Einleitung
Deutsche Geschichte ist anstößig - vor allem dann, wenn es um den Nationalsozialismus geht. Diese Zeit gehört, anders als das Kaiserreich oder die Weimarer Republik, nicht allein den Historikern, die sich berufsmäßig damit beschäftigen. Sie gehört der Öffentlichkeit: Journalisten und Politikern, Verbandsvertretern und Schriftstellern, den Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Um sie wird gestritten, und eben dieser Streit sichert der NS-Zeit einen privilegierten Dauerplatz auf der Bühne des öffentlichen Interesses.
Worüber indes gestritten wird, verändert sich je nach den aktuellen Bedürfnissen und Standpunkten der Zeitgenossen. Abstrakt und hintergründig geht es dabei immer wieder um den Platz des "Dritten Reiches" in der nationalen Geschichtserzählung. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Herkünften und Nachwirkungen ist, wie die Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zeigen, eine eminent politische Frage, auf die es verschiedene Antworten gibt. Konkret und vordergründig tobt ein Kampf der Erinnerungen, in den die noch lebenden Zeitzeugen ebenso verwickelt sind wie ihre Kinder und Enkel. Hier geht es um die öffentliche Anerkennung eines Opferstatus, den fast alle für sich reklamieren, erlaubt er es doch, die politische Perhorreszierung des Nationalsozialismus mit einer persönlichen Erfahrung zu verbinden, die sich davon abspalten möchte, ohne den Grundkonsens zu missachten.
Dieser Grundkonsens hat sich in den historischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre herausgebildet und umfasst alle politischen Lager - vom rechtsextremen Rand abgesehen. Er besagt, dass während des "Dritten Reiches" Verbrechen unerhörten Ausmaßes in staatlichem Auftrag und "im Namen des deutschen Volkes" begangen worden sind. Deshalb verbietet es sich gleichsam von selbst, sich dieser Epoche positiv zu erinnern. Wie weit und tief allerdings die negative Erinnerung reichen soll, was sie umfasst und was sie ausschließt, daran scheiden sich die Geister. Das private und das Familiengedächtnis verfahren dabei oft milder und großzügiger, in jedem Fall aber unkontrollierter als der öffentliche Umgang mit dem Nationalsozialismus.
Letzterer steht dauerhaft auf dem Prüfstand von Kritik und Antikritik. Vor allem in den achtziger und neunziger Jahren, als in Bonn und Berlin liberal-konservative Regierungen eine normalisierende Geschichtspolitik betrieben, schlug der Dissens hohe Wellen. Das spiegelte sich in den Planungen für ein Deutsches Historisches Museum ebenso wider wie in der öffentlichen Erregung, die1985 der deutsch-amerikanische Staatsbesuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof provozierte. Besonderes Misstrauen riefen die Ereignisse nach der deutsch-deutschen "Wende" 1989 hervor. Dort, wo sich wie bei der Gestaltung der Berliner "Neuen Wache" unverhohlene Zeichen einer Schlussstrichmentalität zu erkennen gaben, wurden sie von heftigen Gegenreaktionen begleitet.
Erinnerungen: Opfer, Täter, Mittäter
Sich zu erinnern - das war spätestens seit Richard von Weizsäckers Gedenkrede zum 8. Mai 1985 ein Sesam-Öffne-Dich. Dazu trugen die in rascher Folge abgefeierten Jubiläumsjahre (Kriegsbeginn, Kriegsende, Novemberpogrom, Stalingrad, Auschwitz-Befreiung) ebenso bei wie das In-die-Jahre-Kommen der verbliebenen Zeitzeugen. Ihnen blieb nur noch eine begrenzte Spanne, um über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, und das öffentliche Interesse an diesen Erzählungen war groß. Zugleich aber war das Interesse nicht neutral, sondern es konfrontierte die Erzählenden mit neuen, aufwühlenden Fragen nach individueller Schuld und Verantwortung.
In diesen Fragen lag der explosive Zündstoff, der die Vergangenheitsdebatten jenseits politischer Instrumentalisierung und demographischer Bedrängnis kurz vor der Jahrhundertwende noch einmal kräftig anfachte. Fragen nach persönlicher Teilhabe und Mitwirkung der Vielen waren bislang weder in der DDR noch in der alten Bundesrepublik gestellt worden. Die SBZ/DDR hatte, nach anfänglichen radikalen Entnazifizierungsaktionen in Verwaltung, Justiz, Bildung und Militär, ihre Bevölkerung kollektiv entschuldet und die Verantwortung für den Nationalsozialismus den "usual suspects" aufgebürdet: Monopolkapitalisten und Militaristen, also jenen, die im neuen sozialistischen Staat ohnehin zu Personae non gratae erklärt worden waren.
In der Bundesrepublik hingegen hatte man sich daran gewöhnt, das "Dritte Reich" als "Gewaltherrschaft" zu etikettieren und so ebenfalls die eigene Bevölkerung gewissermaßen zu entlasten. Denn selbst Schergen des Regimes konnten sich lange darauf berufen, nur Befehle ausgeführt, im "Befehlsnotstand" gehandelt zu haben. Die Masse der "kleinen Leute" nahm sich als Opfer wahr, die unter dem Nationalsozialismus und seinen Kriegsfolgen schwer gelitten hätten und deshalb für nichts verantwortlich seien.
An jener Lesart änderten auch die heftigen Attacken der antiautoritären 68er-Bewegung nicht viel. Ihre kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in eine globale Verurteilung der Vätergeneration, welche eine echte Auseinandersetzung dauerhaft blockierte. Mindestens ebenso steril und dogmatisch verlief die in der marxistischen Linken geführte Faschismus-Debatte, die schnell ins DDR-Fahrwasser abdriftete und gebetsmühlenartig den Zusammenhang ökonomischer Entwicklungen und politischer Strukturen beschwor.
Einen gänzlich neuen, bis dahin ungewohnten Ton schlug Ende der siebziger Jahre die vierteilige amerikanische TV-Serie "Holocaust" an. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, dass sie Geschichte intimisierte und emotionalisierte. Indem sie die Judenverfolgung und -vernichtung in Deutschland und den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas als Familiendrama inszenierte, konnten Zuschauer Empathie mit den Opfern empfinden und sich mit deren Leid identifizieren. Das bis dahin namenlose, lediglich in abstrakten Todeszahlen präsente Schicksal der jüdischen Bevölkerung bekam ein Gesicht; es wurde persönlich nachvollziehbar und damit erst "wirklich". Viele Menschen begannen damals, Kontakte zu jüdischen Überlebenden zu knüpfen und die lokale Geschichte auf jüdische Spuren hin zu durchforsten. Einladungen an Überlebende in den ehemaligen Heimatort folgten und führten zu vorsichtigen, oft herzlichen Annäherungen. Denkmalsprojekte, in welcher Form auch immer, begleiteten diesen Prozess der Wiederaneignung. Der Holocaust rückte auf diese Weise, verstärkt durch starke mediale Unterstützung, in den Mittelpunkt der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung. Die Geschichte des Nationalsozialismus war seit den achtziger Jahren über weite Strecken identisch mit der Geschichte der Judenvernichtung.
Annäherung an die und Empathie mit den jüdischen Opfern führten aber mittelfristig auch dazu, dass die Rolle der "normalen" Deutschen bei diesem Jahrhundertverbrechen zunehmend in den Blick geriet. Inwiefern hatte die nichtjüdische Bevölkerung mitgewirkt - durch Wegschauen, Denunziationen, Solidaritätsverweigerung? Und was war für diese kollektive Gleichgültigkeit verantwortlich gewesen? Solche Fragen tauchten etwa bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer auf, die 1996 erschienen und sich wider Erwarten blendend verkauften. Der jüdische Autor, der die NS-Zeit in Dresden mit knapper Not überlebt hatte, zeichnete ein bedrückendes Bild seines Überlebenskampfes. Er hatte es nicht nur mit brutalen Gestapo-Beamten zu tun, sondern auch mit gewissenlosen, bestenfalls lethargischen, oft offen feindseligen und grausamen Mitbürgern.
Noch radikaler stellte der amerikanische Historiker Daniel J. Goldhagen die Frage nach Schuld und Verantwortung. Sein zeitgleich mit Klemperers Tagebüchern veröffentlichtes Buch über "Hitlers willige Vollstrecker" nahm dezidiert von der Legende Abschied, es seien nur einige wenige gewesen, welche die Mordaktionen des NS-Regimes durchgeführt hätten. Goldhagen wies demgegenüber nach, dass die Zahl der Beteiligten ungleich größer war und, wie bereits Christopher Browning vor ihm festgestellt hatte, "ganz normale" Deutsche umfasste. Er argumentierte darüber hinaus, dass diese Männer ihre Mordtaten nicht unter Zwang, sondern zuweilen geradezu lustvoll begangen hätten, angetrieben von einem seit jeher in der deutschen Kultur verwurzelten "eliminatorischen Antisemitismus".
So sehr Goldhagens Buch von Fachhistorikern gerade wegen dieser eindimensionalen Beweisführung kritisiert wurde, so großer Zustimmung erfreute es sich bei seiner Leserschaft. Seine eingängige Botschaft - alle Deutschen waren 1933 Antisemiten und deshalb auch potentielle Täter - kam an: Sie lieferte nicht nur eine einfache Erklärung für den Holocaust, sie entlastete auch die Nachgeborenen. Denn nach 1945 war jener Antisemitismus, der sich mindestens zwei Jahrhunderte lang in der deutschen Mentalität eingenistet hatte, laut Goldhagen abrupt von der Bildfläche verschwunden. Diese These nahm, überspitzt gesagt, den Charakter eines Heilswissens an, das seinen Konsumenten - sofern sie nach 1945 geboren waren oder die NS-Zeit nur als Kinder durchlebt hatten - Absolution und Erlösung versprach.
Selbstverantwortung als zivilgesellschaftliche Forderung
Die einfachen Erklärungen Goldhagens trafen den Nerv einer Gesellschaft, die es zunehmend für nötig erachtete, in Kategorien sozialer Mündigkeit zu denken. Aus dieser Sicht hatte die Weigerung der NS-Generationen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, etwas Infantiles, Unerwachsenes, Unreifes an sich. Das Bild des Opfers und Getriebenen, das die meisten Deutschen nach 1945 von sich entworfen hatten, passte nicht mehr in eine Zeit, in der sich auch die Bundesrepublik selbstbewusst als Zivilgesellschaft definierte. In einer solchen Gesellschaft rangierten Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der Bürger an oberster Stelle. Man delegierte Verantwortung nicht an übergeordnete Stellen, sondern übte sie selber aus. Man zeigte Zivilcourage und trat für Bürger- und Menschenrechte ein.
Mit einem derart anspruchsvollen Selbstbild ausgestattet, befragten Bundesbürger der mittleren und jüngeren Jahrgänge nach 1989 nicht nur die DDR-Bürger kritisch auf ihre Mitwirkung an der "Zweiten Diktatur". Mindestens ebenso fragwürdig schien ihnen das Verhalten jener, die das "Dritte Reich" aktiv erlebt hatten und sich gleichwohl auf ihre Rolle als bloße Beobachter oder passiv Erleidende zurückzogen. Indem sie diese Lesart nicht mehr gelten ließen, sondern auf individuellen Handlungsoptionen und spielräumen beharrten, nahmen sie die ältere Generation gewissermaßen in die Pflicht, sich zumindest in der Erinnerung Rechenschaft abzulegen über eigenes Mittun und persönliche Verantwortung.
Besonders dramatisch kam diese Forderung in der Ausstellung über "Verbrechen der Wehrmacht" zum Ausdruck. Sie räumte mit einem der letzten Tabus der NS-Erinnerung auf, der Legende von der sauberen Wehrmacht. Diese Legende war zwar von der Geschichtswissenschaft längst als solche enttarnt; in der Bevölkerung jedoch und vor allem unter den ehemaligen Kriegsteilnehmern und ihren Angehörigen hielt sie sich weitgehend unangefochten. Millionen von Soldaten waren nach wie vor der Meinung, einen "normalen" Krieg geführt zu haben; wenn es Auswüchse und Grausamkeiten gegeben hatte, dann nur auf sowjetischer Seite oder als legitime Reaktion auf feindliche Übergriffe. Fünfzig Jahre nach Kriegsende machte die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung publik, dass dem nicht so gewesen war: Neben Dokumenten über den von Anfang an verbrecherischen Charakter des Ostkrieges zeigte sie Fotomaterial aus dem Besitz einfacher Soldaten, das diese als aktive Teilnehmer oder selbstzufriedene Chronisten der Verbrechen abbildete.
Diese These löste landauf, landab große Bestürzung und ebenso große Empörung aus. Viele Kriegsteilnehmer wiesen sie mit Verve von sich; manche reagierten nachdenklich und selbstkritisch. Wer an einer der überaus zahlreichen lokalen und zentralen Diskussionsveranstaltungen im Begleitprogramm der Wehrmachtsausstellung teilgenommen hat, wird die tiefe Erschütterung gespürt haben, welche die Ausstellung provozierte - in ihrer alten, angreifbaren ebenso wie in ihrer neuen, methodisch abgesicherten, aber in der Sache identischen Aussage. Auch diejenigen Soldaten, deren Einheiten nicht oder nicht unmittelbar an dem Vernichtungswerk beteiligt gewesen waren, mussten sich fragen lassen, wie sie unter anderen Umständen gehandelt hätten. Und niemand konnte mehr daran zweifeln, dass Menschen selbst dort, wo sie in einen Zwangsapparat wie das Militär eingespannt waren, über Handlungsspielräume verfügten, die sie je nach Zivilcourage und moralischer Ausstattung so oder so nutzen konnten.
In dieser ethisch-moralischen, zivilgesellschaftlichen Dimension lag die neue, aufrüttelnde Erkenntnis, welche die Wehrmachtsausstellung vermittelte und die sie zu einem zentralen geschichtspolitischen Ereignis erhob. Wie mit jener Erkenntnis umzugehen sei, war gleichwohl umstritten. In den öffentlichen, stark nachgefragten Gesprächen mit Zeitzeugen machte sich nicht selten eine moralisierende Tendenz breit, die bereits frühere Auseinandersetzungen polarisiert und gelähmt hatte. Wichtiger und ergiebiger war es demgegenüber, nicht nur "schlechtes" Verhalten zu rügen, sondern jene Institutionen zu überprüfen, die "gutes" Verhalten hätten einüben, stützen und honorieren können. Moralisch versagt, das wurde in den Debatten sehr deutlich, haben in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die Individuen, die sich bereitwillig oder gleichgültig, jedenfalls ohne Gewissensbisse in die Terrormaschinerie einbinden ließen; versagt haben auch ihre Familien, ihre Lehrer, Pfarrer, Richter, ihre Freundeskreise, ihr soziales und konfessionelles Milieu.
Diese Einsicht lässt sich auch aus der Entschädigungsdebatte gewinnen, die 1999 begann. Hier ging es um die millionenstarke Gruppe der Zwangsarbeiter, die in der Kriegszeit in der deutschen (Land)- wirtschaft eingesetzt waren. Sie hatten bislang, sofern sie aus Polen oder der Sowjetunion stammten, keinerlei Genugtuung für ihre meist miserabel entlohnte Arbeit und die demütigende Behandlung erhalten, die ihnen in Deutschland widerfahren war. In ihren Herkunftsländern oft verfemt und als "fünfte Kolonne" der Deutschen verdächtigt, waren sie auch von der deutsch-deutschen Nachkriegsöffentlichkeit kaum wahrgenommen worden, sieht man von einzelnen lokalen Initiativen einmal ab. Gerade sie aber erlebten durch den politischen Streit um die Entschädigung einen großen Aufwind. Die Zurückhaltung und Abwehr vieler Unternehmen, sich an der Finanzierung zu beteiligen, kontrastierte mit einer auffälligen Bereitschaft breiter Kreise, die noch lebenden Zwangsarbeiter materiell zu unterstützen und sich mit ihren leidvollen Erfahrungen auseinander zu setzen.
Letztere aber verweisen erneut auf das Problem der Mitwirkung und Mitverantwortung der Vielen. Wenn Briefe ehemaliger "Fremdarbeiter" fast zwanghaft von den wenigen Deutschen berichten, die ihnen freundlich gegenübertraten und ihnen das schwere Los durch kleine Gesten menschlicher Solidarität erleichterten, taucht sofort die Frage auf, warum sich denn die übergroße Mehrheit solchen Gesten verweigerte.
Die Rückkehr der Opfererinnerung: Flucht, Vertreibung, Bombenkrieg
Eine simple und simplifizierende Antwort ließ nicht auf sich warten: In einer Zeit, in der alle litten, fiel das Leid der anderen nicht besonders auf. Und außerdem habe man ja auch die Deutschen nach 1945 nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Man denke nur an das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und an das Schicksal deutscher Zwangsarbeiter, die 1945 für mehrere Jahre nach Sibirien, in den Ural oder ins Donezk-Becken verschleppt worden waren. Solche Entlastungsargumente, die man aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Genüge kannte, tauchen vermehrt in den jüngsten Erinnerungsdebatten auf. Wenn man sich die Initiativen und Diskussionen der vergangenen Jahre anschaut, kann man geradezu von einer Rückkehr, javon einem Rückschlag der deutschen Opfererinnerung sprechen.
Den Anfang machte Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang". Der über alle politischen Zweifel erhabene Autor und Literaturnobelpreisträger setzte der Schiffskatastrophe um die "Wilhelm Gustloff" Ende Januar 1945 - das mit Flüchtlingen aus den Ostgebieten überfüllte ehemalige "Kraft-durch-Freude"-Kreuzfahrtschiff wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt - ein literarisches Denkmal, verbunden mit einer scharfen Selbstanklage, das Thema des deutschen Leides bislang ausgespart und "rechtsgestrickten" Kreisen überantwortet zu haben. Kurz darauf folgte Jörg Friedrichs Buch "Der Brand", das sich mit dem Luftkrieg gegen Deutschland beschäftigte und ein eindringliches Bild der hunderttausendfachen Bombenopfer zeichnete.
Die erwähnten Bücher und Initiativen argumentieren explizit oder implizit damit, dass die von ihnen thematisierten Leidenserfahrungen in der bisherigen Diskussion um den Nationalsozialismus und seine Folgen unterbelichtet oder gar gänzlich ausgespart worden seien. Deshalb sei es höchste Zeit, auch sie zur Sprache zu bringen, um ein komplexes Panorama jener Jahre zu entwerfen und den Opfern Gerechtigkeit, sprich Empathie, Erinnerung und Anerkennung, widerfahren zu lassen.
Doch diese Argumentation ist nicht stimmig. Das beginnt mit der Behauptung, es gebe eine Erinnerungslücke, die zu füllen sei. Dass Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung bis dato keine Rolle in der deutsch-deutschen Erinnerungsgeschichte gespielt hätten, ist eine Legende, die dadurch nicht wahrer wird, dass sie ständig wiederholt und nachgebetet wird. In der DDR prangten an vielen Gebäuden mit Bombenschäden Gedenktafeln, welche die "angloamerikanischen Terrorbomber" namhaft machten und ihr kulturelles Zerstörungswerk anprangerten. Noch in den letzten Jahren des sozialistischen Staates schrieb der DDR-Historiker Olaf Groehler ein umfangreiches Buch über den "Bombenkrieg gegen Deutschland", das 1991 im angesehenen Akademie-Verlag erschien.
In der Bundesrepublik gab es eine Fülle lokal- und regionalgeschichtlicher Dokumentationen, Bildbände und Forschungsarbeiten, die sich mit den Flächenbombardements der Alliierten und den angerichteten Schäden beschäftigten. Freiburg, Hannover, Bremen, München, Münster, Aachen, Darmstadt, Celle, Bonn, Braunschweig und viele andere Städte samt Talsperren und Eisenbahnviadukte wurden als Angriffsziele der Bomberflotten ausführlich gewürdigt - nicht zu vergessen Berlin und selbstverständlich Dresden, das "deutsche Hiroshima".
Ähnlich steht es mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Bereits unmittelbar nach der Staatsgründung gab die Bundesregierung eine Forschungsarbeit in Auftrag, die das Leid der aus Ostmitteleuropa vertriebenen Deutschen dokumentieren und festhalten sollte. Als Weißbuch und Argumentationshilfe für zukünftige Friedensverhandlungen gedacht, erschien das fast ausschließlich auf Zeitzeugenberichten fußende mehrbändige Kompendium in den fünfziger und frühen sechziger Jahren; 1984 legte der Deutsche Taschenbuchverlag einen Nachdruck vor.
Allerdings führte die außergewöhnlich rasche gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge dazu, dass ihre leidvollen Erfahrungen zunehmend in den Hintergrund rückten und von den Erfolgsstories der Gegenwart überdeckt wurden. Das traf nicht nur auf diejenigen zu, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ihre Heimat hatten verlassen müssen, sondern schloss die ältere Generation mit ein. Von den politischen Schaukämpfen der Vertriebenenfunktionäre und ihren revisionistischen Neigungen fühlten sich nur noch wenige vertreten. Selbst wenn sie die "alte Heimat" nicht vergaßen und die Reiseerleichterungen seit den siebziger Jahren zu Besuchen nutzten, waren sie doch längst in der "neuen Heimat" angekommen.
Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach 1989 schien dieses Kapitel der eigenen Biographie auf wundersam versöhnliche Weise abgeschlossen: Die Reisen nach Osten wurden noch häufiger und intensiver, zugleich gestalteten sich die Begegnungen vor Ort offener, reflexiver und respektvoller. Nichts bezeugt die wechselseitige mentale Abrüstung deutlicher als die Tatsache, dass man zu Wroclaw wieder Breslau sagen kann, ohne automatisch als Revanchist beschimpft zu werden und ohne dass Einheimische den Verdacht hegen, hier sei eine neue Landnahme am Werk. In der Stadt gibt es Platz für viele Erinnerungen - auch für die der Deutschen und an die Deutschen.
Wider die Skandalisierung
Diesen Platz gilt es zu füllen - und die neueste Erinnerungsoffensive trägt dem Rechnung. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Spätfolge von Verdrängung und Respektlosigkeit, sondern Teil und vorläufiges Endprodukt jenes Gedächtnisbooms, der seit den achtziger Jahren zu beobachten ist. Sie folgt den spezifischen politischen Konjunkturen dieses Gedächtnisses, das sich zunächst mit den jüdischen Opfern beschäftigte, bevor es sich folgerichtig den Tätern und Mittätern zuwandte. Man muss nicht wie Wolf Jobst Siedler von einem "Exzess des Schuldbewusstseins" sprechen, um in den Erinnerungen an Bombentote, Flüchtlinge und Vertriebene einen neuen Pendelschlag zu erkennen.
Dennoch schießt die These von einer "Verschiebung der geschichtspolitischen Fundamente der Bundesrepublik" weit übers Ziel hinaus.
Erstens: An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig. Dass das Thema Vertreibung durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien eine in Europa unerwartete und deshalb besonders bedrückende Aktualität gewonnen hat, verleiht den Erfahrungen deutscher Vertriebener und Flüchtlinge zudem eine neue Dignität. Ebenso weckt die Bombardierung irakischer Städte durch amerikanische und britische Flugzeuge fast zwangsläufig Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.
Zweitens: Solche Erinnerungen politisch stillstellen oder unterdrücken zu wollen, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch kontraproduktiv. Gleichwohl müssen sie kritisch kommentiert werden. Erinnerungen sind vor allem dann, wenn sie öffentlich kommuniziert werden, keine bloß subjektiven Äußerungen mehr. Sie beziehen sich auch nicht nur auf Vergangenes, sondern haben ihren Ort in der Gegenwart und reflektieren auf zukünftige Ordnungen. Gerade das macht sie so bedeutungsvoll und kontrovers. Hinzu kommt, dass die Erinnerungen, um die es in der derzeitigen Debatte geht, in der Regel keine Primärerinnerungen mehr sind. Die meisten Menschen, die Bombenkrieg, Flucht oder Vertreibung bewusst erlebt und überlebt haben, leben heute nicht mehr. Erinnerungsträger wie Medien (Bücher, Film, Fernsehen) oder Institutionen (Vertriebenenverbände) treten an ihre Stelle. Gerade sie aber müssen sich fragen lassen, welche aktuellen und in die Zukunft projizierten Interessen sie verfolgen.
Aufrechnungen, Analogien, Vergleiche
Drittens: Die derzeitige Opferdiskussion steht unter dem Generalverdacht, dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll. Ein solcher Aufrechnungsmodus hat eine lange, unrühmliche Tradition, in allen politischen Lagern. Ging es in der Nachkriegszeit darum, das den Deutschen im Osten angetane Unrecht gegen mögliche Reparations- und Entschädigungsforderungen aus diesen Ländern zu wenden, neigte man auf der Linken dazu, die Leiderfahrungen der Deutschen als logische Folge des vom Nationalsozialismus verursachten Unrechts zu betrachten und damit gleichsam zu rechtfertigen. Beide Positionen instrumentalisierten die "Vertriebenen" bzw. "Umgesiedelten" für politische Zwecke; umso schlimmer, dass manche Vertriebenenfunktionäre dieses Spiel bedenkenlos mitspielten und die Polarisierung weiter anheizten. Damit aber muss nun endlich Schluss sein. Die politische Großwetterlage hat sich gravierend geändert und macht die Fortsetzung der alten Grabenkämpfe ebenso überflüssig wie lächerlich. Der psychologische Reflex, auf einen massiven Schuldvorwurf mit Entlastungsargumenten zu antworten und den eigenen Opferstatus hervorzukehren, sollte sich jedenfalls nicht noch einmal dauerhaft einschleifen und erinnerungspolitisch verfestigen.
Viertens: An dieser Stelle sind Historiker gefordert, die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Ohne die Leidenserfahrungen der Opfer zu schmälern oder abzuwerten, muss die Dynamik von Unrecht und Leid angemessen gewichtet werden. Immerhin war es das nationalsozialistische Deutschland, das mit der Vertreibung und Vernichtung ganzer Bevölkerungen begann. Ob jene Handlungskette in dem für Berlin projektierten Zentrum gegen Vertreibungen tatsächlich berücksichtigt wird, bleibt abzuwarten. Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren.
Dieser Kontext ist auch für eine Geschichte des Bombenkrieges notwendig, wie Jörg Friedrich sehr wohl weiß. Coventry und Rotterdam werden in seiner Darstellung nicht unterschlagen. Dennoch gleitet sie in historischen Relativismus ab. Viele Rezensenten haben darauf hingewiesen, wie suggestiv der Autor die Erfahrungen des Flächenbombardements an diejenigen der Gaskammern heranrückt. Indem er sich derselben Begrifflichkeit bedient (Holocaust, wörtlich "Brandopfer" vs. "Der Brand"), stellt er den alliierten Bombenkrieg auf die gleiche Stufe wie die Vernichtungsorgien der Nationalsozialisten. Damit aber hat er dem Gespann Hitler/Himmler nicht nur britische Verbrechenspartner (Churchill/Harris) beigesellt und den Deutschen die Einsamkeit der Schuld genommen. Er hat im gleichen Atemzug auch die NS-Verbrechen, speziell den Völkermord an den Juden, in ihrer Dimension eingeebnet und entdramatisiert. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ liegen jedoch Welten zwischen den alliierten Kriegszerstörungen deutscher Städte und der gezielten Vernichtung ganzer Völker aus "rassischen" Gründen.
Fünftens: Spätestens seit dem "Historikerstreit" Mitte der achtziger Jahre sind die Gefahren des Analogisierens sattsam bekannt. Geendet hat er nicht mit einem Verbot des analytischen Vergleichs, der nach wie vor zu den wichtigsten methodischen Instrumenten der Geschichtsforschung gehört und vor dem Nationalsozialismus keineswegs Halt macht. Warnschilder allerdings stellte er dort auf, wo es um implizite oder explizite Gleichsetzungen geht. In der politischen Debatte verfolgen sie gemeinhin den Zweck, ein Phänomen zu dramatisieren. Das trifft auf Friedrichs Buch ebenso zu wie auf die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der Ende 2002 in der Vermögenssteuerdebatte davon sprach, hier solle Menschen "eine neue Form von Stern" an die Brust geheftet werden. Auch der politisch folgenreiche Vergleich des amtierenden amerikanischen Präsidenten mit Hitler, den die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin im gleichen Jahr bemühte, verschrieb sich dieser Logik der Dramatisierung. Dass damit zugleich die Politik des Nationalsozialismus verharmlost wird, scheint vielen Politikern und Publizisten immer noch nicht klar geworden zu sein. Auch hier müssen Historiker stets von neuem Aufklärungsarbeit leisten.
Historisierung versus Moralisierung: auf der Suche nach europäischen Erinnerungsorten
Sechstens: Andererseits spricht die Tatsache, dass sich die Analogiebildung nach wie vor großer Beliebtheit erfreut und in der politischen Rhetorik ihren festen Platz behauptet, entschieden gegen die These, wonach der Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren historisiert worden sei und für die Berliner Republik keine Rolle mehr spiele. Diese These lässt nicht nur außer Acht, dass das Thema nach wie vor einen hohen Streit- und Aufmerksamkeitswert verbucht. Sie verkennt darüber hinaus, dass Historisierung nicht zwangsläufig Entaktualisierung bedeutet und schon gar nicht identisch ist mit Entproblematisierung. Den Aufstieg und die Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus aus der Zeit heraus zu erklären, ihn dabei mit anderen Regimen zu vergleichen, um seine Spezifik genauer ermessen zu können - all das ist keine Verharmlosung, Entschuldigung oder Relativierung.
Begreift man Historisierung als Gegenstrategie zur Moralisierung, springen ihre Vorzüge rasch ins Auge. Gehen moralisierende Argumentationen in der Regel von der a priori behaupteten Singularität des Nationalsozialismus aus und verleihen ihm einen dämonischen, der rationalen Analyse letztlich nicht zugänglichen Charakter, beharrt der historisierende Zugriff auf der prinzipiellen Erkennbarkeit seines Gegenstandes. Große Fragen - Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen so etwas? - werden kleingearbeitet, das Monströse in Handlungsketten zerlegt und damit nachvollziehbar. Es wird dadurch keineswegs weniger verwerflich und "abgründig" (Reinhart Koselleck), aber es verliert die Aura des Undurchdringlichen - eine Aura, die dem distanzierenden, kritischen Begreifen alles andere als zuträglich ist und den Nationalsozialismus als das ganz Andere, Fremde mumifiziert und abspaltet. Genau genommen läuft gerade die moralisierende Ausgrenzung darauf hinaus, die Gegenwart zu entlasten und in der vorgeblichen Sicherheit des Korrekten, Guten und Richtigen einzulullen.
Siebtens: Insofern tut Historisierung auch der politischen Debatte gut und stattet sie mit selbstkritischen Obertönen aus. Indem sie auf Kontextualisierungen beharrt, könnte sie auch den aktuellen Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen in sachlichere und zukunftsfähigere Bahnen leiten. Dazu gehört zum einen, die Dynamik von Ursache und Wirkung, die Kausalität, zu betonen und Täter- und Opfererinnerungen zu synchronisieren. Zum anderen fordert die historische Perspektive dezidiert dazu auf, die Vertreibungserfahrung zu europäisieren. Gerade die Erkenntnis, dass "ethnische Säuberungen", wie wir Vertreibung seit den Jugoslawien-Kriegen in den neunziger Jahren nennen, keine exklusive Leidenserfahrung der Deutschen nach 1945 gewesen sind, sondern die gesamte europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts durchziehen, ließe sich dafür nutzen, über gemeinsame europäische Erinnerungsorte nachzudenken. Das könnte Breslau/Wroc|law sein, aber auch Straßburg und Lemberg und andere Städte, die im Zentrum aufgezwungener Migrationen standen.
Das Projekt gemeinsamer europäischer Erinnerungsorte ist kompliziert und überaus voraussetzungsvoll, wie die scharfen Gegenreaktionen in den betroffenen Ländern zeigen. Vielleicht muss noch mehr Zeit vergehen, bis man solche Gemeinsamkeiten annehmen kann. Der beeindruckendste transnationale Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs, das Historial de la Grande Guerre in Péronne, ist erst siebzig Jahre nach dem Kriegsende entstanden. Dennoch sollte man daran arbeiten - und damit zugleich ein Stück gelebtes Europa realisieren, anstatt sich in der eigenen Nationalgeschichte einzuigeln und die Schlachten von gestern und vorgestern immer wieder neu zu schlagen.