2001 in Quebec ein Entwurf für das FTAA-Abkommen vorgelegt wurde, hatte noch kein einziges Land einen konkreten Vorschlag für Zollsenkungen im intraregionalen Handel unterbreitet. Konsens bestand lediglich hinsichtlich "sensibler Produkte", die für Übergangsfristen von der Handelsliberalisierung ausgenommen bleiben, aber durch Ausnahmeregelungen dürfen insgesamt 15 % des Handelsvolumens nicht überschritten werden. Erst im Februar 2003 haben die FTAA-Verhandlungspartner Angebote für die Ausgestaltung der Zolltarife und der Ausnahmeregelungen vorgelegt. Als Grundlage für weitere Verhandlungen sind sie differenziert nach Ursprungsländern und -regionen, und sie spezifizieren, für welche Waren sofortige Zollfreiheit gewährt wird bzw. innerhalb von fünf Jahren, zehn Jahren und mehr ab Inkrafttreten des FTAA-Abkommens.
Die Verhandlungsangebote zeigen, dass es für viele Länder von der Freihandelsrhetorik zu konkreten Schritten in Richtung auf Freihandel ein weiter Weg ist. Die weit reichendste Liberalisierung wollen Kanada und Chile wagen, die nach In-Kraft-Treten des FTAA-Abkommens sofortige Zollfreiheit für 71 bzw. 51 % der Agrarprodukte anbieten sowie für 73 bzw. 77 % der Industrieerzeugnisse. Hingegen sind die Mitgliedsländer des Mercado Común del Sur (MERCOSUR) in ihrem gemeinsamen Verhandlungsangebot nur für 12 % der landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu sofortiger Zollfreiheit bereit, die Länder des Caribbean Community and Common Market (CARICOM) sogar nur für 1 %. Etwa 29 % aller Produkte (und 44 % der Agrarerzeugnisse) wollen die CARICOM-Länder von jeglicher Zollsenkung völlig ausschließen, und auch in dem ersten Verhandlungsangebot der zentralamerikanischen Staaten (ohne Costa Rica) ist für 8 % aller Waren und für über 30 % der landwirtschaftlichen Erzeugnisse keinerlei Zollabbau vorgesehen, auch nicht nach mehr als zehn Jahren.
Das erste Verhandlungsangebot der USA war für die lateinamerikanischen und karibischen FTAA-Verhandlungspartner von besonderer Brisanz. Mit Inkrafttreten der FTAA sollen die Zölle für Importe von Agrarprodukten aus den CARICOM-Ländern sofort um durchschnittlich 85 % gesenkt werden, um 68 bzw. 64 % für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus den Ländern der Comunidad Andina (CAN) bzw. aus Zentralamerika (Mercado Común Centroamericano/MCCA), aber nur um 50 % für die agrarischen Produkte aus den MERCOSUR-Mitgliedsländern. Für industrielle Erzeugnisse boten die USA den karibischen Ländern durchschnittliche Zollsenkungen von 91 % an, aber lediglich 58 % für industriell erzeugte Waren aus dem MERCOSUR. Die USA wollen innerhalb von fünf Jahren nach In-Kraft-Treten der FTAA die Einfuhrabgaben für Textilien vollständig abbauen, für Zucker und Orangensaft sollte dies aber erst nach zehn Jahren der Fall sein. Zudem ist der von den USA angebotene Abbau von Einfuhrzöllen an die Bedingung einer reziproken Öffnung der entsprechenden Märkte in den FTAA-Partnerländern geknüpft. Dies bedeutet beispielsweise für Brasilien, dass die in dem US-Angebot vorgeschlagene sofortige Zollfreiheit für chemische Produkte und elektrische Geräte eine völlige Marktliberalisierung in diesen beiden Sektoren voraussetzt, in denen brasilianische Anbieter gegenüber der US-Konkurrenz kaum bestehen können. Hingegen ist der von den USA für Textilimporte angebotene völlige Abbau von Zöllen fünf Jahre nach Inkrafttreten der FTAA für brasilianische Textilexporteure nur von geringem Interesse, da sie trotz bestehender Zollhürden schon jetzt auf dem US-Markt erfolgreich sind, weitere Absatzsteigerungen jedoch durch Einfuhrkontingente behindert werden.
Das US-Angebot an die FTAA-Verhandlungspartner vom Februar 2003 beschränkte sich auf den Abbau von Zolltarifen für den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Verhandlungen über den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse wollen die USA der laufenden WTO-Runde vorbehalten, um auch die Europäische Union (EU) in entsprechende Verpflichtungen einzubinden, vor allem hinsichtlich des Themas Agrarsubventionen. Für die Liberalisierung des grenzüberschreitenden Handels mit Dienstleistungen im Rahmen von FTAA-Vereinbarungen sind ebenfalls WTO-Regeln zu beachten.
Die größten Vorteile bietet der US-Vorschlag für den Abbau der nationalen Zollschranken den zentralamerikanischen Staaten und den Mitgliedern der CAN, während er für die MERCOSUR-Staaten wesentlich weniger attraktiv ist. Die unterschiedlichen US-Angebote an die lateinamerikanischen und karibischen Verhandlungspartner wurden offiziell mit dem für die FTAA-Verhandlungen vereinbarten Prinzip begründet, Unterschiede im Hinblick auf Größe und Entwicklungsniveau der teilnehmenden Volkswirtschaften zu berücksichtigen. In erster Linie verfolgen die USA mit ihrem differenzierenden Verhandlungsangebot wohl aber eine Strategie, die sich insbesondere gegen Brasilien richtet, den Hauptgegenspieler der USA in dem bisherigen FTAA-Prozess.
II. Gewinner und Verlierer beim Übergang zum Freihandel
An dem FTAA-Prozess sind höchst ungleiche Staaten beteiligt: einige sehr große und viele sehr kleine Volkswirtschaften, in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, mit heterogenen Produktionsstrukturen und stark differierender Einbindung in den Weltmarkt. Prinzipiell ist zu erwarten, dass es innerhalb eines regionalen Integrationsbündnisses zu einer allmählichen Einkommensangleichung zwischen den Mitgliedsländern kommt; jedoch führt der Abbau ökonomischer Grenzhürden tendenziell auch zu einer Standortveränderung wirtschaftlicher Aktivitäten innerhalb des Integrationsraumes, mit entsprechenden Auswirkungen auf Arbeitsnachfrage und Lohnniveau.
Wie sich Konvergenz- und Divergenzeffekte regionaler Integrationsbündnisse in den einzelnen Mitgliedsländern auswirken, hängt nicht nur von Intensität und Reichweite der vereinbarten Liberalisierung ab. Der von einem Land tatsächlich zu realisierende wirtschaftliche Gewinn bei einem Übergang zu Freihandel innerhalb eines regionalen Bündnisses hängt von den vorhandenen komparativen Außenhandelsvorteilen jedes einzelnen Landes und von dem zuvor bestehenden Zollschutz gegenüber den neuen Bündnispartnern ab. Der Freihandelsgewinn muss also keineswegs gleichmäßig zwischen den beteiligten Volkswirtschaften verteilt sein, so dass Wohlstandszuwächse in einem Land mit Wohlstandseinbußen in einem anderen Land der Freihandelszone einhergehen können. Solange potenzielle Verlierer des Freihandels keine Gewähr haben, für ihre Verluste von den Gewinnern des Freihandels kompensiert zu werden, leisten sie Widerstand oder versuchen zumindest, die Risiken des Freihandels durch Ausnahmeregelungen zu minimieren. Potenzielle Verlierer des Freihandels gibt es nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den USA und in Kanada, und sie alle werden versuchen, Marktzugangsbeschränkungen zu ihren Gunsten durchzusetzen. Potenzielle Gewinner eines regionalen Freihandelsbündnisses werden von der Politik solange weitergehende Marktöffnungen fordern, bis der Grenznutzen ihrer erwarteten Ertragszuwächse den Grenzkosten ihrer politischen Lobbyaktivitäten entspricht; und potenzielle Verlierer des Freihandels werden umso mehr Aufwand für Lobbying zur Erhaltung des Status quo betreiben, je höher für sie der Nutzen vorhandener protektionistischer Maßnahmen ist. Wie die Kosten-Nutzen-Bilanz eines FTAA-Abkommens letztlich für jedes einzelne Teilnehmerland ausfallen wird, hängt also von den Verhandlungsergebnissen ab. Insofern stellt sich den lateinamerikanischen und karibischen Ländern die grundsätzliche Frage, ob sie von dem FTAA-Projekt einen Nutzenzuwachs gegenüber den bereits bestehenden bilateralen und subregionalen Freihandelsbündnissen erwarten können.
Für die Beurteilung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit des FTAA-Projektes aus der Sicht der Volkwirtschaften Lateinamerikas und der Karibik genügt es nicht, lediglich mögliche handelsschaffende Effekte des Freihandelsbündnisses zu berücksichtigen, sondern in das Kalkül sind auch längerfristige Effekte einzubeziehen, die sich durch Direktinvestitionen, Transfer von technischem Wissen, Innovationsaktivitäten und Humankapitalbildung ergeben. Entgegen der häufig geäußerten Vermutung, dass Außenhandelsliberalisierung und wirtschaftliche Integration nur für technologisch fortgeschrittene Volkswirtschaften von Nutzen seien, können gerade auch weniger fortgeschrittene Volkswirtschaften davon profitieren. Grenzüberschreitender Technologietransfer fördert die Humankapitalbildung, und Innovationen in den dynamischeren Mitgliedsländern diffundieren ohne größere zeitliche Verzögerungen auch in den Volkswirtschaften der Partner, so dass durch die Öffnung der ökonomischen Grenzen in allen an der Integration teilnehmenden Ländern spill-over-Effekte wirksam werden können, und eine (bedingte) Konvergenz zwischen ungleichen Volkswirtschaften möglich wird.
III. Lateinamerikanische FTAA-Strategien
Auch ohne ein gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen sind die besonderen merkantilen US-Interessen in Lateinamerika und der Karibik bereits in bilateralen Freihandelsabkommen und Direktinvestitionen abgesichert. Gemessen an dem gesamten Außenhandel der USA nimmt der Warenaustausch mit den lateinamerikanischen und karibischen Volkswirtschaften keineswegs einen Spitzenplatz ein. Von den US-Exporten des Jahres 2001 in Höhe von insgesamt rund 731 Mrd. US-Dollar entfiel nur etwa ein Fünftel auf die 32 Staaten Lateinamerikas und der Karibik, die an dem FTAA-Prozess beteiligt sind - und damit weniger, als die USA in diesem Jahr nach Kanada exportierten.
Bei den Wareneinfuhren der USA entfielen 2001 sogar nur 17 % auf die lateinamerikanischen und karibischen FTAA-Verhandlungspartner. Rein wirtschaftlich gesehen besteht für die USA keine unmittelbare, zwingende Notwendigkeit für das Zustandekommen der FTAA.
Anders sieht es für Lateinamerika und die Karibik aus, deren wirtschaftliche Situation von den Beziehungen zu den nordamerikanischen Industrieländern stark beeinflusst wird. Allein bei den lateinamerikanischen und karibischen Exporten in die USA geht es derzeit - auch ohne ein umfassendes Freihandelsabkommen - um ein Geschäftsvolumen von über 200 Mrd. US-Dollar. Die USA sind für viele lateinamerikanische und karibische Volkswirtschaften wichtigster Abnehmer ihrer exportfähigen Produkte. So machten beispielsweise für Costa Rica, die Dominikanische Republik, Ekuador und El Salvador die Exporte in die USA im Jahr 2001 zwischen 52 und 77 % ihrer gesamten Ausfuhrerlöse aus. Das NAFTA-Mitglied Mexiko setzte 2001 sogar über 80 % seiner Exporte in den USA ab. Allerdings wurde das hohe Exportwachstum Mexikos während der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in hohem Maße von Lohnveredelungsaufträgen für US-Unternehmen und dem intraindustriellen Handel mit dem nördlichen Nachbarn getragen - aber diese Dynamik ist mit dem Konjunktureinbruch in den USA (vorläufig) zum Erliegen gekommen. Zwar hat das Nordamerikanische Freihandelsbündnis Mexiko wirtschaftliches Wachstum, technischen Fortschritt und ausländisches Kapital gebracht, aber mehr als ein Drittel der Einwohner des Landes, die in Armut leben, konnten von den sich damit eröffnenden wirtschaftlichen Chancen bislang kaum profitieren. Mit der Bildung einer panamerikanischen Freihandelszone würde Mexiko seinen privilegierten Zugang zum US-Markt einbüßen und sich dem verschärften Wettbewerb durch Anbieter aus anderen lateinamerikanischen Ländern stellen müssen.
Dass es in den FTAA-Verhandlungen keine gesamtlateinamerikanische Strategie - oder gar Solidarität - gibt, erklärt sich aus unterschiedlichen ökonomischen (und politischen) Interessenlagen. Diejenigen Staaten, deren wirtschaftliche Interessen mit denen der USA weitgehend übereinstimmen, neigen einer Strategie des bandwagoning zu, des Schulterschlusses mit der US-Politik. Zu dieser Gruppe zählen die meisten zentralamerikanischen und karibischen Staaten, die im Hinblick auf die geographische Nähe zu den USA und unter Berücksichtigung der bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen dem Beispiel Mexikos folgen und das FTAA-Projekt - in stillschweigender Übereinstimmung mit den USA - als eine Süderweiterung der NAFTA betrachten, als Greater NAFTA. Die USA haben den Ländern dieser Region bereits mit der Caribbean Basin Initiative (CBI) von 1983 Zollpräferenzen zugestanden; mit der Erneuerung der CBI im Jahr 2000 sind sie auch der erhofften "NAFTA-Parität" näher gekommen. Mit den MCCA-Staaten Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nikaragua haben sich die USA - parallel zu den FTAA-Verhandlungen - im Januar 2003 darauf geeinigt, bis Ende des Jahres einen Freihandelsvertrag zu schließen, der zu einem Abbau aller Zölle und anderer Barrieren für Waren, Dienstleistungen und Investitionen führen soll.
Ob die Verwirklichung des FTAA-Projektes als bloße Erweiterung der NAFTA allen Teilnehmern tatsächlich die erhofften Vorteile bringt, hängt nicht nur von der Beseitigung bestehender Zollbarrieren ab, sondern beispielsweise auch davon, ob grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften zugelassen wird, was kurz- bis mittelfristig kaum der Fall sein dürfte. FTAA alias Greater NAFTA sieht als minimalistisches Integrationsmodell - im Unterschied zu dem europäischen Integrationsmodell - länderübergreifende Regionalfonds zur Finanzierung von Strukturangleichungsmaßnahmen ebenso wenig vor wie innergemeinschaftliche Ausgleichszahlungen für Integrationsverlierer.
Nicht überall in Lateinamerika verspricht man sich vom panamerikanischen Freihandel Vorteile, und es gibt gewichtige Vorbehalte gegen das FTAA-Projekt, die allerdings nicht ausschließlich außenwirtschaftlich begründet sind, sondern sich auch auf nationalistische und populistische Argumente stützen. Jedoch fehlt lateinamerikanischen Akteuren für eine Strategie des counter-balancing, einer eigenständigen Gegenstrategie zu den Integrationsvorstellungen der USA, die politische und ökonomische Potenz. Möglich ist aber eine Strategie kooperativer Konfrontation, die unkonditionierte Gefolgschaft für das gesamtamerikanische Integrationsprojekt der US-Politik verweigert, um auf diese Weise zu versuchen, Zugeständnisse seitens der USA zu erreichen oder zumindest die dortige Debatte beeinflussen zu können. Es ist vor allem Brasilien, das sich als Wort- und Meinungsführer jener lateinamerikanischen Staaten profiliert, die in den FTAA-Verhandlungen einer solchen Strategie kooperativer Konfrontation zuneigen. Die brasilianische Außen(wirtschafts)politik betont immer wieder, dass die Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone nur eine von mehreren Integrationsoptionen darstelle. Vorrangig soll der MERCOSUR erweitert und vertieft werden, und durch Verknüpfung mit anderen subregionalen Integrationsbündnissen könnte eine südamerikanische Freihandelszone entstehen. Die Haltung der brasilianischen Wirtschaft zu einem gesamtamerikanischen Freihandelsabkommen reicht von Befürwortung bis zu totaler Ablehnung - je nach Grad der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. So können beispielsweise brasilianische Unternehmen des agroindustriellen Sektors mit erheblichen Umsatzzuwächsen in den nordamerikanischen Märkten rechnen, sofern die USA und Kanada im Rahmen der FTAA zu Reziprozität bereit sind und ihren massiven Agrarprotektionismus abbauen. Auch die brasilianischen Stahlproduzenten, deren Herstellungskosten zu den niedrigsten der Welt zählen, hätten gegenüber den US-Konkurrenten einen klaren Wettbewerbsvorteil, wenn diese den Schutz prohibitiver Importzölle verlören. In vielen Bereichen der brasilianischen Industrie besteht allerdings ein enormer Produktivitätsrückstand gegenüber nordamerikanischen Anbietern, so dass ein substanzieller Abbau der Importzölle für sie eine ernsthafte Bedrohung bedeuten würde.
Deutliche Meinungsunterschiede bei der Beurteilung des FTAA-Projektes gab es zeitweise zwischen den MERCOSUR-Partnern Argentinien und Brasilien. Während der Amtszeiten der argentinischen Präsidenten Menem und De la Rúa galten Vertiefung und Erweiterung des MERCOSUR als nachrangig gegenüber Fortschritten bei den FTAA-Verhandlungen, und die argentinische Regierung stand US-amerikanischen Vorschlägen durchaus positiv gegenüber, den FTAA-Beginn auf 2004 oder sogar auf 2003 vorzuziehen. Die brasilianische Regierung beharrte hingegen auf der Einhaltung des ursprünglichen Zeitplans, der das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens frühestens Anfang 2006 vorsieht. Musste angesichts der Spannungen zwischen Brasilien und Argentinien im Gefolge der brasilianischen Währungskrise von 1999 und im argentinischen Krisenjahr 2001 sogar ein Auseinanderbrechen des MERCOSUR befürchtet werden, so haben sich die Positionen der MERCOSUR-Staaten in den FTAA-Verhandlungen inzwischen wieder weitgehend angenähert. Mit dem Amtsantritt des neuen argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner im Mai 2003 wurden Pläne zur Konsolidierung der wirtschaftlichen Integration Südamerikas wiederbelebt, bis hin zur Schaffung einer Gemeinschaftswährung für den MERCOSUR. Bereits zuvor haben sich die MERCOSUR-Staaten auf einen gemeinsamen Vorschlag für den Zollabbau im interamerikanischen Handel geeinigt, jedoch kam ein gemeinsamer Vorschlag für die Liberalisierung des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs in den beiden Amerikas nicht zustande.
Das FTAA-Projekt stößt in der argentinischen Öffentlichkeit bislang auf kein großes Interesse, aber eine unkonditionierte Unterstützung der US-Position wird mehrheitlich abgelehnt.
Chile, das innerhalb Lateinamerikas als early mover bei wirtschaftspolitischen Reformen gilt, profiliert sich in den FTAA-Verhandlungen als Verfechter eines Freihandels ohne Ausnahmeregeln, wünscht auf jeden Fall möglichst weitgehende Zollsenkungen. Seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird ein einheitlicher, relativ niedriger Zoll auf Einfuhren aus Ländern erhoben, mit denen keine bilateralen Handelsabkommen bestehen, unter weitestgehendem Verzicht auf nichttarifäre Hemmnisse; zudem wird durch Abschluss einer Vielzahl bilateraler Handelsabkommen die geographische Diversifikation der wirtschaftlichen Außenbeziehungen vorangebracht. So hat Chile, das seit 1996 dem MERCOSUR assoziiert ist, Freihandelsabkommen u.a. mit Mexiko und Kanada abgeschlossen, aber auch mit der EU (2002) und - parallel zu den FTAA-Verhandlungen - mit den USA (2003).
IV. Von Europa lernen?
Freihandelsofferten an lateinamerikanische und karibische Volkswirtschaften kommen nicht nur von den USA, sondern auch von der EU, deren Wirtschaftsinteressen in Lateinamerika durch eine gesamtamerikanische Freihandelszone tendenziell beeinträchtigt würden. Anders als die USA, verbindet die EU ihre Freihandelsangebote mit entwicklungspolitischen Unterstützungs- und Beratungsleistungen wie beispielsweise in den laufenden Verhandlungen mit dem MERCOSUR und mit CARICOM über biregionale Freihandelsabkommen. Bei dem FTAA-Projekt geht es insofern auch um einen Wettbewerb zwischen US-amerikanischen Integrationsvorstellungen und dem europäischen Integrationsmodell. Der erfolgreiche europäische Integrationsprozess mit seiner schrittweisen Süd- und Osterweiterung wird in Lateinamerika durchaus als Modellvorlage für eigene Integrationsbemühungen gesehen. Vorbildhaft für lateinamerikanische Integrationsvorstellungen ist insbesondere die Kohäsions- und Regionalpolitik der EU, die zu einem spürbaren Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten geführt hat.
Wenn sich aus der Einigungsgeschichte des "alten Europas" überhaupt eine Lehre für Lateinamerika ziehen lässt, dann die Einsicht, dass auch eine intensivierte regionale Integration kein Ersatz für die Einbindung in die Weltwirtschaft ist. Von einer Rückkehr zu lateinamerikanischen Importsubstitutionsstrategien vergangener Dekaden lassen sich keine Lösungen für die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme Lateinamerikas erwarten. Wenn Kritiker das FTAA-Projekt unter den Generalverdacht stellen, koloniale Ausbeutungsmechanismen durch veränderte Formen des Ressourcentransfers zu ersetzen und die wirtschaftspolitische Handlungsautonomie der lateinamerikanischen Regierungen zu beschränken, dann vergessen sie dabei, dass Lateinamerika zwingend darauf angewiesen ist, bislang ungenutzte Exportpotenziale zu mobilisieren und ausländisches Kapital in den nationalen Entwicklungsprozess einzubinden. Es ist nicht mehr als ein Vorurteil, wenn das Engagement von ausländischem Kapital in Lateinamerika generell mit sweatshops gleichgesetzt wird, mit Produktionsstätten in düsteren Hinterhöfen, in denen geschundene Menschen unter erbärmlichsten Arbeitsbedingungen im Auftrag profitgieriger US-Konzerne grausam ausgebeutet werden. Es gibt diese sweatshops tausendfach, aber bei den Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen in Lateinamerika sind die Sozial- und Umweltstandards in der Regel höher als bei den einheimischen Unternehmen, und ausländische Direktinvestitionen haben sich während der zurückliegenden Dekade keineswegs auf die arbeitsintensiven Niedrigstlohnsektoren lateinamerikanischer Volkswirtschaften konzentriert. Ein Vielfaches dieser Investitionen wurde in Produktionsbereichen getätigt, in denen Arbeitskräfte mit einer Mindestqualifikation beschäftigt sind und relativ höhere Löhne gezahlt werden.
Die Kontroverse über die Vorteilhaftigkeit binnenmarktorientierter gegenüber weltmarktorientierten Entwicklungsstrategien erübrigt sich ohnehin, da sie durch die ökonomischen (Miss-) Erfolgsbilanzen vieler Länder innerhalb und außerhalb Lateinamerikas während der zurückliegenden Jahrzehnte entschieden ist. Jedoch bestehen Wahlmöglichkeiten zwischen Varianten des marktwirtschaftlichen Modells, die sich vor allem durch die Rolle des Staates bei der Abminderung von Marktversagen sowie bei der Wahrnehmung sozialer Sicherungs- und Ausgleichsfunktionen unterscheiden. Es gibt Alternativen zu dem US-amerikanischen Wirtschaftsstil, in dem der Sozialbindung des Privateigentums und staatlich organisierter Umverteilung keine vergleichbaren Funktionen zukommen, wie sie beispielsweise aus dem Gesellschaftsvertrag (kontinental-)europäischer Tradition abgeleitet werden.
Die Regierung von US-Präsident Bush Jr. hat in den FTAA-Verhandlungen weitgehende Handlungs- und Gestaltungsspielräume, da der US-Kongress die Trade Promotion Authority erteilt hat.