Wessen Geschichte?
Unbeeindruckt von der politischen Debatte um eine gesetzliche Regelung der Zuwanderung haben Migrationsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart Deutschland faktisch zu einem Einwanderungsland gemacht. Wie alle Einwanderungsgesellschaften ist damit auch die bundesdeutsche Gesellschaft durch ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt gekennzeichnet. Auch Geschichtsbezüge, so meine These
Diese Menschen leben aber in einem Land, in dem die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust für die politisch-moralische Öffentlichkeit von immenser diskursiver und symbolischer Bedeutung ist.
Diese Kontroversen zeigen, wie zentral die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen für das kollektive und individuelle Selbstverständnis der Deutschen sind, und unterstreichen zugleich die normativ-einheitsstiftende Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung.
Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust bildet sich in einer Mannigfaltigkeit von Repräsentationsformen ab: in kulturellen Objektivationen, öffentlichen Debatten und institutioneller Verarbeitung, etwa in der Schule oder in Gedenkstätten. An diesen Orten verhandeln junge Menschen unterschiedlicher Herkunft ihre Geschichtsbilder. Der Umgang mit der NS-Geschichte wird dabei häufig zu einem kritischen Testfeld für Anerkennungs- und Zugehörigkeitsfragen in der deutschen Aufnahmegesellschaft. Im interkulturellen Austausch über Vergangenheit werden Identitäten geformt, behauptet und abgegrenzt.
Aus der skizzierten Problemstellung ergeben sich zwei Fragen, die das Erkenntnisinteresse meiner Studie strukturieren. Erstens: Wie positionieren sich Jugendliche aus Einwandererfamilien zur NS-Geschichte und ihren Trägern - der deutschen Zuschauer-, Mitläufer- und Tätergesellschaft und ihren Nachkommen? Zweitens: Ist es auf der Grundlage sozialisationstheoretischer Erkenntnisse denkbar, dass Migranten sich ein kollektives, "historisches Erbe" der Aufnahmegesellschaft zu Eigen machen?
Gegenstand der Untersuchung ist die Bedeutung der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust für die Herausbildung historischer Identität von jugendlichen Migranten in Deutschland. Identitätsbildung wird hier mit Stuart Hall als Prozess der "Positionierung" gefasst: Positioning beschreibt das temporäre und strategische Beziehen von Positionen im Kontext einer als kontinuierlich verstandenen Identitätsarbeit.
Zur Gegenwart und Zukunft der Erinnerung
Wenn es im Folgenden um die Geschichtsbezüge junger Migranten in Deutschland geht, sind diese auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen eines veränderten Diskurses über die Erinnerung an den Holocaust zu betrachten. Ich möchte deshalb einige der wesentlichen Entwicklungen in fünf Thesen benennen, um den theoretischen, historischen und gesellschaftspolitischen Raum zu markieren, in welchem sich auch die Geschichtskonstrukte von Jugendlichen aus Einwandererfamilien bewegen.
These 1: Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis: Die Erinnerung an den Holocaust befindet sich an einem kritischen Übergangspunkt. Es vollzieht sich ein Wandel vom kommunikativen Gedächtnis, welches vornehmlich durch Zeitzeugen verbürgt war, zu einem kulturellen Gedächtnis, welches sich in symbolischen Formen der Repräsentation von Vergangenheit manifestiert.
These 2: Europäisierung des Holocaust: Im Zuge der Einigung Europas ist die Erinnerung an den Holocaust zu einer europäischen Aufgabe geworden. Es entsteht eine europäische Erinnerungs- und Wertegemeinschaft, die sich auf die Neugründung der Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg beruft. Dabei wird die Chiffre Auschwitz zum negativen, aber doch zukunftsgewandten Bezugspunkt europäischer Identitätsbildung.
These 3: Globalisierung der Erinnerung: Die Herausbildung von Identität, auch von historischer, vollzieht sich nicht mehr nur im Rahmen des "Lokalen" - etwa innerhalb der territorialen Grenzen einer Region oder eines Nationalstaates -, sondern zugleich im globalen Raum, im global village, einer grenzüberschreitenden Kommunikations-, Informations- und Medienwelt, die Geschichte unabhängig von Akteuren und Ereignisorten in einen erweiterten Rezeptions- und Reproduktionszusammenhang stellt. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit erleben wir zudem eine Allgegenwärtigkeit von Geschichte, die der Globalisierung von Erinnerung Vorschub leistet. Die Erinnerung löst sich dabei allmählich aus dem nationalstaatlichen Rahmen. Nathan Sznaider und Daniel Levy sprechen von einer "Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust".
These 4: Holocaust als Medienereignis: Erinnerung wird zunehmend über Bilder generiert. Die Medialisierung des Holocaust, die häufig auch als Amerikanisierung oder gar Hollywoodisierung
These 5: Pluralisierung historischer Deutungen: Die Geschichtswissenschaft verliert im Zuge der Medialisierung historischer Ereignisse sowie der Hinwendung zur Erinnerungskultur ihr Deutungsprivileg.
Theoretischer Bezugsrahmen
Auch junge Migranten partizipieren am Diskurs über die Vergangenheit. Sie nehmen aktiv teil an der Kommunikation über die Geschichte ihres Aufnahmelandes. Dabei sind ihre Geschichtsbezüge in unterschiedlicher Intensität beeinflusst von den skizzierten Entwicklungen einer veränderten und sich verändernden Erinnerungs- und Geschichtskultur. Gleichsam sind sie selbst Akteure des Gedächtniswandels bzw. einer "neuen" Erinnerungskultur. Denn die zukünftige deutsche Gesellschaft wird sich zum größten Teil aus Menschen zusammensetzen, die aufgrund ihres Alters und/oder ihrer Herkunft und historisch-politischen Orientierung weder über unmittelbares noch über familientradiertes Erfahrungswissen auf den Nationalsozialismus zurückgreifen können. Die Geschichtskonstruktionen sind deshalb in hohem Maße von der Fähigkeit und Bereitschaft junger Menschen abhängig, aus ihrer eigenen Erlebnis- und Erfahrungswelt Brücken zur Vergangenheit zu schlagen. Interessant ist dabei, zu welchen Aspekten der NS-Geschichte sich gerade Jugendliche aus Einwandererfamilien in Beziehung setzen.
Der theoretische Bezugsrahmen der Studie befasst sich mit der Geschichtsbewusstseinsforschung, mit Erinnerungs- und Erzähltheorien sowie der Ethnizitätsforschung. Ich konzentriere mich im Folgenden vornehmlich auf einige erinnerungs- und gedächtnistheoretische Überlegungen.
Entliehenes Gedächtnis
Mit Maurice Halbwachs gehe ich davon aus, dass das kollektive Gedächtnis ein sozial konstruiertes ist.
Halbwachs prägte den Begriff des "entliehenen Gedächtnisses"
Erinnern und Zugehörigkeit
Erinnerung hat stets einen Gegenwartsbezug. Erinnerungsarbeit ist von Gegenwartsinteressen und gruppenspezifischen Zukunftserwartungen geleitet. Häufig dominiert in der Erinnerung sogar die Deutung über die historischen Tatsachen.
Über Erinnerungen werden Zugehörigkeiten vermittelt.
Junge Migranten, die nach Deutschland eingewandert oder hier geboren sind, werden zu "unfreiwilligen Mitgliedern"
"Holocaust und NS-Geschichte,was bedeutet das für mich?"
Davon ausgehend, dass Geschichtsbewusstsein sich in Erzählungen niederschlägt, wurden die Daten durch offene, biographisch orientierte Interviews erhoben. Die Befragten waren zwischen 15 und 20 Jahre alt und besuchten unterschiedliche Schulformen. Die im Rahmen eines größeren Samples von 55 Interviews angefertigten Einzelfallanalysen bildeten die Grundlage für die Bildung von Typen.
Fatima, deutsche Staatsbürgerin marokkanischer Herkunft, 20 Jahre alt, 13. Klasse, Gymnasium: "Ich frag mich, ob das wieder passieren könnte. Man kann Gefühle nicht so beschreiben. Man weiß dann nicht genau, warum man Angst hat. Es ist nicht so, dass ich mich davon distanzieren kann, sagen kann: Das waren mal die Juden. Das waren mal die Deutschen. Es geht mich nichts an. Es geht mich eben an, weil es Menschen waren. Und es kann immer so etwas passieren, mit anderen Menschen."
Bülent, deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft, 16 Jahre alt, 10. Klasse, Realschule: "Als wir in Tschechien waren, das war eigentlich das einzige Mal, wo ich als Deutscher angesehen worden bin. Also, da hab ich mich als Reindeutscher gesehen. Da hab ich den Türken in mir vergessen, weil da war es was anderes. (...) Da kam ich mir schon so schlecht auch vor, weil die Deutschen da so Schlimmes verbrochen haben. Das sind solche Momente, wo man drüber nachdenkt und wo man auch ein bisschen Schuldgefühl kriegt. Da hab ich mich echt als Deutscher angesehen, also als ein Gast in einem Land, der nicht gern gesehen wird."
Farhad, iranischer Herkunft, 18 Jahre alt, 12. Klasse, Gymnasium: "Und in der Nachbarschaft haben viele alte Leute gelebt, und ich hab mich halt mit denen gut verstanden. Und die haben mir auch immer von der Zeit erzählt (...) und dann der Freund meiner Mutter, der ist Deutscher, und der hat das ja miterlebt als kleines Kind - die Bombenangriffe auf Frankfurt. Und hab ihn auch immer gefragt. Er hat ja auch noch seine Eltern gehabt damals und durch ihn bin ich auch mehr mit dem Nationalsozialismus zusammengewachsen. Wie er erzählt hat, wie er das als kleines Kind erlebt hat, wie seine Eltern da gelebt haben und so. Der Vater war auch im Krieg, in Russland, an der Ostfront."
Laila, deutsche Staatsbürgerin äthiopischer Herkunft, 19 Jahre alt, 12. Klasse, Gymnasium: "Gerade weil wir hier leben, und als Ausländer musst Du Dich doch auch irgendwo mit der ganzen Sache auseinander setzen, da wir einen Bezug zu Deutschland ja auch haben. Und genau so, wie ein Deutscher über seine Geschichte Bescheid wissen müsste. In dem Moment, wo wir hier leben, ist das ja auch ein Teil von unserer Geschichte, und darum ist es auch wichtig, meiner Meinung nach, sich darüber klar zu werden, was passiert ist, wie es dazu kam und dass es genauso gut auch anderswo passieren könnte."
Muhrat, kurdischer Herkunft, 16 Jahre, 10. Klasse, Realschule: "Ich verstehe mehr als die anderen, weil ich weiß, was Leiden heißt. Und was früher mit Deutschland passiert ist, ist fast gleich wie heute mit den Kurden, zum Beispiel, wie die Deutschen die Juden verjagt haben. Das ist doch das Gleiche, wie es die Türken mit den Kurden machen."
Turgut, deutscher Staatsbürger kurdisch-türkischer Herkunft, 20 Jahre, 13. Klasse, Gymnasium: "Aber das Problem ist: Zwar hab ich einen deutschen Pass, aber ich werde nicht als Deutscher akzeptiert. Das war ja auch bei den Juden so. Die waren deutsche Juden. Aber die wurden nicht als Deutsche akzeptiert. Und das ist jetzt bei uns Ausländern ganz genauso. (...) Man wirft uns vor, und das sind genau die gleichen Vorwürfe, die man den Juden damals gemacht hat, dass wir nicht genug deutsch fühlen. Aber das ist nur Vorurteil. (...) Ich finde nicht gut, dass man Ausländern gleich unterstellt, dass sie nicht loyal sind. Und das hat man auch früher von den Juden gedacht."
Ergebnisse und Typen
Die Ausschnitte illustrieren eine Vielfalt der Geschichtsbezüge, die bei aller Unterschiedlichkeit auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Alle Jugendlichen ringen in der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte mit Fragen von Zugehörigkeit. Dabei ist auffällig, dass es nicht so sehr die national-kulturelle Herkunft ist, welche die Umgangsweise mit der NS-Geschichte prägt, sondern vielmehr die gesellschaftliche Positionierung als Angehöriger einer Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Über die Aneignung, Annahme oder Abgrenzung von der Geschichte des Nationalsozialismus wird, wie bereits ausgeführt, die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft verhandelt, behauptet, in Frage gestellt oder zurückgewiesen. Es geht darum, sich zu unterschiedlichen historischen Bezugsgruppen in Beziehung zu setzen.
Insgesamt wurden vier Typen herausgearbeitet. Die Typen beschreiben biographische Strategien - Selbstpositionierungen - im Umgang mit der NS-Vergangenheit, die sich in der Identifikation mit bestimmten historischen Bezugsgruppen bündeln lassen.
Typ I
Fokus: Opfer der NS-Verfolgung. In den unter Typ I gefassten Geschichtskonstruktionen schält sich als dominantes Motiv ein Interesse am Schicksal der Opfer heraus. Dies geht einher mit einem hohen Maß an Empathie und persönlicher Betroffenheit. Im Mittelpunkt stehen die Opfer und das Unrecht, das ihnen widerfahren ist. Dabei kommt es häufig zu Analogiebildungen, die ein Sichhineinversetzen-Können in die Opfer suggerieren: Selbst erfahrene Diskriminierung und Rassismus in der deutschen Aufnahmegesellschaft werden zu den Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen des NS-Regimes in Beziehung gesetzt. Die eigene Lebenssituation als Angehöriger einer Minderheit bzw. die Position als Ausländer wird mit der Situation jüdischer Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik verglichen. Die Kenntnis der NS-Geschichte wird dabei nicht nur zu einem kritischen Maßstab der Beobachtung möglicher historischer Kontinuitäten in der Aufnahmegesellschaft, sondern auch zur sinnstiftenden Folie für die Deutung der eigenen Gegenwart und Zukunft als in Deutschland lebender Migrant der zweiten und dritten Generation.
Typ II
Fokus: Zuschauer, Mitläufer und Täter im Nationalsozialismus. Die Geschichtskonstrukte zeichnen sich aus durch eine explizite Bezugnahme auf die Zuschauer-, Mitläufer- und Tätergesellschaft, deren Sozialperspektiven probeweise eingenommen werden (etwa die Perspektive ehemaliger Wehrmachtssoldaten). Es kommt dabei nicht selten zu einer Reproduktion von Mythen über den Nationalsozialismus. Einerseits werden die jungen Migrantinnen und Migranten durch ihre politisch-historische Sozialisation in Deutschland in solche Mythenbildungen und damit auch in die deutsche Erinnerungsgemeinschaft verstrickt. Andererseits verstricken sie sich selbst in deutsche "Geschichtsgeschichten" durch die Bearbeitung bestimmter Vergangenheitsdeutungen.
Typ III
Fokus: "eigene" ethnische Gemeinschaft. Typ III ist charakterisiert durch exklusive Teilhabe am kollektiven Gedächtnis der "eigenen" minoritären ethnischen Gruppe. In diesem Fall erscheint die historische Identität nicht in Gestalt einer Option. In der Wahrnehmung der Betroffenen wird sie zur Verpflichtung. Erinnerungstheoretisch handelt es sich mit Avishai Margalit um die Praxis "ethischen Erinnerns".
Eine Variante innerhalb dieses Typus lässt sich mit dem Begriff der Instrumentalisierung beschreiben. Von Instrumentalisierung des Holocaust kann dann gesprochen werden, wenn eine Bezugnahme auf die Opfer des Nationalsozialismus ausschließlich der Dramatisierung der Situation der "eigenen" Gruppe dient. Dabei wird das Schicksal der eigenen ethnischen Gruppe argumentativ mit dem Holocaust verknüpft. Auf diese Weise kann der Affektgehalt des eigenen Anliegens aufs Höchste gesteigert und unter den Druck eines moralischen Absolutismus gesetzt werden. So nutzen junge Migranten, die ihre Verfolgungsgeschichte, die Leidensgeschichte ihrer Familie oder auch ihrer ethnischen Gruppe in der Aufnahmegesellschaft nicht repräsentiert bzw. anerkannt sehen, die Erfahrungen der historische Bezugsgruppe der NS-Opfer als Projektionsfläche für die Abbildung ihrer eigenen Geschichte. Es scheint, als ahnten die Betroffenen, dass sich der deutsche Sorgehorizont für ihre Geschichte(n) nur dann öffnet, wenn diese in eine Nähe zu Auschwitz gerückt werden.
Typ IV
Fokus: Menschheit. Für diesen Typus spielt weder die eigene ethnische Herkunft noch die Herkunft der Opfer, Täter oder Mitläufer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft eine große Rolle. Diskutiert wird stattdessen, wie Menschen unter bestimmten historischen, politischen und sozialen Bedingungen zu Opfern, Mitläufern oder Tätern werden konnten und werden. Die Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs werden mit aktuellen Phänomenen verglichen: mit Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Menschenrechtsverletzungen und Genozid. Diese Kontextualisierung der jüngsten deutschen Geschichte im Spiegel globalen Zeitgeschehens findet ihren Ausdruck in einer universalisierenden Perspektive. In Auseinandersetzung mit dem historischen Exemplum Auschwitz werden Beurteilungsmaßstäbe und Handlungsstrategien für die Gegenwart entwickelt. Die historische Bezugsgruppe dieses Typus ist die gesamte Menschheit. Erinnert wird an Ereignisse der Menschheitsgeschichte aufgrund der Zugehörigkeit zum "Menschengeschlecht". Hintergrund dieser Positionierung scheint eine in der Migration entwickelte post-nationale bzw. post-ethnische Orientierung zu sein. Diese könnte sich aus zwei Komponenten speisen: zum einen aus dem Nichtvorhandensein einer Identifikation mit Deutschland und den Deutschen, was nicht zuletzt auch auf die von jungen Migranten häufig erfahrene Nicht-Anerkennung als "Deutsche" zurückzuführen wäre; zum anderen aus dem Mangel an Einbindung in die kollektive Erinnerung der jeweiligen Herkunftsgesellschaft.
Die Zukunft der Erinnerung
Ein Geschichtsbezug, der auf "die Menschheit" abhebt, verweist auf die konstitutive Basis einer offenen und inklusiven, weder national noch ethnisch definierten Erinnerungsgemeinschaft. Diese spiegelt sich gegenwärtig in einer unaufhaltsam scheinenden Globalisierung der Erinnerung an die Massenvernichtung der europäischen Juden wider. Der Holocaust wird dabei nicht nur zu einem universalen Orientierungspunkt für Menschheitsverbrechen, sondern auch zum Gegenstand einer weltgesellschaftlichen Erinnerungskultur, die Margalit im Gegensatz zur ethischen Erinnerung als moralische Erinnerung fasst.
Nationale und ethnische Bezugsrahmen der Erinnerung verlieren an Bindekraft. Was geschieht aber mit der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, wenn diese aus dem spezifischen historischen Kontext herausgelöst wird? Läuft sie nicht Gefahr, für immer hinter der Vereinnahmung für menschliche Katastrophen des Zeitgeschehens zu verschwinden? Erreicht die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Massenmord nicht ihren Höhepunkt, wenn der Holocaust zu einem universalen Behältnis für Erinnerungen an ganz unterschiedliche Opfer wird? Oder liegt paradoxerweise gerade in dieser globalen Indienstnahme von Auschwitz als universellem Maßstab für Menschenrechtsverletzungen eine zukunftsweisende, wenngleich nicht zweckfreie Dimension der Erinnerung, im Sinne von Adornos Maxime, dass Auschwitz sich nicht wiederhole?
In der amerikanischen Geschichtskultur, wie sie etwa durch Holocaust-Museen, "Holocaust studies" und eine Vielfalt an Programmen zur "Holocaust education" repräsentiert wird, gehört ein universalistischer Zugang zur NS-Geschichte vielerorts bereits zur didaktischen Alltagspraxis. Der Holocaust wird hier verstanden als schlimmstes Verbrechen der Menschheit, als Ausdruck universalen Rassismus, ja, als Toleranzproblem. Ob eine solche Herangehensweise in einer sich pluralisierenden Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, hängt nicht nur, aber auch von der künftigen Debatte über das historisch-politische Selbstverständnis der Deutschen ab, an der zunehmend auch Bindestrich-Deutsche teilnehmen werden.