So fern wie Troja, so nah wie Hollywood
Bei einer Emnid-Umfrage im Jahr 2001 wussten nur 43 Prozent der Befragten, was sich am 17. Juni 1953 ereignet hatte. Ein weiterer Teil brachte den Tag immerhin noch mit der DDR in Verbindung, meinte aber, es sei der Tag des Mauerbaus; manche wähnten, dass an diesem Datum die D-Mark das Licht der Welt erblickt habe; 29 Prozent der interviewten Deutschen fiel rein gar nichts ein. Besonders schlecht war es um die Jugendlichen bestellt. Geschichtsdidaktiker verwiesen darauf, dass der 17. Juni 1953 nur noch in etwa jedem dritten schulischen Lehrplan auftauche. Viele Jugendliche verließen die Schule, ohne jemals vom Aufstand in der DDR gehört zu haben. Für nicht wenige Schülerinnen und Schüler war der 17. Juni 1953 so fern wie Troja.
Dies dürfte sich 2003 geändert haben. Fünfzig Jahre nach dem Ereignis war es schwer, den Tag zu ignorieren. Das Fernsehen zeigte wochenlang Dokumentationen, Diskussionsrunden und Spielfilme. Was Hollywoods Filmindustrie mit dem Film "Holocaust" in den siebziger Jahren vorgemacht hatte - ein Spielfilm zu einem historisch brisanten Thema
Der 17. Juni 1953 ist - nachdem er jahrzehntelang missbraucht, verdrängt, vergessen und als Tag der Deutschen Einheit ausgerechnet zu ihrer Vollendung 1990 abgeschafft worden war - nicht nur in einer bemerkenswerten Weise wiedergewonnen worden, sondern die Massenmedien haben ihn entdeckt und gekonnt vermarktet.
Der neue Erinnerungsboom
Zur besten Sendezeit liefen bereits Wochen vor dem 17. Juni Fernsehfilme, aufwändige Fiktionen, in den öffentlich-rechtlichen Programmen. "Tage des Sturms" stellt das Schicksal einer Arbeiterfamilie, die in das Geschehen des Aufstands vom 17. Juni 1953 verwickelt wird, in den Mittelpunkt. In "Zwei Tage Hoffnung" dreht sich die Geschichte um zwei Brüder, die in beiden Teilen Berlins leben, der eine arbeitet beim RIAS, der andere ist SED-Kader; zwischen den Brüdern steht eine Frau - der 17. Juni als Liebesgeschichte und Familientragödie. "Helden ohne Ruhm", der auf Arte, dann in der ARD, schließlich in den Dritten Programmen ausgestrahlt wurde, gehört demgegenüber zur Rubrik des Dokumentarfilms; er lenkt das Augenmerk vom Zentrum auf die Provinz und lässt Zeitzeugen ausgiebig zu Wort kommen - ein engagierter Film, der denen Gerechtigkeit verschaffen will, die bisher unsichtbar und namenlos waren. Das geschieht mit Unterstützung pathetischer Klangkaskaden von Schostakowitsch, die signalisieren: Hier geht es um Helden. Im ZDF steuerte Guido Knopp in bewährter Manier "Der Aufstand", ein Dokudrama, also eine Mischung aus Dokumentation und nachgespielten Szenen, mit anschließender Expertenrunde bei. Vor allem der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) sendete zahlreiche kleinere Fernsehfilme, Interviews und Diskussionsrunden. In allen größeren Städten und Gemeinden der östlichen Bundesländer gab es, getragen von verschiedenen Veranstaltern, öffentliche Filmpräsentationen zum Schicksalsjahr 1953. Auch im Westen fand man solche, jedoch waren sie viel geringer an der Zahl. Zu erwähnen sind schließlich noch Dokumentarfilme, die auf Video und DVD vertrieben werden.
Auch die Radiosender richteten ihr Programm auf den 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 aus. "Panzer und Poeten" nannte etwa der Deutschlandfunk seine Sendereihe: In 14 collageartigen Beiträgen wurden Teilaspekte aus der Sicht von Zeitzeugen geschildert. Grundlage waren Briefe, Tagebücher und andere Materialien von Hörerinnen und Hörern, die der Redaktion nach einem Aufruf des Schauspielers Peter Sodann zur Verfügung gestellt worden waren. Dazu kamen historische Originaltöne, Autorenlesungen - so Erich Loest mit "Durch die Erde ein Riss" oder Günter Grass mit "Die Plebejer proben den Aufstand" -, Gespräche mit Günter Kunert oder Gerhard Zwerenz und vielen anderen, Live-Übertragungen zum ost-westlichen Dialog über den 17. Juni, Hörspiele und so weiter und so fort; die Reihe liegt mittlerweile als CD vor. Bei den regionalen Programmen lag wiederum der Schwerpunkt im Osten. Im Westen bekamen Hörerinnen und Hörer z.B. die Radiosendung des 2. Programms des Südwestrundfunks (SWR) Baden-Baden "'Der Ost-West-Träumer'. Heinz Brandt und der 17. Juni 1953" geboten. Die Deutsche Welle übernahm wie gewohnt die Information der im Ausland lebenden Deutschen und widmete dem Jubiläum zahlreiche Sendungen, etwa vom 16. bis zum 20. Juni eine tägliche "Spurensuche". Auch das Goethe-Institut organisierte Veranstaltungen. Der 17. Juni war ebenfalls in den Medien des europäischen Auslands präsent.
Wie noch niemals zuvor sind für den Jahrestag von verschiedenen Institutionen der Wissenschaft (wie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam) und der politischen Bildung (Bundeszentrale und Landeszentralen) sowie von Museen (wie dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) eine Fülle umfangreicher Internetseiten aufgebaut worden. Man kann so den Weg in das Krisenjahr 1953 verfolgen, die dramatischen Ereignisse selbst und die Nachwirkungen, unterstützt durch multimediale Tageschroniken, Karten und Videoclips.
Nicht zu beziffern ist die Zahl der Ausstellungen unterschiedlichster, z. T. regionaler und lokaler Träger an vielen Orten zu fast allen Aspekten des Aufstands und seiner Verarbeitung in der Öffentlichkeit, in Schulbüchern und im Privaten. Das Haus der Geschichte erarbeitete eine Wanderausstellung über "Widerstand und Opposition in der DDR", die großen Besucherandrang verzeichnet. In der Rastatter "Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" wird eine Ausstellung gezeigt, ebenfalls in den Räumen aller politischer Stiftungen, in Foyers von Landtagen, im Mauermuseum am Checkpoint Charlie, im Koblenzer Bundesarchiv, in Gedenkstätten und Dokumentationzentren, Stadtmuseen, in Akademien, an Universitäten, in Schulen, in unzähligen Rathäusern der ganzen Republik. In der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen fand vom 16. bis zum 18. Juni "Die Lange Nacht des 17. Juni 1953" statt, eine multimediale Theateraufführung im ehemaligen Stasi-Gefängnis, ergänzt durch eine am nächtlichen Himmel Berlins weithin sichtbare Videoinstallation, eröffnet von der Kulturstaatsministerin Christina Weiss. In verschiedenen Berliner Bezirken, aber auch in fast allen größeren Städten Ostdeutschlands wurden Straßentheater und szenische Collagen aufgeführt: An Plätzen, die während des Aufstands eine Rolle gespielt hatten, erinnerten Gruppen mit Toninstallationen, historischen Kostümen und Rundfunkaufnahmen, mit Lesungen und Theaterszenen lautstark an das Ereignis.
Ungezählt blieben die vielen wissenschaftlichen Tagungen, die sich gegenseitig Konkurrenz machten. Die größte Resonanz fanden Festveranstaltungen um die Symposien herum, so etwa die medienwirksame Feier, die anlässlich der Tagung der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR am 11. Juni 2003 im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses stattfand und auf der u.a. der Bundesratspräsident sprach und die TV-Journalistin Sandra Maischberger Lesungen und Diskussionen moderierte. Wer sich für neue Bücher zum 17. Juni 1953 interessierte, fand in den Literaturbeilagen aller Zeitungen mehr als genügend Hinweise. Neben Neuerscheinungen von - in alphabetischer Reihenfolge - Thorsten Diedrich, Thomas Flemming, Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann, Hubertus Knabe, Guido Knopp, Volker Koop, Ilko-Sascha Kowalczuk, Hans-Peter Löhn, Ulrich Mählert und Rolf Steininger widmeten sich zahlreiche Autorinnen und Autoren regionalen oder lokalen Fallbeispielen. Keine Zeitung, von "Bild" bis zur "Süddeutschen", kein Magazin, keine Illustrierte, vom "Spiegel" bis zur "Bunten", kam ohne Geschichten zum 17. Juni 1953 aus, der als demokratischer Massenaufstand, als eine der wenigen demokratischen und nationalen Bewegungen in der deutschen Geschichte und als Anfang vom Ende der DDR gewürdigt wurde - als würde Geschichte als Einbahnstraße verlaufen.
Natürlich sollen die Gedenkveranstaltungen für die Opfer des 17. Juni nicht vergessen werden, die großen nicht - im Deutschen Bundestag, am Friedhof Seestraße im Berliner Bezirk Wedding, was seit den fünfziger Jahren Tradition ist - und nicht die unzähligen kleinen, die in Rathäusern, auf öffentlichen Plätzen, vor Gedenksteinen und Mahnmalen begangen wurden. Die Deutsche Post offerierte ausgewählten Haushalten ein "begehrtes" und "wertvolles" Erinnerungsstück von bleibendem Wert, "auch für folgende Generationen", wie sie schrieb, nämlich das limitierte Numisblatt "50. Jahrestag Volksaufstand in der DDR". Der Zehnerbogen einer Sonderbriefmarke mit Zuschlag (55 plus 25 Cent) mit Ersttagsstempel "Berlin" und eine 10-Euro-Silbermünze wurden zusammen abgegeben. Unter 57 Entwürfen von elf Designern hatte sich die Post für die Wiedergabe eines charakteristischen Details des Aufstandes entschieden: auf T-34-Panzer Steine werfende junge Männer. Das Design für den Silber-Euro stammt von Hans Dobler aus Walda: stilisierte Panzerketten über Schriftzügen wie "Freiheit", "Demokratie", "Freie, geheime Wahlen". Der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel unterstreicht in einer dem Prospekt beigefügten Stellungnahme die Bedeutung des 17. Juni 1953, und Bundespräsident Johannes Rau präsentierte das Sonderpostwertzeichen und die Gedenkmünze am 5. Juni 2003 im Schloss Bellevue. Er hob hervor, dass der Zuschlag von 25 Cent, für den er sich eingesetzt habe, an die Opferverbände des 17. Juni abgeführt werden soll, um Versäumtes wieder gutzumachen. Es sei nämlich "manches hinter dem zurückgeblieben, was wir uns unter Gerechtigkeit vorstellen".
Rau war es auch, der zusammen mit der Hamburger Körber-Stiftung einen Schülerwettbewerb zum 17. Juni 1953 initiierte. Anfang der siebziger Jahre hatte der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann zusammen mit dieser Stiftung, die sich vor allem um das Geschichtsbewusstsein junger Menschen in Deutschland und Europa kümmert, den "Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen" ins Leben gerufen, dem großer Erfolg beschieden war. Der erste Wettbewerb hatte anlässlich des 125. Jahrestages die deutsche Revolution von 1848/49 zum Thema; damals waren über 5000 Arbeiten eingereicht worden.
2003 war der 17. Juni 1953 an der Reihe. Jugendliche und junge Erwachsene bis zu 25 Jahren waren aufgerufen, der Geschichte des Aufstandes und seiner Folgen in Ost und West nachzugehen und ihre Arbeiten bis Ende Januar 2003 abzugeben. Die Resonanz war weniger groß, als es sich die Auslober erhofft hatten: 170 junge Menschen reichten über 100 Beiträge ein, zwölf davon wurden von einer Jury mit Preisen ausgezeichnet. Die Teilnehmenden interessierten sich besonders für Einzelschicksale. Obwohl es sich um die Geschichte der DDR handelte, stammten 56 Prozent der Arbeiten aus den westdeutschen Bundesländern und nur 39 Prozent aus den ostdeutschen; fünf Prozent kamen aus Osteuropa.
Erinnerung zur Zeit der deutschen Teilung
Der 17. Juni 1953 ist das am gründlichsten erforschte historische Ereignis der jüngeren deutschen Zeitgeschichte. Nahezu alle Dimensionen des Aufstandes, seiner Vorgeschichte und seiner Nachwirkungen sind in den vergangenen Jahren aufgearbeitet worden. Wir wissen heute mehr als jemals zuvor. Im Großen und Ganzen hat sich das Bild des 17. Juni 1953, das im Westen vor 1989 bekannt war, bestätigt. Mehr als eine Million Menschen beteiligten sich am Aufstand, der flächendeckend die gesamte DDR erfasste; in eine Landkarte müsste man über 700 Fähnchen stecken, um alle Orte des Geschehens zu erfassen. Das Neue im Jahr 2003 war, dass viele Geschichten "von unten" und aus der Provinz erzählt wurden: weg von den großen Ereignissen, weg vom Zentrum Berlin, hin zum Kleinen, zur Peripherie. Auffällig war auch: Es gab keine großen Kontroversen; im Mittelpunkt stand die nationale Geschichte, die Wiederentdeckung der Nation. Eine transnationale Perspektivenverschmelzung fehlte weitgehend.
Der 17. Juni 1953 ist im Westen natürlich nicht sofort vergessen worden, im Gegenteil: In der Bundesrepublik der fünfziger Jahre war er das herausragende Erinnerungsdatum.
Heute nahezu vergessen ist das Kuratorium "Unteilbares Deutschland", das damals als überparteiliche Organisation gegründet wurde, um mit ganzjährigen plebiszitären Aktionen die Verfestigung der Zweistaatlichkeit zu verhindern und den Gedanken an die nationale Einheit im Bewusstsein der Menschen zu erhalten. Das Kuratorium organisierte jeweils um den 17. Juni herum Feste und Feiern an deutschen Erinnerungsorten, etwa am Hermannsdenkmal, in Fallersleben, vor dem Reichstag; es rief die Jugend zu Stafettenläufen von Helgoland bis zur Zugspitze, vom Saarland bis zur "Zonengrenze" auf, errichtete in hunderten von Städten Denkmäler zur Wiedervereinigung und brannte an der Grenze zur DDR "Mahnfeuer" ab. Politiker verkauften Anstecknadeln und sammelten auf der Straße und in den Schulen "Wiedervereinigungspfennige". Die Erinnerungskultur war vielgestaltig.
Aber jeder modellierte sich sein eigenes Bild vom 17. Juni 1953. Er geriet sehr rasch in die Fänge partei- und gruppenpolitischer Vereinnahmungen, die sich wiederum im Zeitverlauf infolge internationaler Rahmenbedingungen, generationeller Umbrüche und eines Wertewandels in der Gesellschaft tief greifend veränderten. Die Geschichte des Umgangs mit dem 17. Juni im Westen war für niemanden ein Ruhmesblatt, und wohl auch deshalb ist der Feiertag 1990 so sang- und klanglos durch den 3. Oktober ersetzt worden: Der Staatsakt verdrängte den Volksaufstand. Aber das schlechte Gewissen, den Ostdeutschen eine Erfahrung geraubt zu haben, drückte aufs Gemüt.
Die Idee der Nation blieb in der DDR-Bevölkerung länger lebendig als im Westen, weil hier die geeinte Nation immer auch die Freiheit versprach, die man im Westen längst hatte. Dennoch haben viele in der untergehenden DDR, gerade aus der Bürgerbewegung, die Bedeutung des 17. Juni 1953 bestritten und den Männern und Frauen von 1953 wenig Respekt erwiesen. Manche waren gar der SED-Propaganda vom "faschistischen Putschversuch" aufgesessen. Dieses Verhalten wird heute etwa von Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen und frühere DDR-Bürgerrechtlerin, sehr kritisch gesehen,
Erinnert wird, was massenmedial präsentabel ist
Erinnerungskulturen sind maßgeblich von Medien abhängig. Diese ermöglichen Bewahrung und Weitergabe. Medien jedoch sind keine neutralen Speicher, die Daten nur abbilden, sondern sie sind aktiv an der Bedeutungskonstruktion der zu vermittelnden Botschaft beteiligt. Geschichte ist in den vergangenen Jahren vor allem zu einem Medienerlebnis für die breite Öffentlichkeit geworden. Sie unterhält, informiert, klärt auf und belehrt, und vergangene Zeiten lassen sich nicht nur lesen, sondern auch hören und sehen.
Heute hat das Fernsehen die Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen. Im Mittelalter war dies die Rolle der Armen-Bibel, in der Frühen Neuzeit die Rolle der Flugblätter. Im 19. Jahrhundert formte sich das nationale Gedächtnis an Denkmälern als Stein gewordener Geschichtsunterricht, aber auch an der historisch-patriotischen Erbauungsliteratur in der Schule und an dem Panorama, einer Art Filmdokumentation vor dem Film. Seit der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert trat das Radio als neues Epoche machendes Massenmedium seinen Siegeszug an.
Die Kritik an massenmedialer Geschichtsvermittlung ist so alt wie das Phänomen selbst. Kritiker des Denkmalbooms im ausgehenden 19. Jahrhundert prangerten den Appell an die Emotionen auf Kosten der Ratio an; Gottfried Benn nannte dies später abschätzig den "Wallungswert" des Denkmals. Kaum hatte sich der Hörfunk in den zwanziger Jahren geschichtlichen Sendungen zugewandt, erklang die Klage, das Massenvergnügen verdränge die bürgerliche Hochkultur. Und über das Fernsehen sagte der Kulturkritiker Neil Postman 1985, es sei dabei, unsere Kultur in eine riesige Arena für das Showbusiness zu verwandeln.
Geschichtsdarstellung in neuen Medien ist und war für die Geschichtswissenschaft eine Herausforderung par excellence - und zwar für alle drei Zweige, für die empirische Forschung, für die Theorie und für die Didaktik. Mit dem Durchbruch eines demokratischen Massenmarktes und der modernen Kommunikationsgesellschaften seit dem 19. Jahrhundert ging ein öffentlicher Gebrauch der Geschichte einher. Seither werden bange Fragen gestellt: Geht auf dem Jahrmarkt der Geschichte die Aufgabe verloren, "zu zeigen, wie es eigentlich gewesen" ist? Wird in massenmedialen Darstellungen leichtfertig die Wissenschaftlichkeit über Bord geworfen? Andererseits: Dass auch "Klio dichtet", haben nicht erst die "Postmodernisten" wie Hayden White festgestellt. Bereits Johann Gustav Droysen hat in seiner "Historik" von 1868 unabdingbare Formen des Fiktiven analysiert.
Historikerinnen und Historiker müssen sich heute intensiv mit der massenmedialen Konstruktion der Vergangenheit befassen. Es ist nicht damit getan, die zeitgeschichtlichen Filme im Fernsehen, besonders Inszenierungen, die im Fachjargon "Nachdreh" genannt werden, naserümpfend zur Kenntnis zu nehmen oder die Zeitzeugenfolge im 20-Sekunden-Takt zu bemängeln oder das schöne Styling, die dramatische Musik und die raue Kommentarstimme von Christian Brückner, des Synchronsprechers von Robert de Niro, als Kotau vor einem erlebnisorientierten Massenpublikum zu entlarven.
Geschichtstheorie bedeutet, einfach gesagt, das Nachdenken über die Geschichte als vergangene Realität und über das Wissen davon. Wenn aber dieses Wissen und damit das Geschichtsbewusstsein in besonderem Maße durch das Fernsehen und andere Massenmedien vermittelt wird, müssen Theorie und Didaktik Antworten liefern, was diese für das Geschichtslernen leisten.
Die ästhetischen Ausdrucksformen
Historikerinnen und Historiker versuchen, die Geschichte wirkungsvoll vor Augen zu führen; sie müssen sich für Darstellungsfragen interessieren. Nur wenige werden dem Bekenntnis von Golo Mann zustimmen, dass gute Historiographie weniger mit Wissenschaft als vielmehr mit Literatur zu tun habe. Aber die meisten werden doch zum Lesen anstiften wollen, werden versuchen, anschaulich zu schreiben und zu reden, werden Fragen aufwerfen, zum Mit- und Nachdenken anregen wollen, werden zwischen Potentialität und Faktizität variieren und einer Mischung aus narrativen und reflexiven Elementen den Vorzug geben. Übersetzt für Filme lauten die geschichtsdidaktischen Kategorien: "Veranschaulichung" und "Vergegenwärtigung".
Auf die Fußangeln jedweder historischen Arbeitsweise hat bereits Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. In seiner "Historik" hat er drei unabdingbare Formen des Fiktiven herausgearbeitet, ohne die Historiografie nicht auskommt: erstens die Fiktion des vollständigen Verlaufs, denn noch jede Erzählung erweckt den Eindruck der Vollständigkeit; zweitens die Illusion des ersten Anfangs und definitiven Endes, denn jede genetische Erzählung konstruiert einen gegenüber der Wirklichkeit übertriebenen Eindruck von organischer Entwicklung; drittens steht jede Geschichtsdarstellung in der Gefahr, die Illusion eines objektiven Bildes der Vergangenheit vorzutäuschen.
Droysen kannte die elektronischen Medien nicht. Darf, so muss man heute fragen, die Theorie Buch und Film über den gleichen Leisten schlagen? Muss man nicht das jeweilige Medium stärker berücksichtigen? Wie steht es z.B. mit dem Problem der Mehrdeutigkeit? Der Kompilationsfilm bietet die beste Möglichkeit, die Vergangenheit zu konstruieren: Er bedient sich Szenen, Computeranimationen, zeitgenössischen Bildern und Überresten, unterbricht den Filmverlauf durch Interviews und gibt Stellungnahmen von Experten wieder. So werden verschiedene Ebenen und Sichtweisen zum Thema vermittelt und die in der Didaktik geforderte Multiperspektivität eingelöst.
Das Verhältnis von Persönlichkeit und Struktur
Geschichte im Fernsehen, aber auch allgemein in den Massenmedien, heißt: Die Geschichtsbetrachtung richtet sich vornehmlich auf Handlungen und Ereignisse, weniger auf Strukturen und Prozesse. Personen regen zur Identifikation an, bergen aber die Gefahr der Sichtverengung und des Reduktionismus gegenüber der Vielfalt und der möglichen Gegenläufigkeit gesellschaftlicher Prozesse. Strukturhistoriker haben biographische Besonderheiten ausgeblendet und sich den geschichtsmächtigen, überindividuellen Strukturen und Prozessen zugewandt. Sie sehen im Geschichtsfernsehen daher häufig einen audiovisuellen Neohistorismus. Historiker aus der hermeneutischen Tradition argumentieren hingegen, in der Geschichte gehe es um den Menschen, und wenn in ihr Strukturen entdeckt würden, seien diese doch immer von Menschen geschaffen und könnten durch besondere, durch "große" Persönlichkeiten umgeformt werden. Sie halten den Strukturhistorikern mangelnde narrative Kompetenz vor.
Geschichte in den modernen Massenmedien erklärt durch Erzählung. Daher ist der Streit um das Fernsehen die Fortführung des alten Streits über die Narration in der Geschichte. Anfang der siebziger Jahre geriet die Erzählung in der Geschichtswissenschaft, auch in der Didaktik, jäh ins Abseits, und es dominierte der emanzipatorische Ansatz. Doch erstaunlich schnell setzte eine Gegenbewegung ein. Didaktiker plädieren heute wieder für einen erzählenden Umgang mit Geschichte, da sich nur so Authentizität, also größtmögliche Erfahrungsnähe, gewinnen lasse. Erfahrungsnähe und Erlebnis scheinen für Geschichte im Fernsehen conditiones sine qua non zu sein.
Wirkung und Bewertungsmaßstäbe
Das Fernsehen als Medium der Schaulust kann in seiner Vielfältigkeit im letzten Sinne Schau-Bühne historischen Lernens sein. Die Vergangenheit steht uns nicht als Realität, sondern in Form von Deutungen zur Verfügung, die von Wertungen und künftigen Perspektiven mitbestimmt sind. Mit Blick auf das Fernsehen lässt sich dieser Gedanke mit der These verbinden, dass eine audiovisuelle Präsentation ihrem Wesen nach bereits eine Form der Erklärung ist. Bilder beeinflussen die Formung von Geschichtsbewusstsein stärker als das gesprochene oder geschriebene Wort. Weil der Film fertige und obendrein "lebendige" Bilder liefert, gerät das Dargestellte leichter als bei anderen Medien und Quellen ungefragt zur geschichtlichen Wahrheit.
Geradezu skurril mutet vor diesem Hintergrund das grobe Missverhältnis bei der kritischen Würdigung massenmedialer historischer Werke an. Jede durchschnittliche Buchpublikation darf darauf vertrauen, mehrfach rezensiert zu werden. Fernsehsendungen werden von der Fachhistorie und der Fachdidaktik hingegen nur selten gewürdigt. Es fehlt an Bewertungsmaßstäben, die über die sonst üblichen Fragen wie Rationalität, Quellennähe und Thesenführung hinausweisen.
Es wäre eine wichtige Aufgabe, solche Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln. Sie müssten natürlich die Standards reflektieren, aber auch Fragen nach der Anschaulichkeit, der Komplexität, der Handlungsführung, der Perspektive, der Suggestivität stellen. Vor allem aber müsste diskutiert werden, ob die Vorzüge des Mediums genutzt worden sind. Denn Sachertrag oder Aufklärung und Publikumseffekt müssen nicht zwangsläufig Gegensätze sein.
Auf der Euroclio-Konferenz der Geschichtslehrerinnen und -lehrer in Budapest im März 1997 wurde ein Programm über den "Umgang mit Geschichte im 21. Jahrhundert" verabschiedet, in dem die interkulturelle Medienkompetenz - Fernsehen, CD-ROM, Internet - ganz oben stand.
Das Internet bietet eine immense Fülle an Informationsquellen, die entdeckendes Lernen ermöglicht. Aber wir sollten uns der besonderen Problematik einer z. T. mangelnden Qualität bewusst sein. Die Gefahr eines Orientierungsverlustes droht: In der personalisierten, auf individuelle Präferenzen abgestimmten, beliebig verknüpfbaren Datenfülle kann sich jeder und jede "seine" und "ihre" Vergangenheit, seine und "ihre" Erinnerung selbst zusammenbasteln.
Erinnerungskultur heute und morgen
Das Gedächtnis wird immer stärker durchformt von den Instrumenten und Möglichkeiten der modernen Massenmedien. Darüber hinaus ist Geschichte zu einer Massenaktivität geworden. Die Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Erik Meyer stellen vor diesem Hintergrund Trendvermutungen über künftige Erinnerungskulturen an: Sind Erinnerungskulturen heute noch meist zivilgesellschaftlich begründet, so werden sie morgen kommerziell motiviert sein; sind sie heute noch eher politisch inszeniert, so werden sie morgen durchgehend event-bezogen sein; sind sie heute noch auf Dauer angelegt, so werden sie morgen episodenhaft und kampagnenförmig sein; sind sie heute noch vergegenständlicht und diskursiv, so werden sie morgen visualisiert und virtuell sein. Sie werden weniger national verfasst als vielmehr global ausgerichtet sein.
Diese Trends lassen sich auch beim Umgang mit dem 17. Juni 1953 im Jahre 2003 erkennen. Der Aufstand - eine Zeitlang totgeschwiegen und nun totgefeiert? Wird nach der kollektiven Erinnerung nun wieder das kollektive Vergessen einsetzen? Fehlt es nicht an einem Ort, an dem sich die Erinnerung fest machen kann, fehlt es nicht an Namen der Handelnden, der Opfer? Andererseits verfügen wir durch die wachsende Medialisierung über Erinnerungsikonen - Bilder und Filmsequenzen -, die immer wieder aufbereitet werden können, und das 50. Jubiläum des 17. Juni 1953 hat dem Tag eine Unmittelbarkeit gegeben, die man ihm nicht mehr zugetraut hätte.
Wer die (z. T. bisher unbekannten) Bilder gesehen hat von den freudig demonstrierenden Männern und Frauen - die fröhlichen Gesichter fallen sofort ins Auge -, der ahnt, wieviel Hoffnung und Zuversicht, wieviel Enttäuschung und Leid an diesem Datum hängt. Hat nicht 1953 die ostdeutsche Bevölkerung eine Bastille von der Größe eines Landes zu erstürmen versucht? Warum sollte der 17. Juni nicht ein zuversichtlicher Erinnerungsort sein können? Die Franzosen genieren sich nicht, wenn sie ihren 14. Juli mit einer gewissen Leichtigkeit feiern. Eine Scheu vor Symbolen erscheint unangebracht. Schon der große Politiker und Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Alexis de Tocqueville, wusste, dass demokratische Völker der symbolischen Formen mehr als andere bedürfen, sie für gewöhnlich jedoch geringer achten. Ein Defizit an symbolisch vermittelter Identifikation könnte Antidemokraten jeglicher Couleur auf den Plan rufen, dieses Vakuum zu füllen.
Der 17. Juni 1953 ist ein Zuversicht verbürgender Erfahrungsschatz für alle Deutschen. Er vermittelt Erfahrungen von Opposition, Widerstand und Aufstand gegen eine Diktatur, Erfahrungen eines zivilbürgerlichen Engagements, welche die Deutschen übrigens mit ihren europäischen Nachbarn teilen.