Einleitung
Die 33 Staaten südlich der USA bilden keineswegs eine einheitliche Region, sondern bestenfalls einen Kulturraum mit gemeinsamen historischen Erfahrungen. Diese tragen allerdings eher dazu bei, dass eine regionale Identität dieser Länder wenig tragfähig und darüber hinaus im Schwinden begriffen ist. Lateinamerika ist als Region trotz vielfacher Versuche im internationalen System nicht auf-, sondern eher abgestiegen. Sein Anteil an der Weltbevölkerung stagniert seit 50 Jahren bei etwa acht Prozent ebenso wie sein Anteil in gleicher Höhe am Weltsozialprodukt. Asien hingegen konnte seinen Anteil in diesem Zeitraum nahezu verdoppeln.
Die ungewisse Zukunft dieses Subkontinents macht den Blick auf die Einzelregionen und ihre sehr unterschiedlichen Entwicklungsaussichten notwendig. Einerseits sind Mexiko, Zentralamerika und die Karibik wirtschaftlich de facto immer enger mit den USA und Kanada verbunden. Seit 1994 hat vor allem das Freihandelsabkommen Nordamerikas (NAFTA) zu diesem Integrationsprozess beigetragen. So dürfte in spätestens einer Generation eine "Nordamerikanische Gemeinschaft" entstehen, die heute schon nicht nur einen weitgehenden gemeinsamen Markt, sondern auch gemeinsame Vorstellungen von den Regeln des Zusammenlebens und der äußeren Sicherheit entwickelt hat. Andererseits dürften die Gemeinsamkeiten dieser Regionen, die durch Migration und Produktion, durch Handel und Tourismus so eng mit den USA verknüpft sind, verglichen mit Südamerika immer geringer werden, auch wenn in Sprache und Kultur sowie in der politischen Rhetorik das gemeinsame Erbe gepflegt wird.
Südamerika hingegen zerfällt immer mehr in zwei Regionen, die trotz aller Gemeinsamkeiten in der Entwicklungsproblematik, der (Un-)Regierbarkeit und der Weltmarktintegration hinsichtlich ihrer Zukunftsaussichten erhebliche Unterschiede aufweisen. Die Andenregion von Venezuela über Kolumbien, Ecuador, Bolivien und Peru befindet sich aus unterschiedlichen nationalen Gründen im Zustand weitgehender Desintegration. Der Zerfall von staatlicher Autorität, die sozialen und politischen Folgen von Drogen- und Guerillakriegen und die Stärkung des politischen Einflusses der lange unterdrückten indianischen Minder- bzw. Mehrheiten gehen Hand in Hand mit einer zunehmenden Irrelevanz politischer Parteien und traditioneller Herrschaftsstrukturen und einem erneuten Aufleben von populistischen und/oder autoritären Elementen. Die zunehmende Unfähigkeit der Regierungen dieser Staaten, trotz ihrer demokratischen Legitimität die notwendige wirtschaftliche Stabilität, den demokratischen Prozess und die öffentliche Sicherheit zu garantieren, bringt diese Länder in bedrohliche Nähe von "failing states".
Der Cono Sur, also die Staaten Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay, galt als die Region mit dem höchsten Entwicklungsstand und Durchschnittseinkommen in Lateinamerika, die in der neunziger Jahren durch die Schaffung der Wirtschaftsgemeinschaft MERCOSUR große Fortschritte nicht nur im wirtschaftlichen Bereich erreicht hatte. Finanz- und politische Krisen haben aber auch dort zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Rückschlägen geführt. 2003 hat der Amtsantritt reformistischer Präsidenten in Brasilien und Argentinien neue Stabilitätserwartungen mit Auswirkungen auf die ganze Region geweckt. So will Brasilien dem Trend zu einer "Nordamerikanischen Gemeinschaft" eine eigene regionale südamerikanische Identität entgegensetzen. Diese südamerikanische Integration soll vor allem durch umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen vorangetrieben werden. Die Kooperation zwischen den südamerikanischen Staaten soll weit über die wirtschaftliche Dimension wie die geplante Freihandelszone zwischen dem MERCOSUR und der Andengemeinschaft (SAFTA) hinaus intensiviert werden. Eine wirtschaftliche Zweiteilung der "Westlichen Hemisphäre" in Nord- und Südamerika mit unterschiedlichen Integrationszielen und -mechanismen ist nicht auszuschließen, ohne dass damit die Stabilitäts- und Entwicklungsprobleme in vielen Staaten Lateinamerikas notwendigerweise verringert würden.
Noch vor wenigen Jahren war die Einschätzung der Zukunftschancen Lateinamerikas wesentlich positiver. Die Überwindung von jahrzehntelanger Militärdiktatur und Unterdrückung, die darauf folgende Demokratisierung sowie die Liberalisierung der Wirtschaft und zeitweilig überdurchschnittliche Wachstumsraten schienen einen neuen Aufbruch zu signalisieren. Nur zwei Staaten der Region, Kuba und Haiti, blieben ohne funktionierende Demokratie. Dennoch steht heute die Überlebensfähigkeit dieser Demokratien im Mittelpunkt aller politischen Debatten in und über Lateinamerika. Die jüngeren Entwicklungen in Ecuador, Guatemala, Kolumbien und Venezuela haben nicht nur die Frage nach der unterschiedlichen Ausprägung der Demokratie, sondern vor allem nach der Regierbarkeit dieser Länder überhaupt aufkommen lassen. Die Reorganisation des Staates durch die politische und vor allem wirtschaftliche Liberalisierung und ihre sozialen Folgen haben den Demokratien in Lateinamerika einen hohen Grad an Instabilität verliehen. Korruption und Kriminalität haben in einigen Ländern ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. 140 000 Morde und 28 Millionen Raubüberfälle werden jährlich in der Region verübt. Angesichts vielfacher Verbindungen zwischen Kriminellen und der Polizei sind zunehmend mafiöse Strukturen entstanden, die längst das Gesetz- und Gewaltmonopol des Staates untergraben haben. Immer stärker wird die Gewalt in vielen Staaten zur akzeptierten Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung.
Die Wirtschaftskrisen und sozialen Anpassungsprogramme haben sich zumeist sehr negativ auf die benachteiligten Schichten der Bevölkerung ausgewirkt, so dass die Mehrheit der Wähler oft weder wirtschaftlichen Fortschritt noch Entwicklungskompetenz bei den demokratischen Politikern zu erkennen vermag. Ob freilich die Angst vor Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und der Einschränkung von Grundrechten ausreichen wird, um diese Wähler weiter an das demokratische System zu binden, ist völlig offen. 60 Prozent der Lateinamerikaner bekennen sich zwar zur Demokratie, 50 Prozent würden aber ein autoritäres Regime unterstützen, falls es sich als erfolgreicher bei der Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen erweisen sollte. Die häufige Gleichsetzung von politischer Demokratie und wirtschaftlichem Fortschritt ist für die Mehrheit der Lateinamerikaner bisher nicht aufgegangen, und deshalb dürften Rückwirkungen dieser negativen Erfahrungen der vergangenen beiden Jahrzehnte sowohl auf die Demokratie als auch auf das Wirtschaftssystem in Zukunft nicht ausbleiben.
Die großen Reformen Ende der achtziger und während der neunziger Jahre waren als Aufbruch in eine neue wirtschaftliche Zukunft gedacht. Dennoch haben sich in den vergangenen 30 Jahren die Auslandsinvestitionen in Lateinamerika halbiert; die Auslandsverschuldung hat sich auf 720 Milliarden US-Dollar verdoppelt, so dass allein ein Drittel aller Exporteinnahmen jährlich für den externen Schuldendienst aufgewendet werden muss. Erfolgreich war immerhin die Inflationsbekämpfung, die von zeitweilig über 1000 Prozent während der achtziger Jahre auf durchschnittlich knapp 14 Prozent im Jahr 2002 sank. Die Handelsliberalisierung durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Privatisierung der meisten staatlichen Infrastruktur- bzw. Industrieunternehmen sollte zur Verbesserung der Wettbewerbssituation führen und gleichzeitig zu mehr Attraktivität für ausländisches Kapital beitragen, brachte aber in den vergangenen sechs Jahren regional kein verbessertes Wachstum, sondern vielmehr eine starke Einkommenskonzentration und vor allem hohe Arbeitsplatzverluste mit sich. Inzwischen blüht in Lateinamerika die schon immer vorhandene Schattenwirtschaft. Sie absorbiert 52 Prozent der Arbeitsbevölkerung, die weder Steuern zahlt noch Sozialleistungen erwarten kann, während nur 18 Prozent auf vertraglich geregelte Arbeit zählen können, 15 Prozent als unterbeschäftigt gelten und zwölf Prozent arbeitslos gemeldet sind - fast 50 Prozent mehr als vor zehn Jahren.
Heute leben etwa 220 Millionen, also 43 Prozent der 520 Millionen Einwohner Lateinamerikas, in Armut, das heißt, sie müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen entsprach 2002 nur dem Stand von 1982 mit durchschnittlich rund 4000 Euro, variiert aber zwischen den und innerhalb der Staaten erheblich. So verfügen die reichsten zehn Prozent der Lateinamerikaner über 45 Prozent aller Einkommen, während das ärmste Drittel der Bevölkerung nicht einmal zehn Prozent auf sich zu vereinen vermag. Keine Region der Welt weist eine ähnliche Einkommensungleichheit auf. Viele Lateinamerikaner stellen sich die Frage, inwieweit der wirtschaftliche Fortschritt, die Modernisierung ihrer Volkswirtschaften, nicht immer mehr Ungleichheit hervorruft; denn der Markt produziert die Güter und Dienstleistungen durchaus effizienter als früher, aber er grenzt gleichzeitig diejenigen aus - und das ist in manchen Ländern die Bevölkerungsmehrheit -, die daran nicht teilhaben können, weil ihnen die Gesundheit, die Erziehung oder der Arbeitsplatz fehlt. Die soziale Katastrophe ist in einigen Ländern bereits eingetreten und hat deren Regierbarkeit entsprechend eingeschränkt.
Einen Ausweg sehen viele Lateinamerikaner darin, Arbeit und Auskommen, vor allem aber Zukunftschancen außerhalb ihren eigenen Gesellschaften zu finden. Durch die ständig zunehmende Auswanderungswelle, die dazu beigetragen hat, dass die USA gewissermaßen das viertgrößte lateinamerikanische Land sind, wird ein wichtiger Beitrag zur prekären sozialen und wirtschaftlichen Stabilität in der Region geleistet. So haben 2002 die Auswanderer 32 Milliarden US-Dollar an ihre Familien überwiesen, eine Summe, die etwa den Auslandsinvestitionen im selben Jahr entspricht. Angesichts einer abnehmenden Geburtenrate in Lateinamerika, die in den vergangenen Jahren nur noch 1,7 Prozent betragen hat, und eines jährlichen Wanderungsverlustes von rund 500 000 zumeist jüngeren Auswanderern wird bereits vor einer Überalterung und rückläufigen Arbeitsbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten gewarnt.
Der "Ausweg" USA hat nicht nur eine persönliche, sondern auch eine regionale Dimension. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die USA für die Lateinamerikaner nicht nur die regionale Vormacht und der wirtschaftliche Magnet, sondern auch die einzig ausschlaggebende Bezugsgröße in der Welt überhaupt. Wiederholte Bemühungen außenpolitischer und außenwirtschaftlicher Diversifizierung haben für die Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten nur eine noch engere Anbindung an die USA zur Folge gehabt. Die Zahlen sprechen auch hier eine deutliche Sprache: So nehmen die USA bereits 54 Prozent aller lateinamerikanischen Exporte ab und stellen 47 Prozent aller Importe. Mexiko hat Japan als zweitwichtigster Handelspartner der USA abgelöst, und Brasilien ist für die USA ein wichtigerer Handelspartner als China geworden. Bis 2010 soll der lateinamerikanische Markt für den Außenhandel der USA bedeutender werden als die Europäische Union und Japan zusammen. Das Konzept der Regierung Bush erscheint daher als Zukunftsvision in Lateinamerika durchaus verlockend. Es hat mit früheren Vorstellungen von einer Integration der Region gemein, dass die Kosten einer solchen Harmonisierung, sei es im politischen oder wirtschaftlichen Bereich, unterschätzt werden. Die aus der - vielen Ländern ungerecht erscheinenden - Verteilung dieser Kosten neu entstehenden Konflikte könnten leicht das große Projekt verhindern oder doch zumindest um viele Jahre verzögern.
Die Absicht der Regierung Bush, bis 2005 eine gesamtamerikanische Freihandelszone zu schaffen, scheint aber ebenso an der mangelnden Bereitschaft der USA zu scheitern, die notwendigen Zugeständnisse beim Marktzugang für lateinamerikanische Produkte zu gewähren, ferner an der Unfähigkeit der Lateinamerikaner, eine gemeinsame Verhandlungsposition gegenüber den USA zu finden. So sollen bilaterale Abkommen Chile, Zentralamerika, Kolumbien und Peru zunächst wirtschaftlich enger an die USA binden. Die gesamtamerikanische Freihandelszone freilich bleibt Teil des politischen Projekts einer "Westlichen Hemisphäre", deren weitere Pfeiler neben der Stabilisierung der Handelsbeziehungen auch die Festigung der Demokratie in Lateinamerika und die Schaffung eines regionalen Sicherheitssystems in ganz Amerika sind.
Trotz und vielleicht sogar wegen dieser Entwicklungen ist es schwer, sich eine rasche Verbesserung der Situation in Lateinamerika vorzustellen. Zu viel Enttäuschung hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung breit gemacht. Die Demokratie und auch die Marktwirtschaft haben nicht das erbracht, was sich die Mehrheit der Wähler erhofft hatte. Zu schlecht wurde in vielen Staaten gewirtschaftet und vor allem zu ungerecht verteilt, dort, wo es etwas zu verteilen gab. Nach mehr als zwei Jahrzehnten negativer Erfahrungen scheint die Geduld bei vielen sozialen Gruppen in verschiedenen Staaten zu Ende zu gehen und die Suche nach neuen politischen Hoffnungsträgern zu beginnen, die durchaus demokratisch gewählt sein können, aber nicht vor autoritären Maßnahmen zurückschrecken, um die Krisen in ihren Ländern in den Griff zu bekommen.
Es ist zweifelsohne ein Charakteristikum von Übergangsgesellschaften wie jenen in Lateinamerika, dass sie Entwicklungsphasen durchmachen; diese verlaufen von Land zu Land sehr unterschiedlich. Meist beginnt dieser Prozess mit einer politischen Demokratisierung, für die freie Wahlen zwar die notwendigen, aber keineswegs ausreichende Voraussetzungen bilden. Dieser Phase folgt eine wirtschaftliche Liberalisierung und Modernisierung, der schließlich als dritte Phase gesellschaftliche Veränderungen folgen. Die meisten lateinamerikanischen Länder befinden sich zwischen den Phasen zwei und drei und deshalb in einem Wettlauf mit der Zeit, denn falls es nicht rechtzeitig gelingen sollte, gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten, werden die Ergebnisse der Phase eins, die praktizierte Demokratie, deutlich gefährdet.
Daher sind bei steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut vor allem soziale Reformen stabilitätsfördernd. Eine zweite Reformwelle in Lateinamerika mit Agrar-, Steuer-, Erziehungs-, Gesundheits- und Rechtsreformen ist vordringlich - politische Ziele, die angesichts steigender Aufwendungen für die öffentliche Sicherheit, der Wirtschaftsrezession und Haushaltskürzungen jedoch nur schwer durchsetzbar sein dürften. Das gilt umso mehr, als gerade Reformen, welche die Gesellschaftsstrukturen verändern würden, kaum durch Druck von außen erreichbar sind, wie das bei der Demokratisierung und der Wirtschaftsliberalisierung teilweise der Fall war. Sollten aber die politischen Eliten dieser Länder ebenso wie die externen Partner der Region, allen voran die USA, aber auch die Europäische Union, nicht in wohl verstandenem Eigeninteresse eine solche zweite Reformwelle in Lateinamerika einfordern und unterstützen, dürfte die Zukunft der Region noch düsterer aussehen als die Gegenwart.