Und was, wenn João da Nova einen anderen Kurs befohlen hätte? Wenn seine Schiffe nicht auf dieses schroffe Felsungetüm gestoßen wären, das sich so einsam, so unwirklich aus dem Südatlantik erhebt? Was, wenn St. Helena erst zwei oder drei Jahrhunderte später entdeckt worden wäre, wie manche Insel im Pazifik? Was hätte es für die Geschichte globaler Verflechtungen bedeutet, in der dieser Ort als Drehscheibe des Schiffsverkehrs, als ökologisches Laboratorium und als imperialstrategischer Achsenpunkt lange eine bedeutende Rolle spielen sollte?
St. Helena, rund 120 Quadratkilometer klein, ist einer der entlegensten bewohnten Orte der Erde. Bis Afrika sind es knapp 2.000 Kilometer, bis Südamerika mehr als 3.000. Selbst die nächstgelegene Insel, Ascension, liegt mehr als 1.000 Kilometer entfernt. Führt man sich vor Augen, dass der südatlantische Ozean viele Millionen Quadratkilometer umspannt und eine Insel bestenfalls aus 60 Kilometern Entfernung sichtbar ist, so erscheint es als Zufall von grotesker Unwahrscheinlichkeit, dass schon die dritte Expedition, die die portugiesische Krone um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien schickte, auf diesen Ort stieß.
Seit jenen Tagen von 1502 – das genaue Datum ist ungewiss –, bildete sich um die Insel ein Netz zunehmend global dimensionierter Beziehungen und Bedeutungen heraus, in deren Licht sich das Apodiktum des Historikers Jürgen Osterhammel, wonach St. Helena "erst durch den verbannten Napoleon eine historische Existenz" erhielt,
Oase im Ozean
Ähnlich wie mit dem Anbeginn der historischen Existenz eines Ortes verhält es sich mit dem Begriff seiner Entdeckung: Die dafür konstitutiven Annahmen sind abhängig von Paradigmen und Perspektiven. Für die Sichtung von St. Helena durch da Novas Expedition mag der Ausdruck insofern passen, als nach allem, was bekannt ist, tatsächlich nie zuvor Menschen auf der Insel gelebt oder sie per Schiff erreicht hatten.
Bis ins späte 16. Jahrhundert fanden sich fast ausschließlich portugiesische Schiffe vor St. Helena ein. Von einer Bucht im Nordwesten aus bunkerten sie Frischwasser und Früchte. Wie auch auf anderen Atlantikinseln setzten Seeleute Ziegen, Rinder, Schweine und Hühner aus, die sich frei vermehren und nachfolgenden Schiffsmannschaften als Fleischlieferanten dienen sollten. Anders aber als etwa auf Madeira oder São Tomé errichteten die Portugiesen keine Siedlungen. Gleichwohl blieben bei Zwischenhalten häufig Menschen zurück – desertierte Seeleute, ausgesetzte Kranke, geflohene Sklavinnen und Sklaven –, von denen manche sich einfache Häuser bauten.
Dadurch animiert, liefen ab den 1590er Jahren auch Handelsfahrer der übrigen expandierenden Mächte Europas St. Helena an. Englische und niederländische Kriegsschiffe ließen die Vulkanfelsen zur Kulisse mancher Seeschlachten werden; unweit der Küste lässt sich das Wrack der 1613 versenkten Witte Leeuw noch heute beim Tauchen beschauen. Den Machtkämpfen der Handelsimperien fiel auch die rudimentäre Siedlung zum Opfer. Ob nach deren Verwüstung im frühen 17. Jahrhundert noch Menschen auf der Insel lebten, ist fraglich. Die portugiesische Ostindienflotte, die unschwer auf Häfen an der West- und Ostküste Afrikas ausweichen konnte, mied St. Helena fortan. Auch Spanier fanden sich in Anbetracht der Gefahr von Hinterhalten kaum hier ein. Während die Pflanzungen nach und nach verkamen, vermehrten sich die angesiedelten Tiere in großer Zahl – auch Hunde, Katzen und Ratten waren mit Seeleuten zwischenzeitlich nach St. Helena gelangt. Gravierende ökologische Veränderungen verursachten vor allem die Ziegen, indem sie die Bodenvegetation von Wäldern abfraßen und so deren zyklische Verjüngung verhinderten. Obschon also die Insel in den 150 Jahren nach ihrer Entdeckung vom Handelsimperialismus zwischenzeitlich vergessen wurde, hinterließ der ökologische Imperialismus hier bereits tiefe Spuren.
Krone, Kompanie, Gouverneur
Blickt man vom Meer auf die Steilhänge, die St. Helena nach allen Seiten einfassen, wundert man sich über das lange Zögern der wachsenden Handelsimperien Europas, diese Insel als Seefestung an sich zu reißen. Der früheste Besitzanspruch, erhoben erst 1633 von der niederländischen Republik der Sieben Vereinigten Provinzen (ein Vorläufer des heutigen niederländischen Staates), blieb mangels Durchsetzung ohne Folgen. Erst 1659 endete die Herrenlosigkeit von St. Helena, als eine Flotte der "English East India Company" die Insel zu englischem Besitz erklärte. Unterbrochen nur von einer kurzzeitigen Besetzung durch die Niederländer Anfang der 1670er Jahre ist sie das bis heute.
Im Herrschaftsbereich der Kompanie, die ein Monopol für den Handel zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Magellanstraße sowie hoheitliche und militärische Befugnisse über ihre überseeischen Gebiete besaß, war St. Helena der nächstgelegene Kolonialbesitz zu ihrem wichtigen Handelsposten Bombay. Auf dem langen Seeweg von dort nach England kam der Insel zuvorderst die Funktion zu, die erschöpften Mannschaften der Ostindienflotte mit Proviant zu versorgen.
In einem Tal der Nordwestküste, das schon die Portugiesen genutzt hatten, errichteten die Engländer rasch Gebäude – zuvorderst ein Fort in Ufernähe, das auch als administratives Zentrum diente. An seinem Fuße entstand eine Siedlung mit Unterkünften und Warenlagern, die die Kompanie zu Ehren des Duke of York, dem späteren König James II., "Jamestown" nannte. Als Bedienstete für ihr Personal und die nur mühsam aus England gewonnenen Siedler und Siedlerinnen – im Jahr 1665 zusammen 30 Männer und 23 Frauen – verschleppte die Kompanie Sklaven und Sklavinnen hierher, zunächst wohl von der Ostküste Afrikas oder von Madagaskar.
Weil die Kompanie das englische Rechtssystem für einen insularen Mikrokosmos als ungeeignet erachtete, erließ sie 1681 eigene, an der Verwaltung von Bombay orientierte "Lawes and Constitutions". Viele Bestimmungen zielten auf die Erzwingung einer protestantischen Verhaltensmoral ab; unter Strafe standen beispielsweise Unreinlichkeit, Fluchen, Zügellosigkeit, Unzucht sowie als frevelhaft beurteilte Spiele wie Kegeln. Aufgrund der großen Distanz waren die Interventionsmöglichkeiten seitens der Kompanieführung jedoch eingeschränkt, und so genoss der jeweilige Gouverneur, den die Direktion zur politischen Steuerung entsandte, zumindest nominell einen hohen Gestaltungsspielraum – zumal er auch dem Gericht der Insel vorsaß.
Da sich aber die Siedlerbevölkerung mehrheitlich stärker mit der Krone als mit der Kompanie identifizierte und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der "Lawes and Constitutions" durchaus angebracht waren, galt es auf St. Helena zumindest unter Weißen weithin als lässlich, sich nicht an die Ordnung zu halten. Eine hedonistische Kultur bildete sich vor allem in Jamestown heraus. Tanz und Theater, Prostitution und Prügeleien, Musik und exzessives Trinken trugen dem Hafen unter Seeleuten bald den Ruf eines Freudenhauses im Südatlantik ein. Der Gerichtshof brachte einen erheblichen Teil seiner Sitzungen mit der Verhandlung von Ehebruch, Polygamie, Sodomie und weiteren Sexualdelikten zu. Obwohl Frauen für außereheliche Sexualität teils schwer bestraft wurden und ihnen selbst für "Faulheit" oder "Tratscherei" Auspeitschung und Wasserfolter drohten, verdingten sich nicht wenige als Prostituierte und befriedigten so die anhaltend hohe Nachfrage nach käuflichem Sex durch Seeleute und Soldaten.
Konflikt und Disziplinierung
Nicht zuletzt aufgrund dieser als Moralverfall gedeuteten Zustände erwog die Kompanie im frühen 18. Jahrhundert, St. Helena aufzugeben und die Bevölkerung nach Mauritius umzusiedeln. Indes trug sie durchaus selbst zu den von ihr beklagten Problemen bei, indem sie den Einfuhrhandel mit alkoholischen Getränken als potenzielle Einnahmequelle förderte.
Den größeren Anteil an der Entstehung einer alkoholexzessiven Kultur trugen jedoch Siedler und Soldaten. Im Zuge verschiedentlicher, durchweg gescheiterter Versuche, St. Helena durch den Anbau von Cash Crops in ein südatlantisches Barbados zu verwandeln, hatten sie sich Techniken der Destillation von Zuckerrohrmelasse und Kartoffeln angeeignet. Noch vor Weinbränden und Bier avancierte der daraus vor Ort gebrannte Arrak zur am weitesten verbreiteten Spirituose. Arrak destillierte man in so großen Mengen, dass die Obrigkeiten das dabei verfeuerte Holz bereits in den 1690er Jahren als maßgeblichen Faktor für die fortschreitende Entwaldung der vormals dicht mit endemischen Bäumen bewachsenen Insel identifizierten.
Jene Entwaldung hatte die Kompanie, die nach der Vereinigung von England und Schottland 1707 "British East India Company" hieß, mit ihren agrarwirtschaftlichen Experimenten anfangs selbst vorangetrieben. Neben Engpässen bei der Versorgung mit Feuerholz und Baumfrüchten führte das zu einer verhängnisvollen Bodenerosion. Ohne Baumschutz fielen die Feldpflanzen Wind und Sonnenstrahlung zum Opfer. Abgetragene Erde verschmutzte das Wasser der Flüsse, bei starkem Regen stürzten verheerende Fluten von den baumlosen Hängen. Um Hungersnöte abzuwenden und die Verfügbarkeit von Holz für Schiffsreparaturen sicherzustellen, ergriff die Kompanie bereits ab den 1670er Jahren Maßnahmen zum Schutz der verbliebenen Wälder – und beschwor damit Konflikte mit der Siedlerbevölkerung herauf, die ihr Vieh in Ermangelung von Alternativen dort weiden ließ.
Die wechselseitige Kumulation von ökologischen und sozialen Problemen setzte sich bis zu einer 1794 eingeleiteten Wiederaufforstung fort. In diesen mehr als einhundert Jahren beschäftigten Fragen des Schutzes von Holz- und Wasserressourcen die Regierung so beharrlich wie sonst nur die Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung. Die aus der Einsicht in den Nachhaltigkeitszwang einer insularen Agrarökonomie unternommenen Schritte – darunter das Einhegen von Waldgebieten und das systematische Abschießen von Ziegen – zählen zu den frühesten Naturschutzmaßnahmen der Geschichte. Als Blaupausen für Naturpolitiken und Umweltbewusstsein in anderen Weltregionen sind sie von hoher globalhistorischer Relevanz.
Ihre Herrschaft legitimierte die Kompanie aus dem Freibrief der Krone. Die anhaltenden Schwierigkeiten in der Steuerung kolonisierter Territorien resultierten nicht zuletzt aus den dadurch geöffneten Spannungsfeldern: Über Loyalitäts- und Subordinationsprobleme aufseiten der Siedlergesellschaft hinaus standen mitunter wirtschaftliche Interessen der Kompanie in Konflikt mit ihrer Funktion als verlängerter Arm britischer Politik und Kriegführung in Übersee.
Neben der Überlagerung normativer Imperative verlieh insbesondere die Präsenz afrikanischer Sklaven und Sklavinnen St. Helena den Charakter eines kolonialen Grenzraums. In Absenz einer indigenen Bevölkerung bildeten allein sie das ethnisch Andere der Siedlerbevölkerung. Die Grausamkeit, mit der die Obrigkeiten Sklaven und Sklavinnen zu disziplinieren suchten, erschütterte selbst weit herumgekommene Beobachter. Bereits der Versuch, Hand an einen Weißen anzulegen, wurde mit Kastration geahndet. Auf Frechheit stand Auspeitschung, auf Widersetzlichkeit Brandmarkung, auf Einbruch Hinrichtung. Weil es Sklaven und Sklavinnen zumindest bis 1786 ausnahmslos verboten war, vor Gericht gegen Weiße auszusagen, waren sie Misshandlungen, Vergewaltigungen oder auch falschen Beschuldigungen schutzlos ausgeliefert.
Putsch und Punsch
Wie in anderen Kolonien, in denen die versklavte Bevölkerung räumlich zerstreut lebte, kam es auf St. Helena nie zu einer größeren Sklavenerhebung. Die ernstere Bedrohung für die Kompanieherrschaft ging von den Soldaten aus, die der Monotonie ihres Alltags bevorzugt mit Arrak begegneten. Nach dem Beginn der englischen Kolonialkriegführung 1688 vergrößerte die Kompanie die hiesige Garnison nach und nach von 105 Männern im Jahr 1706 auf 1.250 im Jahr 1811.
Zu einer ersten Auflehnung aus Reihen des Militärs war es bereits Anfang 1674 gekommen. Durch einen Putsch ersetzte eine Soldatengruppe Gouverneur Richard Keigwin durch den Offizier Curd. Als im April ein Ostindienkonvoi eintraf, fanden die Kapitäne Curd in einem misslichen Zustand vor ("sehr betrunken, konnte kein Wort für sich selbst sagen, heulte bloß wie ein Kind") und hoben Keigwin wieder ins Amt.
Als in dieser Gemengelage um 1690 Nachrichten über die Revolution in England St. Helena erreichten, hatte ein Mangel an Lebensmitteln und Kleidung die Unzufriedenheit potenziert. Zunächst äußerte sich das in einer Zunahme von Fluchtversuchen und Aufstandsgerüchten; auch die Verbrennung eines der Zauberei beschuldigten Sklaven Anfang 1693 lässt sich als Ausdruck verschärfter Spannungen deuten.
Befeuert durch weitere Fälle von Gehorsamsverweigerung griff infolge der Jackson-Verschwörung eine Revolutionsangst in der Führungselite von St. Helena um sich. Ohne diesen Umstand ließe sich ihre heftige Reaktion auf ein Gerücht vom November 1694 wohl nicht erklären. Einer unverbürgten Beschuldigung der Sklavin Annah zufolge plante eine Gruppe von Sklaven, ihre Herren zu töten, das Fort zu besetzen und nach dem Vorbild der Meuterer um Jackson ein Schiff zu kapern. Noch in der Nacht, in der Gouverneur Richard Kelinge – der Nachfolger des bedauernswerten Johnson – davon erfuhr, ließ er alle Sklaven der Insel im Fort inhaftieren. Elf verängstigte, als Hauptverschwörer beschuldigte Männer madagassischer Herkunft gestanden vor einer eilends gebildeten Siedlerjury rundheraus alles, was man ihnen vorwarf, und wurden zum Tode verurteilt. Als Anführer bekannte sich der Sklave Jack. Zu seinen Plänen sei er durch Nachrichten über Sklavenerhebungen in anderen Weltteilen animiert worden, so bekundete er – und nahm dabei womöglich Bezug auf den Aufstand auf Jamaika von 1673.
Die in dieser Aussage aufscheinenden Bezüge zu Unruhen in anderen Weltteilen verdienen nähere Beachtung. Denn obwohl die Kolonialmächte genau das zu verhindern suchten, verbreiteten sich Nachrichten über Aufstände im Zeitalter der Revolutionen rasch bis in den entlegensten Winkel der atlantischen Welt. Dafür entscheidend war oft die mündliche Übermittlung von Wissen und Informationen durch subalterne, oft hoch mobile Akteure insbesondere in Hafenräumen.
Lange erachteten die Obrigkeiten die Punschkultur als förderungswürdig und verfügten Preisobergrenzen für Punsch, um Verteuerungstendenzen entgegenzuwirken. Schank- und Weiterverkaufslizenzen, wie sie die Regierung von den punchmen verlangte, dienten der Generierung von Einnahmen, nicht der Regulierung von Konsum. "Seltsamerweise hat in letzter Zeit exzessives Trinken von Arrak unter all den Leuten um sich gegriffen", wunderte sich 1713 die Kompaniedirektion in London. Ihr gegenüber rechtfertigte sich Gouverneur Pyke vier Jahre später, in Anbetracht der klimatischen Bedingungen sei der Konsum starker Alkoholika auf St. Helena unausbleiblich und auch durchaus ratsam.
Als Pyke diese Aussage traf, hatte die lange schon hohe Mortalität auf der Insel die exorbitante Rate von jährlich zehn Prozent erreicht. Einen Zusammenhang von Sterblichkeit und Trinkverhalten gestand die Regierung zwar ein – begründete ihn aber mit der schlechten Qualität des Trinkwassers.
Eine alkoholbedingt hohe Sterbe- und Krankheitsrate wie auch Gehorsamsverweigerung, Sexualdelikte und Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit Alkoholexzessen beschäftigten die Obrigkeiten in den nachfolgenden Dekaden beharrlich.
Am 27. Dezember versuchten 200 betrunkene Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, sich der Geschützbatterie oberhalb von Jamestown zu bemächtigen – sie hätte ihnen zur Kontrolle über die gesamte Stadt verholfen. Durch Zugeständnisse gelang es Corneille zunächst, die Männer zum Rückzug zu bewegen. Doch obwohl den Soldaten am 29. Dezember der Zugang zu den Punschhäusern wieder erlaubt wurde, unternahm die meuternde Gruppe am selben Tag einen weiteren Versuch, gewaltsam eine Kanonenstellung zu besetzen – diesmal die des Alarmhauses im Südosten von Jamestown. Um die Stellung entbrannte ein nächtliches Gefecht, das loyale Truppenteile für sich entscheiden konnten. Von den 99 Todesurteilen, die das Gericht in der Folge verhängte, wurden letztlich nur zehn vollstreckt. Corneille, der seine restriktive Linie nicht hatte durchsetzen können, verließ die Insel.
Zur Ruhe kam St. Helena nach der Weihnachtsmeuterei von 1783 nicht. Zu einer weiteren Rebellion sollte es jedoch erst 1811 kommen, als die Regierung nach langer Untätigkeit erneut gegen den exzessiven Alkoholkonsum vorging – motiviert durch einen weiterhin exorbitant hohen Stand alkoholbedingter Krankheits- und Todesfälle im Militär. Gouverneur Alexander Beatson verbot die Einfuhr von Rum, verteuerte weitere Alkoholika durch Handelsbeschränkungen, entzog Spirituosengeschäften die Lizenz und rationierte die Abgabe von Wein und Bier an Soldaten.
Das Zusammenfallen dieser Maßnahmen mit einem akuten Mangel an Brot und Reis war ihrer Popularität nicht eben förderlich: Am 22. Dezember prangte die von Unbekannten aufgemalte Botschaft "A hot dinner and a bloody supper" an der Kirche von Jamestown. In der Nacht auf Heiligabend machten sich 250 Soldaten des Infanteriekorps auf den Weg zur Sommerresidenz Beatsons, um ihn von der Insel zu jagen. Alarmiert durch vorausgegangene Warnungen hatte der Gouverneur allerdings 130 schwer bewaffnete Milizionäre im Haus und seiner Umgebung stationiert. Als die Meuterer bei Tagesanbruch deren überlegener Position gewahr wurden, gaben sie rasch auf. Gegen mutmaßliche Rädelsführer verhängte das Gericht zwölf Todesurteile, von denen sechs noch am ersten Weihnachtstag vollstreckt wurden.
Mentalitäten des Grenzraums
Der auf St. Helena beobachtbare Konnex zwischen einer kolonialen Grenzraumkonstellation, einer alkoholexzessiven Alltagskultur und einer vergleichsweise hohen Bereitschaft zu Gehorsamsverweigerung und Insurrektion verdient eine eingehendere Betrachtung, als sie an dieser Stelle geleistet werden kann. Die Bedeutung von Alkohol und anderen rauscherzeugenden Substanzen in Kolonialimperien ist bislang vor allem hinsichtlich der Produktion, Verbreitung und insbesondere der politischen Regulation untersucht worden.
In diesen Zusammenhängen betrachtet, verweisen die Vorgänge auf St. Helena auf die im Kern schon vom US-Historiker Frederick Jackson Turner aufgeworfene Frage, inwiefern Grenzräume distinktive Mentalitäten und Subjektivitäten herauszubilden vermochten.