Informalität als Schlüsselkategorie der Koalitions- und Parlamentsforschung
Formale Institutionen wie Gesetze oder Verfassungsorgane bilden die Realität des Regierens nur unvollständig ab. In allen politischen Systemen pflegen sich informale Regeln einzuspielen, welche diese nicht nur ergänzen und miteinander verknüpfen, sondern auch definieren, wie die Macht unter den Akteuren realiter verteilt ist. Informales Regieren kann auf der Grundlage soziologischer Theorien einerseits als Ausdruck verinnerlichter, habitualisierter Rollen der politischen Akteure und ihrer Sozialisation interpretiert werden. Aus neoinstitutionalistischer Sicht
Gerade wenn ein Regierungssystem wie das deutsche stark fragmentiert ist und somit unterschiedliche Handlungsebenen - z.B. innerparteiliche und föderale Konflikte, Koalitionskompromisse und die Willensbildung in der Fraktion oder in europäischen Institutionen - ausbalanciert und miteinander verbunden werden müssen, bilden sich mehr oder weniger regelhafte, in vielen Fällen aber nicht rechtlich verfasste und daher anpassungsfähige Entscheidungs- und Handlungsmuster aus; diese verdichten sich wiederum selbst zu normativen Verhaltenserwartungen. Dies trifft insbesondere auf Koalitionen zu, die zur Konsensbildung eine ganze Reihe solcher Handlungsebenen berücksichtigen müssen. In Regierungsbündnissen sind zudem verhandlungsdemokratische Verfahren eingebaut: Diese setzen informelle Absprachen voraus; sie gehen einher mit Prozessen politischen Tauschs und wenig transparenten Entscheidungsverläufen, von denen die Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen ist.
Informales Regieren in Koalitionen erfordert "Verhandlungsführungen" und Vorentscheider bzw. "Grenzstellenakteure", welche die wichtigsten Handlungsebenen einander zuordnen. So gilt es beispielsweise Kompromisse, die in Koalitionsrunden erzielt werden, innerparteilich und in die Fraktion hinein zu vermitteln. Damit drohen aber Einflusspotential und Autorität aus den formalen Institutionen, insbesondere aus den Parlamenten, auf wenige zentrale Spieler verlagert zu werden.
Um wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Akteuren deuten zu können, wird in der Parlamentarismusforschung mittlerweile häufig auf so genannte "Principal-Agent-Theorien" zurückgegriffen, die ökonomischen Handlungsmodellen entlehnt sind; demnach verfolgen die an einem Delegationsverhältnis beteiligten Akteure ihre Eigeninteressen. Diesen Theorien zufolge sind die Chancen zur Informationsgewinnung zwischen dem "Prinzipal" - in unserem Falle den regierungstragenden Fraktionen - und dem "Agenten" - der Regierung und den Fraktionsführungen - asymmetrisch verteilt.
Informale Regeln sind - empirisch gesehen - aus keinem politischen System wegzudenken. Sie werden normativ jedoch unterschiedlich bewertet. In steuerungstheoretischer Perspektive sorgen sie für die erforderliche Flexibilität im Regierungssystem, Vertreter verfassungsrechtlich-normativer Ansätze betrachten sie jedoch oft skeptisch: Entscheidungsprozesse würden intransparent, die Verantwortlichkeiten ließen sich nicht mehr eindeutig zuordnen und die formalen Institutionen würden über Gebühr abgewertet - so lauten die gängigsten Monita. Insbesondere die Parlamente seien die Verlierer der informalen Regierungspraxis, da sie nurmehr ex post - nachdem Vorentscheidungen unter exekutiver Führerschaft fast unverrückbar ausgehandelt worden seien - als ratifizierende Instanzen auf den Plan träten. Damit würden aber gerade die einzigen Institutionen, welche in Deutschland der Volkssouveränität Ausdruck verleihen, in demokratietheoretisch bedenklicher Weise abgewertet.
Informale Regierungspraktiken können formale Institutionen stützen und "verkitten". Problematisch werden sie, wenn sie das Institutionengefüge zu unterwandern beginnen oder wenn politische Akteure Parallelstrukturen ausbilden, ihr Handeln sich damit nicht mehr durch formale Institutionen legitimieren lässt oder gar der Rechtsförmigkeit entbehrt. Die Grenzlinie zu fragwürdigen Mustern von Informalität ist oft nur schwer auszumachen und wird von den verschiedenen wissenschaftlichen Denkschulen unterschiedlich gesetzt. Dies ist ihrer jeweiligen methodischen und normativen Annäherung an das Thema geschuldet: Steuerungstheoretische Ansätze sind an effektivem und effizientem Entscheiden interessiert; dagegen sind verfassungsrechtlich-normative und repräsentationstheoretische Ansätze stärker auf die Frage gerichtet, inwieweit die Grundsätze der Gleichheit von Einflusschancen und der Transparenz sowie der Legitimation von Entscheidungen eingehalten werden. Dieser Zugang bedingt tendenziell strengere Maßstäbe und ausgeprägtere Vorbehalte gegen jedwede Art informaler Auslagerung von Zuständigkeiten aus den Parlamenten.
Der rot-grünen Koalition im Bund wird attestiert, dass sie dem ohnehin beachtlichen Grad an "Informalisierung", wie er die exekutiven Entscheidungsprozesse in der Ära Helmut Kohl
Zur Entwicklung informaler Koalitionspolitik in der Bundesrepublik
Seit Bestehen der Bundesrepublik haben sich, wie auch in anderen europäischen Ländern, allmählich informale Regeln der Koalitionspolitik herausgebildet.
Inzwischen verfügen die Parteien über ein gewachsenes Steuerungswissen und vielfältige Erfahrungen, was den Alltag von Regierungskoalitionen betrifft. Obgleich unterschiedliche Führungsstile, Koalitionsformate und parteipolitische Zusammensetzungen eines Bündnisses mit Variationen des Koalitionsmanagements einhergehen, sind die Entscheidungsregeln, über die in Regierungsbündnissen Konsens erzielt werden soll, mittlerweile beinahe standardisiert. So ähneln sich Koalitionsvereinbarungen in Bund und Ländern in den Teilen, in denen die Partner ihre Zusammenarbeit regeln, oft bis auf den Wortlaut.
- Koalitionsverhandlungen sind "Sache der Parteien"; die Verwaltung sowie die anschließend zu bildende Regierungsmehrheit werden durch Koalitionsverträge an die "Kette der Parteien" gelegt.
- Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Werden Koalitionsausschüsse nicht nur als Instrument der Konfliktschlichtung eingesetzt, sondern als regelmäßig zusammentretende Steuerungsgremien, wertet dies die formal zuständigen Institutionen - allen voran die Fraktionen - zu Ratifikationsinstanzen ab. Allerdings sind an den Sitzungen des Koalitionsausschusses bereits seit langer Zeit die Fraktionsvorsitzenden und teilweise auch Fachpolitiker der Fraktionen beteiligt. Die Stärke eines/r Fraktionsvorsitzenden hängt davon ab, in welchem Umfang er/sie Zustimmung und Loyalität in den eigenen Reihen genießt und ob er/sie die Folgebereitschaft der Abgeordneten richtig einzuschätzen weiß. Ein(e) fähige(r) Fraktionsvorsitzende(r) wird daher in Koalitionsgremien eher als Mittler zwischen Abgeordneten und den Verhandlungsspitzen auftreten, nicht aber als Agent der Regierung, der in Koalitionszirkeln abgesprochene Kompromisse nur noch "nach unten" hin exekutiert.
- Von der Praxis informalen Koalitionsmanagements wird schließlich die - mehr oder weniger explizite - Annahme abgeleitet, dass sich zwischen den an Koalitionsverhandlungen beteiligten Akteuren und der Parlamentsmehrheit Beziehungsmuster ausbilden, die den Prämissen von "Principal-Agent-Theorien" entsprechen. Da die Vorentscheider in informale Steuerungsgremien eingebunden sind, verfügen sie über einen uneinholbaren Informationsvorsprung; zudem können die von ihnen ausgehandelten Koalitionskompromisse von den regierungseigenen Abgeordneten nurmehr um den Preis des Scheiterns der vorangegangenen Verhandlungen wieder aufgeschnürt werden. Damit bilden sich aber auf der Grundlage informalen Regierens quasi-hierarchische Mechanismen aus, die Prinzipien demokratischer Legitimation in Frage stellen. Die daraus erwachsenden Probleme der Delegation können zum einen im Verhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen, zum anderen in der Beziehung zwischen der Fraktionsführung und den so genannten "einfachen" Abgeordneten auftreten.
Da im Folgenden die Beziehungsmuster in der rot-grünen Regierungsmehrheit analysiert werden, lautet die entscheidende Frage also, ob und inwieweit es Regierung und Fraktionsvorsitzenden gegenüber der Parlamentsmehrheit möglich ist, Politik auf informalen Kanälen und abgekoppelt von den Fraktionen zu formulieren und diese Vorentscheidungen - nach gleichsam hierarchischem Verfahrensmodus - durchzusetzen. Entscheidend bleibt dabei, ob und in welchem Umfang die an sich durch den Wahlmodus gestützte Loyalitätsbeziehung durch einen weitreichenden Informationsvorsprung von Vorentscheidern unterlaufen wird.
Beziehungsmuster zwischen Regierung und Mehrheitsfraktionen in der rot-grünen Koalition
Koalitionsmanagement: Beharrungskraft informaler Steuerung
Über Jahrzehnte hinweg haben sich in der Bundesrepublik gleichsam "Regieanweisungen" für das Koalitionsmanagement verstetigt.
Schon die Koalitionsverhandlungen von 1998 zeigten die Schwierigkeit, dem vielfältigem Proporz beider Parteien bei der Zusammensetzung der Verhandlungsgremien Rechnung zu tragen.
In etlichen Bundesländern hat sich die Praxis eingeschliffen, dass die Vorsitzenden der regierungstragenden Fraktionen an den Kabinettsitzungen teilnehmen. Diese Verschränkung von Legislative und Exekutive kann in der Tat als Instrument eingesetzt werden, um den Regierungswillen mit Hilfe der Fraktionsspitzen in die regierungstragenden Fraktionen zu übertragen. Aus der Sicht der Abgeordneten drohen die Fraktionsführer damit jedoch zu Agenten der Regierung zu werden und ihren durch Wahl begründeten Vertrauensvorschuss zu verbrauchen. Noch um die Stabilisierung ihrer Vertrauensbasis bemüht, vermieden es deshalb die beiden neu gewählten Fraktionsvorsitzenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Peter Struck und Rezzo Schlauch, regelmäßig an Kabinettsitzungen teilzunehmen.
Der Koalitionsausschuss war 1998 ursprünglich nicht als regelmäßig tagendes Steuerungsgremium, sondern lediglich als Instrument zur Konfliktschlichtung konzipiert worden.
Nachdem in der Koordination zwischen den SPD-Ministern, der SPD-Fraktion, der Parteiorganisation, den SPD-Ministerpräsidenten und dem Kanzleramt fortlaufend Kommunikationspannen aufgetreten waren, wurde schließlich auf Drängen des kleineren Koalitionspartners ein strafferes Koalitionsmanagement eingeführt.
Die informalen Regeln des Koalitionsmanagements, die sich seit den sechziger Jahren herausgebildet haben, bewiesen somit auch in den ersten Jahren der rot-grünen Regierung nach 1998 erneut in hohem Maße faktische Geltungskraft - obwohl beide Parteien sie anfänglich abgelehnt hatten.
Sektorale Politik: Informales Mitregieren der Koalitionsfraktionen
Im Mittelpunkt der fallstudienbasierten Parlamentsforschung stehen oft Aufsehen erregende Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit, die ein entsprechendes Medienecho gefunden haben. Dies führt zu systematisch verzerrten Einschätzungen, da außergewöhnliche Situationen als typisch für den Regierungsalltag angenommen werden. Existenzbedrohende Konflikte zwischen der Regierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen (s. u.) sind aber - zumindest in handlungsfähigen Regierungsmehrheiten - eher die Ausnahme. Ein beachtlicher Teil der alltäglichen Koordination findet sektoral, d.h. innerhalb einzelner Politikfelder, statt; dabei stimmt sich die Exekutive oft eng mit den Fachpolitikern der Koalition ab. Das Verhältnis zwischen den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen und den Ministerien ist in manchen Policies eher durch gemeinsame Interessenlagen (z.B. Sicherung der eigenen Programme gegen Sparmaßnahmen des Finanzministers) geprägt. Dabei sind - je nach dem Grad der Polarisierung zwischen den Koalitionsfraktionen und je nach Politikfeld freilich in sehr unterschiedlichem Umfang - eher sektoral versäulte "Fachbruderschaften" als durch eine fortgesetzte Gegnerschaft geprägte Beziehungsmuster gegeben.
Sind Abgeordnete fortlaufend in exekutive Entscheidungsprozesse eingebunden, bietet ihnen dies intensive Kontrollmöglichkeiten. So findet in fachpolitischen, wöchentlich tagenden Arbeitskreisen der Regierungsfraktionen eine enge Abstimmung zwischen den Fachpolitikern und den dort anwesenden Beamten der Ministerialbürokratie sowie der Spitze des Ministeriums statt. Auch wenn die Ministerialbürokratie einen nur schwer einholbaren Informations- und damit Machtvorsprung besitzt, weisen die Autoritäts- und Einflussverhältnisse durchaus nicht immer ein hierarchisches Gefälle zwischen Minister und Abgeordneten auf.
Politiknetzwerke, die neben der Exekutive auch Experten und Vertreter von Verbänden umfassen, binden zudem nicht selten die Fachpolitiker der Regierungsfraktionen ein. Daneben kommt es ebenfalls zum Informationsaustausch der Abgeordneten mit parteipolitisch "befreundeten" Länderregierungen. Ob dabei der jeweilige Koalitionspartner einbezogen wird, hängt von strategischen Erwägungen und dem wechselseitigen Vertrauensverhältnis ab. Auch an den SPD-geführten A-Länder-Koordinierungen im Zuge der Ministerkonferenzen der Länder sind neben Vertretern des Bundes die fachpolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen regelmäßig beteiligt. In solchen Koordinationsrunden wird exekutive Politik keineswegs immer hierarchisch zur Fraktionsseite hin vermittelt. Vielmehr kommt es angesichts des Umstands, dass die Beteiligten in Entscheidungsprozessen sowohl bei der Politikformulierung als auch bei der Implementation von Entscheidungen aufeinander angewiesen sind, zum wechselseitigen Austausch von Positionen und Erfahrungen. Ist das Vertrauensverhältnis zwischen Minister und Fachpolitikern der regierungstragenden Fraktionen intakt, können Letztere notwendige Informationen zudem auch "quer" - ohne den Umweg über den Leitungsstab des Ministeriums - aus der Ministerialbürokratie anfordern. Dies gelingt ihnen freilich eher in den Ministerien, die parteipolitisch gleich "eingefärbt" sind.
Die vielfältigen Formen informaler parlamentarischer Mitsteuerung
Führung nichtunitarischer Fraktionen und Parteien
Die programmatische Polarisierung zwischen den beiden Koalitionspartnern war seit 1998, gemessen an anderen denkbaren Regierungsbündnissen, eher mäßig. Kommunikationsstörungen und Koalitionskonflikte waren zwar auch zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen regelmäßig an der Tagesordnung; sie erreichten aber kaum den Grad einer existenziellen Krise.
Erst nachdem Lafontaine im März 1999 von Partei- und Regierungsamt zurückgetreten war und Gerhard Schröder den Parteivorsitz übernommen hatte, schwächte sich die partei- und regierungsinterne Polarisierung ab. Nach dem Wechsel von Frank Walter Steinmeier an die Spitze des Kanzleramtes im Jahre 1999 wurde dieses zudem allmählich zur Schaltstelle der Regierungsarbeit ausgebaut. Wie Helmut Kohl und Konrad Adenauer, führte Schröder die Partei von nun an stärker aus dem Kanzleramt heraus; die innerparteiliche Willensbildung wird auf diese Weise mehr den Prämissen des Regierens angepasst. Das Verhältnis zwischen Kanzler und SPD-Fraktion, die gerade mit Blick auf die sozialpolitischen Reformen durchaus keinen homogenen Akteur darstellt, blieb in der Folgezeit gleichwohl nicht ohne Spannungen. So war es immer wieder mit erheblichen Mühen verbunden, bei Vorhaben, welche die Führungsbefugnis des Kanzlers unmittelbar berührten, die erforderlichen Mehrheiten zu organisieren.
Die in der SPD und in den regierungstragenden Fraktionen umstrittene Agenda 2010 zur Reform der Sozialpolitik verdeutlicht die Schwierigkeiten hierarchisch-exekutiver Führung. Da die im Oktober 2002 auf den Parteitagen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschlossene Koalitionsvereinbarung an den politischen Realitäten vorbei formuliert worden war, mussten die sozialpolitischen Marksteine des Regierungsprogramms angesichts sich weiter verschlechternder Rahmendaten nur wenige Monate später neu gesetzt werden; das Votum der Parteitage erwies sich damit als hinfällig.
Dass Schröders Regierungserklärung zur Agenda 2010 vom 14. März 2003, die den Reformkurs für die weitere Legislaturperiode vorgeben sollte, den Fraktionen in etlichen Details nicht bekannt war, hat deren Folgebereitschaft durchaus gemindert. Die SPD-Fraktionsmitglieder, die ein Mitgliederbegehren gegen die Agenda einleiteten, hatten den Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering, der den Kurs des Kanzlers stützte, nicht über ihr Vorgehen informiert. In der in dieser Frage ebenfalls nicht homogenen Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen signalisierte der Flügel um den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, dass man mit den SPD-Rebellen zusammenarbeiten wolle. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie prekär es sein kann, wenn die Regierung Informationsasymmetrien als strategisches Mittel einsetzt oder zumindest billigend in Kauf nimmt, um umstrittene Reformpakete - zumal bei knappen Mehrheiten - auch gegen abweichende Meinungen in der Fraktion durchzusetzen.
Dass sich zwischen den informalen Steuerungsgremien der Koalition und den keineswegs unitarisch auftretenden Fraktionen immer wieder Koordinationsprobleme auftaten, belegt auch Schröders umstrittene Vertrauensfrage. Nachdem bereits der Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr nur mit den Stimmen der Opposition beschlossen werden konnte und die Regierungsmehrheit damit verfehlt worden war, geriet die Frage der deutschen Beteiligung an dem Afghanistan-Einsatz im November 2001 für die Regierung auch zu einer Nagelprobe ihrer Verlässlichkeit auf internationalem Parkett. Noch wenige Tage vor der Abstimmung im Bundestag signalisierten zwölf Abgeordnete der Grünen und vier der SPD, dass sie dem Einsatz nicht zustimmen wollten. Die Situation wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass die lokalen Parteiorganisationen zeitgleich die Kandidaten für die Landeslisten nominieren mussten. Die in dieser Situation besonders enge innerparteiliche Rückkopplung erschwerte es insbesondere den Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, sich - abweichend von genuin "grünen" Zielen - kompromissbereit zu verhalten. Um die potentiellen Abweichler zu disziplinieren, verband Kanzler Schröder schließlich die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage - und griff damit auf das verfassungsrechtlich letzte Mittel zurück, um eine geschlossene Regierungsmehrheit herbeizuführen. Sofern die Vertrauensfrage nicht, wie unter den Kanzlern Helmut Kohl 1982 und Willy Brandt 1972, als Mittel zur Parlamentsauflösung eingesetzt wird, signalisiert sie eine schwerwiegende Krise der Regierung. Im gegebenen Fall stand jedoch die Bereitschaft, das Regierungsbündnis fortzusetzen, in beiden Fraktionen grundsätzlich nicht in Frage. Auch die parlamentarische Mehrheit war - bis die Vertrauensfrage angekündigt wurde - durch die zustimmende Haltung der Opposition gesichert. Eine eigene Majorität sollte dennoch erzwungen werden, um die außenpolitische Handlungsfähigkeit der rot-grünen Koalition und nicht zuletzt die Autorität des Kanzlers zu wahren. Nach intensiven Verhandlungen mit den potentiellen Abweichlern erzielte man schließlich einen Kompromiss: In der SPD-Fraktion fehlte am Ende nur eine Stimme; bei den Grünen stimmten vier der zuletzt acht Abweichler gegen den Einsatz, so dass die kritische Distanz eines Teils der Grünen und ihre in dieser Frage gespaltene Haltung auch im Stimmverhalten der Fraktion gegenüber der Basis erkennbar wurden.
Kontinuität informalen Koalitionsmanagements - zum Nachteil der Fraktionen?
Das Koalitionsmanagement der rot-grünen Regierung steht somit in der Kontinuität informalen Regierens. Trotz anfänglich entschiedener Ablehnung, insbesondere durch die Fraktionsführungen, setzten sich ähnliche Muster durch, wie sie aus den zurückliegenden Jahrzehnten bekannt waren. Die Existenz informaler Regeln ist größtenteils institutionell begründet: Die Struktur des deutschen Regierungssystems hat zur Folge, dass Regierungskoalitionen die Willensbildung auf unterschiedlichen Handlungsebenen verstreben müssen. Die formal zuständigen parlamentarischen Gremien sind schon wegen ihrer Größe und Zusammensetzung nicht für diese Aufgabe geeignet. Im Zeitverlauf haben sich stattdessen bewährte und verstetigte "Regieanweisungen", sprich: Entscheidungs- und Verhaltensregeln, herausgebildet. Diese haben - da sie in der Vergangenheit erfolgreich erprobt wurden - mittlerweile selbst einen hohen Grad an Institutionalisierung und Erwartungssicherheit erreicht. Koalitionsabkommen und -ausschüsse sind markante Beispiele dafür, dass informale Regeln ein hohes Maß an normativer Wirkungsmacht entfalten können.
Das informale Koalitionsmanagement stärkt zweifelsohne Regierung und Fraktionsspitzen gegenüber den "einfachen" Abgeordneten. Dennoch bleiben die so genannten "Grenzstellenakteure" im parlamentarischen Regierungssystem auf die Folgebereitschaft der mehrheitsbildenden Fraktionen angewiesen. Insbesondere die Stärke des oder der Fraktionsvorsitzenden in Koalitionsverhandlungen wird durch den Grad der Loyalität, den die Abgeordneten ihm bzw. ihr entgegenbringen, wesentlich definiert. Principal-Agent-Theorien gehen dabei zuweilen paradigmatisch von einem Interessenkonflikt zwischen beiden Seiten aus. Dieser ist jedoch gerade in Gesinnungsgemeinschaften, wie sie Fraktionen bzw. Parteien darstellen, nicht notwendig und keinesfalls ständig gegeben. Es gehört zudem zu den fraktionsinternen Spielregeln, dass - von echten Gewissensfragen abgesehen - auch dort letztlich das Mehrheitsprinzip wirksam ist.
Die Koalitionspraxis der rot-grünen Bundesregierung zeigt, dass es - verglichen mit der Kohl-Ära - eher schwieriger geworden ist, die Folgebereitschaft der regierungstragenden Fraktionen sicherzustellen. Beide Fraktionen sind keineswegs unitarische Akteure. Daneben tragen SPD und Grüne auch den Charakter von Programmparteien, welche die Regierungsbeteiligung nicht nur als Eigenwert begreifen. Teilen der Parteielite und der Basis ist daran gelegen, programmatische Positionen mit möglichst geringen Abstrichen in Regierungshandeln umzusetzen. Diese Merkmale erschweren es den Verhandlungsführern in Koalitionen mitunter, Policy-Positionen flexibel an die Dynamik des Regierungsalltags anzupassen. Gerade in Reaktion auf den hierarchischen Führungsstil von Kanzler Schröder haben die Fraktionen in zentralen Fragen immer wieder Rückkopplungen und parlamentarische Mitsteuerung erzwungen. Selbst unter den Bedingungen eines informalen Koalitionsmanagements, das tendenziell hierarchische Beziehungen begünstigt, weisen die Verflechtungen innerhalb der Regierungsmehrheit also vielfältige Schattierungen und Abhängigkeiten auf.