Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Rausch und Rebellion im Südatlantik | Inseln | bpb.de

Inseln Editorial Laboratorien der ökologischen Moderne? Umwelt, Wissen und Geschichte (auf) der kleinen Insel Klimawandel auf Hallig Hooge: Wahrnehmungen, Maßnahmen, Kontroversen Vom Tal auf die Insel? Vom kalifornischen Liberalismus zur Sozialutopie Seasteading Rausch und Rebellion im Südatlantik. St. Helena und das Zeitalter der Revolutionen Kampf der Narrative. Inseln im Fokus geopolitischer Konflikte "Insularisches Denken" und das Problem der Kulturbegegnung. Eine xenologische Skizze Guam als Archipel? Einführung in die Island Studies Eine Welt für sich. Die Insel als literarischer und sprachlicher Grenz- und Denkraum John Donne: Meditation XVII

Rausch und Rebellion im Südatlantik St. Helena und das Zeitalter der Revolutionen

Felix Schürmann

/ 17 Minuten zu lesen

St. Helena ist einer der entlegensten bewohnten Orte der Erde. Trotzdem war die Insel seit ihrer Entdeckung Drehscheibe des Schiffsverkehrs, ökologisches Laboratorium und imperialstrategischer Achsenpunkt.

Und was, wenn João da Nova einen anderen Kurs befohlen hätte? Wenn seine Schiffe nicht auf dieses schroffe Felsungetüm gestoßen wären, das sich so einsam, so unwirklich aus dem Südatlantik erhebt? Was, wenn St. Helena erst zwei oder drei Jahrhunderte später entdeckt worden wäre, wie manche Insel im Pazifik? Was hätte es für die Geschichte globaler Verflechtungen bedeutet, in der dieser Ort als Drehscheibe des Schiffsverkehrs, als ökologisches Laboratorium und als imperialstrategischer Achsenpunkt lange eine bedeutende Rolle spielen sollte?

St. Helena, rund 120 Quadratkilometer klein, ist einer der entlegensten bewohnten Orte der Erde. Bis Afrika sind es knapp 2.000 Kilometer, bis Südamerika mehr als 3.000. Selbst die nächstgelegene Insel, Ascension, liegt mehr als 1.000 Kilometer entfernt. Führt man sich vor Augen, dass der südatlantische Ozean viele Millionen Quadratkilometer umspannt und eine Insel bestenfalls aus 60 Kilometern Entfernung sichtbar ist, so erscheint es als Zufall von grotesker Unwahrscheinlichkeit, dass schon die dritte Expedition, die die portugiesische Krone um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien schickte, auf diesen Ort stieß.

Seit jenen Tagen von 1502 – das genaue Datum ist ungewiss –, bildete sich um die Insel ein Netz zunehmend global dimensionierter Beziehungen und Bedeutungen heraus, in deren Licht sich das Apodiktum des Historikers Jürgen Osterhammel, wonach St. Helena "erst durch den verbannten Napoleon eine historische Existenz" erhielt, stark relativiert. In der nachfolgenden Skizze über die Geschichte der Insel von ihrer Entdeckung bis zum Vorabend der Ankunft des französischen Ex-Kaisers 1815 umreiße ich einige dieser Beziehungen und Bedeutungen, um auszuleuchten, zu welchen Einsichten in großräumige Verflechtungen ein dezentrierender Blick auf eine vermeintlich periphere Insel im globalen Süden verhelfen kann. Im Mittelpunkt steht das Zeitalter der atlantischen Revolutionen – hier verstanden in einem weiten Sinne als Zeitraum von der englischen Glorious Revolution 1688 bis zu den lateinamerikanischen und europäischen Revolutionen des frühen 19. Jahrhunderts –, in dem lokale, britisch-imperiale und atlantisch-weltregionale Entwicklungen auf St. Helena eine intime Verbindung eingehen sollten.

Oase im Ozean

Ähnlich wie mit dem Anbeginn der historischen Existenz eines Ortes verhält es sich mit dem Begriff seiner Entdeckung: Die dafür konstitutiven Annahmen sind abhängig von Paradigmen und Perspektiven. Für die Sichtung von St. Helena durch da Novas Expedition mag der Ausdruck insofern passen, als nach allem, was bekannt ist, tatsächlich nie zuvor Menschen auf der Insel gelebt oder sie per Schiff erreicht hatten. Aus portugiesischer Sicht prädestinierte die Lage der Insel auf der Route zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und den Kapverden sie zum Sammelpunkt für zersprengte Konvois, zur Raststätte für entkräftete Seeleute und zur Proviantstation. Auf dem Hinweg mussten gerade Rahsegler wie die portugiesischen Karacken, die nur wenig Höhe laufen konnten, im stetigen Südostpassat beträchtliche Umwege fahren, wollten sie St. Helena aufsuchen. Im Zeitalter der Segelschiffe sollte die Insel deshalb weit häufiger von Süden her angesteuert werden als von Norden.

Bis ins späte 16. Jahrhundert fanden sich fast ausschließlich portugiesische Schiffe vor St. Helena ein. Von einer Bucht im Nordwesten aus bunkerten sie Frischwasser und Früchte. Wie auch auf anderen Atlantikinseln setzten Seeleute Ziegen, Rinder, Schweine und Hühner aus, die sich frei vermehren und nachfolgenden Schiffsmannschaften als Fleischlieferanten dienen sollten. Anders aber als etwa auf Madeira oder São Tomé errichteten die Portugiesen keine Siedlungen. Gleichwohl blieben bei Zwischenhalten häufig Menschen zurück – desertierte Seeleute, ausgesetzte Kranke, geflohene Sklavinnen und Sklaven –, von denen manche sich einfache Häuser bauten. Jeweils temporär lebten außerdem Männer auf St. Helena, die bei Zwischenhalten zum Anpflanzen von Obstbäumen und Kräutern zurückgelassen wurden und mit dem nächsten Schiff weiterreisten. 1588 traf der englische Freibeuter Thomas Cavendish hier ein, als er mit seiner Desire die Welt umsegelte. Seine Visite erwies sich insofern als folgenreich, als der Bericht darüber die Existenz St. Helenas über das portugiesische Handelsimperium hinaus breiter bekannt machte. Noch größere Verbreitung fand ab 1595 ein in fünf Sprachen erschienenes Buch des holländischen Kaufmanns Jan Huygen van Linschoten, das die – bis dato teils geheim gehaltenen – Routen und Anlaufstationen der portugiesischen Seefahrt enthüllte.

Dadurch animiert, liefen ab den 1590er Jahren auch Handelsfahrer der übrigen expandierenden Mächte Europas St. Helena an. Englische und niederländische Kriegsschiffe ließen die Vulkanfelsen zur Kulisse mancher Seeschlachten werden; unweit der Küste lässt sich das Wrack der 1613 versenkten Witte Leeuw noch heute beim Tauchen beschauen. Den Machtkämpfen der Handelsimperien fiel auch die rudimentäre Siedlung zum Opfer. Ob nach deren Verwüstung im frühen 17. Jahrhundert noch Menschen auf der Insel lebten, ist fraglich. Die portugiesische Ostindienflotte, die unschwer auf Häfen an der West- und Ostküste Afrikas ausweichen konnte, mied St. Helena fortan. Auch Spanier fanden sich in Anbetracht der Gefahr von Hinterhalten kaum hier ein. Während die Pflanzungen nach und nach verkamen, vermehrten sich die angesiedelten Tiere in großer Zahl – auch Hunde, Katzen und Ratten waren mit Seeleuten zwischenzeitlich nach St. Helena gelangt. Gravierende ökologische Veränderungen verursachten vor allem die Ziegen, indem sie die Bodenvegetation von Wäldern abfraßen und so deren zyklische Verjüngung verhinderten. Obschon also die Insel in den 150 Jahren nach ihrer Entdeckung vom Handelsimperialismus zwischenzeitlich vergessen wurde, hinterließ der ökologische Imperialismus hier bereits tiefe Spuren.

Krone, Kompanie, Gouverneur

Blickt man vom Meer auf die Steilhänge, die St. Helena nach allen Seiten einfassen, wundert man sich über das lange Zögern der wachsenden Handelsimperien Europas, diese Insel als Seefestung an sich zu reißen. Der früheste Besitzanspruch, erhoben erst 1633 von der niederländischen Republik der Sieben Vereinigten Provinzen (ein Vorläufer des heutigen niederländischen Staates), blieb mangels Durchsetzung ohne Folgen. Erst 1659 endete die Herrenlosigkeit von St. Helena, als eine Flotte der "English East India Company" die Insel zu englischem Besitz erklärte. Unterbrochen nur von einer kurzzeitigen Besetzung durch die Niederländer Anfang der 1670er Jahre ist sie das bis heute.

Im Herrschaftsbereich der Kompanie, die ein Monopol für den Handel zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Magellanstraße sowie hoheitliche und militärische Befugnisse über ihre überseeischen Gebiete besaß, war St. Helena der nächstgelegene Kolonialbesitz zu ihrem wichtigen Handelsposten Bombay. Auf dem langen Seeweg von dort nach England kam der Insel zuvorderst die Funktion zu, die erschöpften Mannschaften der Ostindienflotte mit Proviant zu versorgen.

In einem Tal der Nordwestküste, das schon die Portugiesen genutzt hatten, errichteten die Engländer rasch Gebäude – zuvorderst ein Fort in Ufernähe, das auch als administratives Zentrum diente. An seinem Fuße entstand eine Siedlung mit Unterkünften und Warenlagern, die die Kompanie zu Ehren des Duke of York, dem späteren König James II., "Jamestown" nannte. Als Bedienstete für ihr Personal und die nur mühsam aus England gewonnenen Siedler und Siedlerinnen – im Jahr 1665 zusammen 30 Männer und 23 Frauen – verschleppte die Kompanie Sklaven und Sklavinnen hierher, zunächst wohl von der Ostküste Afrikas oder von Madagaskar. Zum Aufbau einer Landwirtschaft setzte sie vor allem auf Soldaten, denen sie nach dem Ausscheiden aus dem Militär ein bäuerliches Leben im Innern von St. Helena antrug. Auch sollte die gezielte Anwerbung lediger Frauen St. Helena für auswanderungswillige Engländer attraktiv machen. In den 1680er Jahren hatte sich die Bevölkerung auf schätzungsweise 500 Siedler und Siedlerinnen und 200 Sklaven und Sklavinnen vergrößert. Weil aber die landwirtschaftlichen Erträge weit hinter den Erwartungen zurückblieben – nicht zuletzt aufgrund der inzwischen immensen Rattenpopulation –, mussten eintreffende Schiffe die Insel ihrerseits mit Lebensmitteln versorgen. In den ersten Dekaden seiner Existenz erwies sich der zur Kolonie gewordene Versorgungsposten als maximal dysfunktional.

Weil die Kompanie das englische Rechtssystem für einen insularen Mikrokosmos als ungeeignet erachtete, erließ sie 1681 eigene, an der Verwaltung von Bombay orientierte "Lawes and Constitutions". Viele Bestimmungen zielten auf die Erzwingung einer protestantischen Verhaltensmoral ab; unter Strafe standen beispielsweise Unreinlichkeit, Fluchen, Zügellosigkeit, Unzucht sowie als frevelhaft beurteilte Spiele wie Kegeln. Aufgrund der großen Distanz waren die Interventionsmöglichkeiten seitens der Kompanieführung jedoch eingeschränkt, und so genoss der jeweilige Gouverneur, den die Direktion zur politischen Steuerung entsandte, zumindest nominell einen hohen Gestaltungsspielraum – zumal er auch dem Gericht der Insel vorsaß.

Da sich aber die Siedlerbevölkerung mehrheitlich stärker mit der Krone als mit der Kompanie identifizierte und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der "Lawes and Constitutions" durchaus angebracht waren, galt es auf St. Helena zumindest unter Weißen weithin als lässlich, sich nicht an die Ordnung zu halten. Eine hedonistische Kultur bildete sich vor allem in Jamestown heraus. Tanz und Theater, Prostitution und Prügeleien, Musik und exzessives Trinken trugen dem Hafen unter Seeleuten bald den Ruf eines Freudenhauses im Südatlantik ein. Der Gerichtshof brachte einen erheblichen Teil seiner Sitzungen mit der Verhandlung von Ehebruch, Polygamie, Sodomie und weiteren Sexualdelikten zu. Obwohl Frauen für außereheliche Sexualität teils schwer bestraft wurden und ihnen selbst für "Faulheit" oder "Tratscherei" Auspeitschung und Wasserfolter drohten, verdingten sich nicht wenige als Prostituierte und befriedigten so die anhaltend hohe Nachfrage nach käuflichem Sex durch Seeleute und Soldaten.

Konflikt und Disziplinierung

Nicht zuletzt aufgrund dieser als Moralverfall gedeuteten Zustände erwog die Kompanie im frühen 18. Jahrhundert, St. Helena aufzugeben und die Bevölkerung nach Mauritius umzusiedeln. Indes trug sie durchaus selbst zu den von ihr beklagten Problemen bei, indem sie den Einfuhrhandel mit alkoholischen Getränken als potenzielle Einnahmequelle förderte.

Den größeren Anteil an der Entstehung einer alkoholexzessiven Kultur trugen jedoch Siedler und Soldaten. Im Zuge verschiedentlicher, durchweg gescheiterter Versuche, St. Helena durch den Anbau von Cash Crops in ein südatlantisches Barbados zu verwandeln, hatten sie sich Techniken der Destillation von Zuckerrohrmelasse und Kartoffeln angeeignet. Noch vor Weinbränden und Bier avancierte der daraus vor Ort gebrannte Arrak zur am weitesten verbreiteten Spirituose. Arrak destillierte man in so großen Mengen, dass die Obrigkeiten das dabei verfeuerte Holz bereits in den 1690er Jahren als maßgeblichen Faktor für die fortschreitende Entwaldung der vormals dicht mit endemischen Bäumen bewachsenen Insel identifizierten.

Jene Entwaldung hatte die Kompanie, die nach der Vereinigung von England und Schottland 1707 "British East India Company" hieß, mit ihren agrarwirtschaftlichen Experimenten anfangs selbst vorangetrieben. Neben Engpässen bei der Versorgung mit Feuerholz und Baumfrüchten führte das zu einer verhängnisvollen Bodenerosion. Ohne Baumschutz fielen die Feldpflanzen Wind und Sonnenstrahlung zum Opfer. Abgetragene Erde verschmutzte das Wasser der Flüsse, bei starkem Regen stürzten verheerende Fluten von den baumlosen Hängen. Um Hungersnöte abzuwenden und die Verfügbarkeit von Holz für Schiffsreparaturen sicherzustellen, ergriff die Kompanie bereits ab den 1670er Jahren Maßnahmen zum Schutz der verbliebenen Wälder – und beschwor damit Konflikte mit der Siedlerbevölkerung herauf, die ihr Vieh in Ermangelung von Alternativen dort weiden ließ.

Die wechselseitige Kumulation von ökologischen und sozialen Problemen setzte sich bis zu einer 1794 eingeleiteten Wiederaufforstung fort. In diesen mehr als einhundert Jahren beschäftigten Fragen des Schutzes von Holz- und Wasserressourcen die Regierung so beharrlich wie sonst nur die Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung. Die aus der Einsicht in den Nachhaltigkeitszwang einer insularen Agrarökonomie unternommenen Schritte – darunter das Einhegen von Waldgebieten und das systematische Abschießen von Ziegen – zählen zu den frühesten Naturschutzmaßnahmen der Geschichte. Als Blaupausen für Naturpolitiken und Umweltbewusstsein in anderen Weltregionen sind sie von hoher globalhistorischer Relevanz.

Ihre Herrschaft legitimierte die Kompanie aus dem Freibrief der Krone. Die anhaltenden Schwierigkeiten in der Steuerung kolonisierter Territorien resultierten nicht zuletzt aus den dadurch geöffneten Spannungsfeldern: Über Loyalitäts- und Subordinationsprobleme aufseiten der Siedlergesellschaft hinaus standen mitunter wirtschaftliche Interessen der Kompanie in Konflikt mit ihrer Funktion als verlängerter Arm britischer Politik und Kriegführung in Übersee.

Neben der Überlagerung normativer Imperative verlieh insbesondere die Präsenz afrikanischer Sklaven und Sklavinnen St. Helena den Charakter eines kolonialen Grenzraums. In Absenz einer indigenen Bevölkerung bildeten allein sie das ethnisch Andere der Siedlerbevölkerung. Die Grausamkeit, mit der die Obrigkeiten Sklaven und Sklavinnen zu disziplinieren suchten, erschütterte selbst weit herumgekommene Beobachter. Bereits der Versuch, Hand an einen Weißen anzulegen, wurde mit Kastration geahndet. Auf Frechheit stand Auspeitschung, auf Widersetzlichkeit Brandmarkung, auf Einbruch Hinrichtung. Weil es Sklaven und Sklavinnen zumindest bis 1786 ausnahmslos verboten war, vor Gericht gegen Weiße auszusagen, waren sie Misshandlungen, Vergewaltigungen oder auch falschen Beschuldigungen schutzlos ausgeliefert.

Putsch und Punsch

Wie in anderen Kolonien, in denen die versklavte Bevölkerung räumlich zerstreut lebte, kam es auf St. Helena nie zu einer größeren Sklavenerhebung. Die ernstere Bedrohung für die Kompanieherrschaft ging von den Soldaten aus, die der Monotonie ihres Alltags bevorzugt mit Arrak begegneten. Nach dem Beginn der englischen Kolonialkriegführung 1688 vergrößerte die Kompanie die hiesige Garnison nach und nach von 105 Männern im Jahr 1706 auf 1.250 im Jahr 1811.

Zu einer ersten Auflehnung aus Reihen des Militärs war es bereits Anfang 1674 gekommen. Durch einen Putsch ersetzte eine Soldatengruppe Gouverneur Richard Keigwin durch den Offizier Curd. Als im April ein Ostindienkonvoi eintraf, fanden die Kapitäne Curd in einem misslichen Zustand vor ("sehr betrunken, konnte kein Wort für sich selbst sagen, heulte bloß wie ein Kind") und hoben Keigwin wieder ins Amt. Den Anlass für die nächste, weit folgenreichere Erhebung bildete im Oktober 1684 eine Verbannungsstrafe für einen Soldaten, der erklärt hatte, er sei Untertan der Krone, nicht der Kompanie. Eine Woche nach der Verhandlung griff eine Gruppe von rund 50 teils betrunkenen Soldaten und Siedlern das Fort an, um den Verurteilten zu befreien und die Regierung zu stürzen. Der Festungssturm zerschellte an der Gegenwehr der Wache. In der Folge verurteilte das Gericht neun Soldaten und 16 Siedler zu Todes-, Haft- und Verbannungsstrafen. Hartnäckige Proteste von Witwen der Exekutierten sollten die Kompanie noch über Jahre beschäftigen – und zeigen, dass die Insel durch die Urteile mitnichten zur Ruhe gekommen war.

Als in dieser Gemengelage um 1690 Nachrichten über die Revolution in England St. Helena erreichten, hatte ein Mangel an Lebensmitteln und Kleidung die Unzufriedenheit potenziert. Zunächst äußerte sich das in einer Zunahme von Fluchtversuchen und Aufstandsgerüchten; auch die Verbrennung eines der Zauberei beschuldigten Sklaven Anfang 1693 lässt sich als Ausdruck verschärfter Spannungen deuten. Als wenig später das Handelsschiff Francis and Mary vor Jamestown ankerte, verschworen sich 15 Soldaten unter Führung des Wachdienstoffiziers Henry Jackson zur gemeinschaftlichen Flucht. Einem minutiös ausgearbeiteten Plan folgend, erschossen sie in der Nacht auf den 22. April Gouverneur Joshua Johnson, besetzten das Fort und riegelten mit einem Dutzend spontan gewonnener Unterstützer die Stadt ab. Mit gefälschten Befehlen lockten sie leitende Kompaniebedienstete zum Fort und sperrten sie – als demütigende Geste, wie man annehmen darf – in den Sklavenkerker. Nachdem sie den Geldbestand geplündert und alle Kanonen vernagelt hatten, die ihnen hätten gefährlich werden können, kaperten sie das Schiff und segelten ins Morgenlicht. Vier der Meuterer befanden sich da noch an Land; das Gericht verurteilte sie zum Tod durch den Strang.

Befeuert durch weitere Fälle von Gehorsamsverweigerung griff infolge der Jackson-Verschwörung eine Revolutionsangst in der Führungselite von St. Helena um sich. Ohne diesen Umstand ließe sich ihre heftige Reaktion auf ein Gerücht vom November 1694 wohl nicht erklären. Einer unverbürgten Beschuldigung der Sklavin Annah zufolge plante eine Gruppe von Sklaven, ihre Herren zu töten, das Fort zu besetzen und nach dem Vorbild der Meuterer um Jackson ein Schiff zu kapern. Noch in der Nacht, in der Gouverneur Richard Kelinge – der Nachfolger des bedauernswerten Johnson – davon erfuhr, ließ er alle Sklaven der Insel im Fort inhaftieren. Elf verängstigte, als Hauptverschwörer beschuldigte Männer madagassischer Herkunft gestanden vor einer eilends gebildeten Siedlerjury rundheraus alles, was man ihnen vorwarf, und wurden zum Tode verurteilt. Als Anführer bekannte sich der Sklave Jack. Zu seinen Plänen sei er durch Nachrichten über Sklavenerhebungen in anderen Weltteilen animiert worden, so bekundete er – und nahm dabei womöglich Bezug auf den Aufstand auf Jamaika von 1673.

Die in dieser Aussage aufscheinenden Bezüge zu Unruhen in anderen Weltteilen verdienen nähere Beachtung. Denn obwohl die Kolonialmächte genau das zu verhindern suchten, verbreiteten sich Nachrichten über Aufstände im Zeitalter der Revolutionen rasch bis in den entlegensten Winkel der atlantischen Welt. Dafür entscheidend war oft die mündliche Übermittlung von Wissen und Informationen durch subalterne, oft hoch mobile Akteure insbesondere in Hafenräumen. Auf St. Helena bildeten die Punschhäuser von Jamestown den Nukleus dieser Kommunikation. In jenen Gaststätten mischte man Arrak oder auch Rum mit Wein, Zucker und Früchten zu hochprozentigen Punschen. Hier kamen Seeleute auf Landgang, Garnisons- und Marinesoldaten wie auch Prostituierte und Siedler ins Gespräch.

Lange erachteten die Obrigkeiten die Punschkultur als förderungswürdig und verfügten Preisobergrenzen für Punsch, um Verteuerungstendenzen entgegenzuwirken. Schank- und Weiterverkaufslizenzen, wie sie die Regierung von den punchmen verlangte, dienten der Generierung von Einnahmen, nicht der Regulierung von Konsum. "Seltsamerweise hat in letzter Zeit exzessives Trinken von Arrak unter all den Leuten um sich gegriffen", wunderte sich 1713 die Kompaniedirektion in London. Ihr gegenüber rechtfertigte sich Gouverneur Pyke vier Jahre später, in Anbetracht der klimatischen Bedingungen sei der Konsum starker Alkoholika auf St. Helena unausbleiblich und auch durchaus ratsam.

Als Pyke diese Aussage traf, hatte die lange schon hohe Mortalität auf der Insel die exorbitante Rate von jährlich zehn Prozent erreicht. Einen Zusammenhang von Sterblichkeit und Trinkverhalten gestand die Regierung zwar ein – begründete ihn aber mit der schlechten Qualität des Trinkwassers. Triftigere Hinweise zur Erklärung der enormen Sterblichkeit finden sich in den Aufzeichnungen über die Gerichtsverhandlungen jener Jahre, in denen sich die exzessive Trinkkultur von St. Helena beständig offenbart. In einer Verhandlung von 1723 etwa bekundete der Beschuldigte, täglich zwei bis dreieinhalb Liter hochprozentige Spirituosen zu trinken.

Eine alkoholbedingt hohe Sterbe- und Krankheitsrate wie auch Gehorsamsverweigerung, Sexualdelikte und Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit Alkoholexzessen beschäftigten die Obrigkeiten in den nachfolgenden Dekaden beharrlich. Ein neuerlicher Umsturzversuch ereignete sich allerdings erst im Nachklang der Amerikanischen Revolution – und folgte nicht zufällig auf einen Wandel der Alkoholpolitik der Regierung. Nach Fällen von Befehlsverweigerung und Desertion, Gerüchten um eine Sklavenverschwörung und Spekulationen über bevorstehende Ausschreitungen von Seeleuten und Soldaten untersagte Gouverneur Daniel Corneille Militärangehörigen 1783 den Zutritt zu den Punschhäusern. Alkoholische Getränke sollten Soldaten fortan allein in der kontrollierten Umgebung der Garnisonskantine erstehen dürfen – nur zu bestimmten Zeiten, in begrenzten Tagesrationen, ohne Räume für Trinkgelage. Über Weihnachten protestierten Soldaten gegen die Regelung, Corneille blieb unnachgiebig.

Am 27. Dezember versuchten 200 betrunkene Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, sich der Geschützbatterie oberhalb von Jamestown zu bemächtigen – sie hätte ihnen zur Kontrolle über die gesamte Stadt verholfen. Durch Zugeständnisse gelang es Corneille zunächst, die Männer zum Rückzug zu bewegen. Doch obwohl den Soldaten am 29. Dezember der Zugang zu den Punschhäusern wieder erlaubt wurde, unternahm die meuternde Gruppe am selben Tag einen weiteren Versuch, gewaltsam eine Kanonenstellung zu besetzen – diesmal die des Alarmhauses im Südosten von Jamestown. Um die Stellung entbrannte ein nächtliches Gefecht, das loyale Truppenteile für sich entscheiden konnten. Von den 99 Todesurteilen, die das Gericht in der Folge verhängte, wurden letztlich nur zehn vollstreckt. Corneille, der seine restriktive Linie nicht hatte durchsetzen können, verließ die Insel.

Zur Ruhe kam St. Helena nach der Weihnachtsmeuterei von 1783 nicht. Zu einer weiteren Rebellion sollte es jedoch erst 1811 kommen, als die Regierung nach langer Untätigkeit erneut gegen den exzessiven Alkoholkonsum vorging – motiviert durch einen weiterhin exorbitant hohen Stand alkoholbedingter Krankheits- und Todesfälle im Militär. Gouverneur Alexander Beatson verbot die Einfuhr von Rum, verteuerte weitere Alkoholika durch Handelsbeschränkungen, entzog Spirituosengeschäften die Lizenz und rationierte die Abgabe von Wein und Bier an Soldaten.

Das Zusammenfallen dieser Maßnahmen mit einem akuten Mangel an Brot und Reis war ihrer Popularität nicht eben förderlich: Am 22. Dezember prangte die von Unbekannten aufgemalte Botschaft "A hot dinner and a bloody supper" an der Kirche von Jamestown. In der Nacht auf Heiligabend machten sich 250 Soldaten des Infanteriekorps auf den Weg zur Sommerresidenz Beatsons, um ihn von der Insel zu jagen. Alarmiert durch vorausgegangene Warnungen hatte der Gouverneur allerdings 130 schwer bewaffnete Milizionäre im Haus und seiner Umgebung stationiert. Als die Meuterer bei Tagesanbruch deren überlegener Position gewahr wurden, gaben sie rasch auf. Gegen mutmaßliche Rädelsführer verhängte das Gericht zwölf Todesurteile, von denen sechs noch am ersten Weihnachtstag vollstreckt wurden.

Mentalitäten des Grenzraums

Der auf St. Helena beobachtbare Konnex zwischen einer kolonialen Grenzraumkonstellation, einer alkoholexzessiven Alltagskultur und einer vergleichsweise hohen Bereitschaft zu Gehorsamsverweigerung und Insurrektion verdient eine eingehendere Betrachtung, als sie an dieser Stelle geleistet werden kann. Die Bedeutung von Alkohol und anderen rauscherzeugenden Substanzen in Kolonialimperien ist bislang vor allem hinsichtlich der Produktion, Verbreitung und insbesondere der politischen Regulation untersucht worden. In ihren kultur-, mentalitäts- und gerade auch emotionsgeschichtlichen Dimensionen ist die Verbindung, die Rausch und Rebellion im Zeitalter der Revolutionen in vielen Teilen der atlantischen Welt eingingen, indes erst in Ansätzen beforscht. Diese Verbindung zu verstehen erfordert meines Erachtens einen erweiterten Begriff von Rausch, der Überschreitungsmomente im Befinden, Erfahren und Handeln historischer Akteure nicht allein im Zusammenhang von Substanzgebrauch zu erkennen sucht. So kennt die Forschung zur Geschichte siedlerkolonialer Frontier-Gesellschaften etwa in Südafrika und Australien auch erschütternde Phänomene kollektiven Gewaltrauschs, die in vergleichender Zusammenschau die Annahme bekräftigen, dass Grenzräume kolonialer Herrschaft spezifische Dispositionen für Grenzüberschreitungen hervorbrachten.

In diesen Zusammenhängen betrachtet, verweisen die Vorgänge auf St. Helena auf die im Kern schon vom US-Historiker Frederick Jackson Turner aufgeworfene Frage, inwiefern Grenzräume distinktive Mentalitäten und Subjektivitäten herauszubilden vermochten. Eine überzeugende Antwort darauf bedürfte freilich einer imperienübergreifenden Perspektive, die Rauschkulturen in zeitlich und weltregional verschiedenen Grenzraumkonstellationen in den Blick nimmt. Für ein solches Unterfangen kann sich ein insularer Kleinraum wie der von St. Helena, in dem sich in Anbetracht seines mikrokosmischen und laboratorischen Charakters zentrale Aspekte von Imperialität verdichtet studieren lassen, als tragfähiger Baustein erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München 2009, S. 213.

  2. Vgl. Harold Livermore, Santa Helena, A Forgotten Portuguese Discovery, in: Jorge Martins Ribeiro/Francisco Ribeiro da Silva/Helena Osswald (Hrsg.), Estudos em homenagem a Luís António de Oliveira Ramos, Porto 2004, S. 623–631.

  3. Vgl. Trevor W. Hearl, St Helena Britannica, London 2013, S. 63–75.

  4. Vgl. Philip Gosse, St. Helena, 1502–1938, London 1938, S. 4–11; Richard Grove, Green Imperialism, Cambridge 1995, S. 96.

  5. Vgl. Hearl (Anm. 3), S. 16f.

  6. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 22–36.

  7. Vgl. Stephen A. Royle, The Company’s Island, London 2007, S. 15–19.

  8. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 49f.; Royle (Anm. 7), S. 176.

  9. Vgl. ebd., S. 23–29, S. 73–83, S. 176.

  10. Vgl. ebd., S. 35–43, S. 56–65.

  11. Vgl. Kathleen Wilson, Rethinking the Colonial State: Family, Gender, and Governmentality in Eighteenth-Century British Frontiers, in: The American Historical Review 5/2011, S. 1294–1322, hier S. 1307–1312.

  12. Vgl. ebd., S. 1312; Royle (Anm. 7), S. 63.

  13. Vgl. ebd., S. 63; Grove (Anm. 4), S. 109.

  14. Vgl. ebd., S. 96–109.

  15. Vgl. ebd., S. 110–125.

  16. Vgl. Royle (Anm. 7), S. 103f.

  17. Vgl. ebd., S. 93–97; Wilson (Anm. 11), S. 1311.

  18. Vgl. Hudson R. Janisch, Extracts from the St. Helena Records, St. Helena 1885, S. 217; Royle (Anm. 7), S. 176.

  19. Vgl. Royle (Anm. 7), S. 113f. Englisches Originalzitat: "Very drunk could not say a word for himself but cryed like a child."

  20. Vgl. ebd., S. 114–122, S. 186; Janisch (Anm. 18), S. 89.

  21. Vgl. ebd., S. 51–53.

  22. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 105–108; Royle (Anm. 7), S. 122–125; St. Helena Government Archives (nachfolgend SHA), St. Helena Records 1693–1696, S. 1–9, S. 22–35.

  23. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 108f.; Janisch (Anm. 18), S. 59–61; Royle (Anm. 7), S. 97–99; SHA St. Helena Records 1693–1696, S. 237–260.

  24. Vgl. Peter Linebaugh/Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra, Boston 2000; Julius S. Scott, A Common Wind: Afro-American Organization in the Revolution against Slavery, London–New York 2018, i.E.

  25. Vgl. etwa Gosse (Anm. 4), S. 120.

  26. Vgl. ebd., S. 134f.; Janisch (Anm. 18), S. 37, S. 117, S. 120f., S. 144f. Englisches Originalzitat: "Excessive drinking of Arrack has grown upon all the people strangely of late."

  27. Vgl. Janisch (Anm. 18), S. 134.

  28. Vgl. ebd., S. 152, S. 167.

  29. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 196; Janisch (Anm. 18), S. 113, S. 152, S. 233.

  30. Vgl. SHA Letters to England 1785–1789, 20.01. und 3.7.1786.

  31. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 206–210; Janisch (Anm. 18), S. 202f.

  32. Vgl. Gosse (Anm. 4), S. 247–254; SHA St. Helena Records 1811–1812, 23.12. und 30.12.1811, 4.1.1812.

  33. Vgl. u.a. James H. Mills/Patricia Barton (Hrsg.), Drugs and Empires, Basingstoke 2007; Jessica R. Pliley/Robert Kramm/Harald Fischer-Tiné (Hrsg), Global Anti-Vice Activism, 1890–1950, Cambridge 2016.

  34. Vgl. u.a. Noelle Plack, Drinking and Rebelling: Wine, Taxes and Popular Agency in Revolutionary Paris, 1789–1791, in: French Historical Studies 3/2016, S. 599–622; Frederick H. Smith, Caribbean Rum, Gainesville 2005.

  35. Vgl. zuletzt Ulrike Jureit (Hrsg.), Umkämpfte Räume, Göttingen 2016.

  36. Vgl. Frederick Jackson Turner, The Frontier in American History, Madison 1894.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Felix Schürmann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Universalgeschichte am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. E-Mail Link: schuermann@ieg-mainz.de