Die historische Forschung hat kleinen Inseln traditionell wenig Beachtung geschenkt. Warum auch sollten sich Historiker_innen mit oft winzigen, von Wasser umgebenen und allem Anschein nach unwichtigen Landflecken beschäftigen, erst recht, wenn sich diese auch noch am "Rande der Welt" befinden? Geschichte wird, wie der Historiker John Gillis hervorgehoben hat, an Land gemacht und von einer kontinentalen Perspektive aus geschrieben.
Was genau unter "kleinen" Inseln verstanden wird, variiert in der Forschung und in der aktuellen Diskussion. Grundsätzlich unterscheidet die Geografie aber zwischen kontinentalen Inseln wie Australien, die eher die geomorphologischen Charakteristika eines Festlandes aufweisen, und ozeanischen, meist viel kleineren Inseln, die auf seismische oder vulkanische Aktivitäten zurückgehen.
In materieller Hinsicht sind kleine Inseln oft flüchtiger und vergänglicher als große Landmassen, die sich stärker durch Kontinuität und Stabilität auszeichnen. Kleine Inseln sind, ähnlich wie Küstenstreifen, tektonischen, vulkanischen, klimatischen, biologischen und auch anthropogenen Prozessen oft in viel stärkerem Maße ausgesetzt als Kontinente. Sie ändern ihre Form mit jedem Hochwasser und bei jedem Sturm, bei Seebeben und Vulkanausbrüchen. Sie können in (nicht nur geologisch) kurzer Zeit entstehen, sich erheben und vergrößern, Teile abspalten oder ganz untergehen.
Das Bild der kleinen Insel in westlichen Diskursen ist ambivalent. Einerseits wurden solche Orte als (tropisches) Paradies dargestellt, eine Welt des Überflusses, die ein sorgloses Leben ermöglicht. Auf der anderen Seite galten kleine Inseln aber auch als Inbegriff der Abgeschiedenheit, der Isolation, auch der Gefangenschaft und des Ressourcenmangels, als gefährlicher und gefährdeter Ort. In kultureller Hinsicht stellten kleine Inseln daher immer wieder eine Bühne für utopische und dystopische Inszenierungen dar: von Paul Gauguins Südseegemälden über William Goldings Roman "Herr der Fliegen" bis zu popkulturellen Varianten wie der US-Fernsehserie "Lost" oder dem Hollywood-Film "Castaway". Mit der Robinsonade erhielt die kleine Insel sogar ihr eigenes Genre.
Aufgrund ihrer Fragilität waren und sind kleine Inseln auch ein beliebter Schauplatz für Endzeiterzählungen, wie sie sich etwa im Mythos um Atlantis, in den tradierten Geschichten um die sagenumwobene Stadt Rungholt in der Nordsee, aber auch in gegenwärtigen Szenarien für Inseln wiederfinden, die eventuell dem Meeresspiegelanstieg zum Opfer fallen. Für den tropischen Pazifik hat der Meeresarchäologe und Geograf Patrick Nunn eindrucksvoll gezeigt, wie diese Untergangsmythologie auch als sozio-historische Verarbeitung tatsächlicher Entwicklungen betrachtet werden kann, wie also kulturelle Repräsentation und materielle Dimensionen kleiner Inseln wieder zusammenfinden.
Inseln als Labor
Aus wissenschaftlicher Perspektive wurden kleine Inseln vor allem seit dem 19. Jahrhundert immer interessanter, weil hier, so schien es, unter Laborbedingungen Forschung betrieben werden konnte. Forscher_innen aus den verschiedensten Disziplinen waren der Überzeugung, dass dort sowohl die natürliche Umwelt als auch menschliche Gesellschaften gewissermaßen in Reinform beobachtet werden konnten, ohne störende äußere Einflüsse.
Mit zunehmender Einbindung in die Weltmärkte und Verschiebungen im kolonialen Gefüge nach dem Zweiten Weltkrieg galten Inseln aber auch als Orte, an denen westlicher Einfluss und der daraus resultierende gesellschaftliche Wandel im Zeitraffer beobachtet und systematisch studiert werden konnte. Im Pazifik sollte die US-amerikanische Inselforschung auch dazu dienen, Wissen für die Errichtung einer stabilen Nachkriegsordnung zu generieren. Aus diesem Grund unterstützte die US-amerikanische Marine, die die mikronesischen Inseln nach Kriegsende zunächst verwaltete, die bis dahin größte Forschungsinitiative der US-amerikanischen Anthropologie. Im Rahmen der Coordinated Investigation of Micronesian Anthropology wurden 1947 und 1948 insgesamt 41 Wissenschaftler_innen aus den Bereichen Kulturanthropologie, Geografie, Linguistik, Medizin, Botanik, aber auch aus den Sozial- und Kulturwissenschaften auf die Inseln entsandt.
Unrühmlicher Höhepunkt und Pervertierung der wissenschaftlichen "Nutzung" und Erforschung kleiner Inseln waren jedoch ohne Zweifel die Atomtests, die die Vereinigten Staaten bis 1962 und Frankreich bis 1996 im Pazifik durchführten. Durch diese Tests wurden etliche Inseln regelrecht pulverisiert, und die gesundheitlichen Folgen belasten die Inselbewohner_innen noch heute. Die Inselmetapher der Isolation wurde dabei von der US-amerikanischen Atomic Energy Commission bewusst evoziert, um die Testreihen in den Marshallinseln moralisch zu legitimieren. Bilder und Videoaufnahmen aus der Vogelperspektive betonten die Abgelegenheit der Atolle, während der Verweis auf dort durchgeführte Ökosystemstudien das Bild eines in sich geschlossenen Systems transportierte.
Der "Fluch" der Insel
Waren diese Charakteristika methodisch erwünscht, so wurden sie in der konkreten wissenschaftlichen Auseinandersetzung gleichzeitig als gravierendes Problem für Inselgesellschaften beschrieben. Die Beschränkungen in Bezug auf Landmasse, Ressourcen, Bevölkerung und letztlich auch politische Macht führten dazu, dass lange Zeit vor allem die negativen Aspekte des Inseldaseins in den Blick genommen wurden.
Der andere Aspekt, der kleine Inseln für die Biologie und Geografie so interessant machte, war der Einfluss von invasiven Arten. Denn war die Isolation der Insel erst durchbrochen, indem es bestimmten Pflanzen, Tieren und vor allem Menschen gelang, die Wasserbarriere zu überwinden, dann tendierten kleine Inseln sehr schnell dazu, aus dem ökologischen Gleichgewicht zu geraten. Insbesondere das Aussterben von Arten wie dem Dodo auf Mauritius ließ sich auf kleinen Inseln sehr gut studieren. Systematisiert wurden die Arbeiten über den Zusammenhang von Evolution, Größe und Isolation eines Habitats erst in den 1960er Jahren, als die Biogeografie, also die Wissenschaft von der Verteilung und Ausbreitung von Pflanzen und Tieren, die Bedeutung kleiner Inseln erkannte.
In der Folgezeit wurden biogeografische Forschungen über Inseln auch deshalb immer bedeutender, weil viele Habitate auf großen Landmassen immer inselartiger wurden. Durch den Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Kanälen, die Trockenlegung von Feuchtgebieten, durch Zersiedelung der Landschaft, generell durch die Logik von Industrialisierung und Urbanisierung und eine immer größere Anzahl von Menschen wurden Biotope zerteilt, abgespalten, verkleinert und oft ganz zerstört. Was übrig blieb, hatte oft den Charakter einer kleinen Insel und konnte mit den Methoden der Inselbiogeografie untersucht werden. Auch konnten Institutionen und Organisationen, die Naturschutzgebiete anlegen und erhalten wollten, von kleinen Inseln lernen.
Umwelt, Insel und Gesellschaft
Schon früh wurde der Zusammenhang zwischen (mangelnder) Inselgröße und biologischer "Verarmung" auch auf menschliche Gesellschaften übertragen und führte zu umweltdeterministischen und sozialdarwinistischen Entwürfen. So konstatierte etwa Ellen Semple, die stark von dem deutschen Zoologen, Geografen und Wegbereiter geopolitischen Denkens Friedrich Ratzel beeinflusst war, dass die Bewohner der Kanaren im Vergleich zu den Menschen auf dem Festland Nordfrikas "unterentwickelt" seien.
Ähnliche Ideen bildeten auch das Grundgerüst der Kulturökologie, die sich in den 1960er Jahren in den USA entwickelte und bei deren theoretischen Weiterentwicklung Inseln eine große Rolle spielten. So wurde etwa der Einfluss von lokal verfügbaren Nahrungsmitteln auf die kulturelle Ausgestaltung einer Gesellschaft in den Blick genommen,
Inseln als Orte der Resilienz
In der jüngeren Vergangenheit wurden aber mehr und mehr Stimmen laut, die darauf verwiesen, dass Inselgesellschaften keineswegs unter dem vermeintlichen Fluch der limitierten Möglichkeiten litten und von den lokalen Umweltbedingungen in eine bestimmte Form gegossen wurden. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass sich diese Gesellschaften durch ein erstaunlich hohes Maß an Resilienz und Innovationskraft auszeichnen – sowohl in Bezug auf die Dauerhaftigkeit der Besiedelung als auch mit Blick auf die Auseinandersetzung mit Naturgefahren und Ressourcenproblemen.
Verschiedene Disziplinen wie etwa die Geografie, die Ethnologie oder die Geschichtswissenschaft haben herausgearbeitet, wie die Inselbewohner_innen gerade im vermeintlich so anfälligen pazifischen Raum über mehrere Jahrhunderte, zum Teil über Jahrtausende, Mechanismen und Verhaltensweisen entwickelt haben, die ein großes Maß an Widerstandsfähigkeit aufweisen. Durch den Anbau und die Nutzung einer Reihe von Pflanzen, die in unterschiedlicher Weise von Naturgefahren wie Dürren oder Stürmen gefährdet waren, und durch die Aufsplittung von Anbaugebieten auf verschiedene Inseln konnten Abhängigkeiten und Anfälligkeiten minimiert werden. Dazu trug auch der Anbau von famine foods bei, also Nahrungsmitteln, die in normalen Situationen nicht konsumiert werden würden, etwa weil sie nicht besonders schmackhaft waren, im Notfall aber wertvolle Dienste leisteten.
Solche lokalen und regionalen Bewältigungspraktiken wurden vielerorts durch Kolonialismus, Imperialismus, Entwicklungspolitik und Globalisierung verdrängt und durch "moderne" Methoden ersetzt, sodass die Anfälligkeit gegenüber Umweltveränderungen und natürlichen Extremereignissen zunahm. So verdrängten cash crops und importierte Lebensmittel zunehmend lokal produzierte Lebensmittel.
Naturkatastrophen boten oft auch eine willkommene Gelegenheit, Interessen der Kolonialmächte durchzusetzen. So nutzte die deutsche Kolonialverwaltung in Mikronesien zwischen 1905 und 1907 eine Reihe an starken Taifunen, um Inselbewohner_innen unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe an jene Orte umzusiedeln, die den Evakuierten zugleich Arbeit auf den Plantagen der deutschen Handelsgesellschaften "ermöglichte".
Auf der anderen Seite hat ausgerechnet die koloniale Ausbeutung von Inseln zum ersten Mal überhaupt zu einer Art von Umweltbewusstsein geführt: Gerade auf kleinen Inseln wie St. Helena, Madeira, den Kanaren oder in der Karibik hatten die Kolonialmächte schon im 17. und 18. Jahrhundert mit zum großen Teil selbst verursachten Problemen wie Abholzung oder Bodenerosion zu tun. Diese Umweltprobleme gefährdeten nicht nur die Kolonien selbst, sondern indirekt auch die imperialen Verbindungen, etwa nach Indien, für die die Inseln wichtige Knotenpunkte darstellten. Aus diesem Grund wurden Inseln wie St. Helena im Atlantik und Mauritius im Indischen Ozean zu Pionieren eines schonenderen und langfristiger geplanten Umgangs mit Ressourcen.
Die Erde als Insel
Mit dem menschengemachten Klimawandel sind Inselgesellschaften vollends von der Peripherie in das Zentrum der wissenschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit gerückt, allerdings erneut mit dem Fokus auf Vulnerabilität und als Laboratorien für gegenwärtige und zukünftige Umweltprobleme. Auf kleinstem Raum, so scheint es wieder, kann analysiert und durchgespielt werden, was letztlich großen Teilen der Welt droht: Anstieg des Meeresspiegels, Erosion und Überschwemmungen mit der Folge von Landverlusten, Versalzung, "Klimaflucht" etc. Inselstaaten wie die Malediven, Kiribati und Tuvalu sind so zum "Aushängeschild" des Klimawandels geworden.
Die Popularität der Inselanalyse als Parabel für größere ökologische Erzählungen wurde gewissermaßen durch die Globalisierung der Umweltprobleme seit etwa den 1970er Jahren vorbereitet. Zu dieser Zeit gewannen Diskurse über die Endlichkeit der in rapidem Tempo ausgebeuteten Ressourcen und die Konsequenzen der "Bevölkerungsexplosion" enorm an Bedeutung, verstärkt auch durch ikonische Aufnahmen aus dem Weltall, die der Menschheit erstmals den Planeten in seiner Gesamtheit zeigten. Das "Raumschiff Erde" erschien wie ein inselartiges Biotop inmitten der Weiten des Universums.
Inseln als Akteure
Bei aller Brisanz und Relevanz der durch den Klimawandel verursachten Probleme für kleine Inseln ist es doch erstaunlich, in welchem Ausmaß Vorstellungen vom "Fluch der Insel" in gegenwärtigen Debatten reproduziert und wissenschaftlich untermauert wurden. Mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change hat gerade die Institution, der im Diskurs um den globalen Klimawandel höchste Autorität zugesprochen wird, diese kontinentale Perspektive aufgegriffen und Inselgesellschaften als hilflose "Opfer" des Klimawandels dargestellt.
Bei kleinen Inseln im Allgemeinen und bei den Inseln im Pazifik insbesondere handelt es sich in der Regel nicht um isolierte Miniaturgesellschaften, sondern um Inselgruppen und Inselstaaten, die auf vielfache Weise untereinander und mit der "Außenwelt" vernetzt sind. So ermöglichen die ehemaligen kolonialen Verwaltungen vielen Inselbewohner_innen heute Zugang zu Bildung, einem Gesundheitswesen und Arbeitsmöglichkeiten. Überweisungen von in die ehemaligen Kolonialstaaten ausgewanderten Angehörigen können fehlende Einkommensquellen auf den Inseln substituieren.
Auch werden die pazifischen Stimmen von Wissenschaftler_innen und Künstler_innen immer lauter, die für eine Abkehr von der kolonial-kontinentalen Geografie- und Geschichtsschreibung und für ein maritim-ozeanisches Raumverständnis plädieren. Die Forderung des mittlerweile verstorbenen pazifischen Gelehrten Epeli Hau’ofa, nicht länger von "islands in a far sea", sondern vielmehr von "a sea of islands" zu sprechen,
In politischer und ökonomischer Hinsicht haben es einige der kleinen Inselstaaten geschickt verstanden, die Aufmerksamkeitsökonomie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.