Zum Konzept der"Semisouveränität"
Dem schillernden Begriff der "Souveränität" begegnet man traditionell vor allem im Bereich der internationalen Beziehungen.
Speziell für die deutsche Nachkriegsdemokratie wurde die Vorstellung einer modifizierten bzw. eingeschränkten Handlungssouveränität von Regierungen jedoch noch in einem anderen Zusammenhang diskutiert. In einer der international einflussreichsten Interpretationen des bundesdeutschen Regierungssystems hat der in den Vereinigten Staaten lehrende Politikwissenschaftler Peter J. Katzenstein die Bundesrepublik gerade mit Blick auf die Bedingungen des Regierens im Innern als "semisouveränen Staat" beschrieben.
Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, wie sich das Gesicht des "semisouveränen Staates" in Katzensteins Sinne in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gewandelt hat und wie sich diese Veränderungen auf die strukturelle Handlungsfähigkeit parlamentarischer Mehrheitsregierungen in der Bundesrepublik ausgewirkt haben.
Die innenpolitische Handlungsfähigkeit deutscher Bundesregierungen
Parteiensystem, Koalitionsregierungen und parlamentarische Mehrheitsverhältnisse
Eines der zentralen Kennzeichen des "semisouveränen Staates" bei Katzenstein - die Vorherrschaft von Koalitionsregierungen - ist jedem deutschen Betrachter so vertraut, dass es scheinbar kaum der Erwähnung bedarf. Wie in der alten Bundesrepublik ist Regieren auf Bundesebene auch im vereinigten Deutschland praktisch nur in Koalitionen möglich. Das "klassische" Koalitionsformat in der Bundesrepublik ist trotz gelegentlicher Spekulationen über die Bildung einer "großen Koalition" die kleine Koalition (Kanzlerpartei plus Juniorpartner) geblieben. Die Vorherrschaft von Koalitionsregierungen auf Bundesebene ist in hohem Maße ein Spiegel der Kräfteverteilungen im Parteiensystem, obwohl hierfür vereinzelt auch tief verwurzelte politisch-kulturelle Vorbehalte gegenüber der möglichen Alternative von Einparteien-Minderheitsregierungen verantwortlich gemacht wurden.
Die Kontinuität des Parteiensystems, die auf der gouvernementalen Ebene reflektiert wird, ist jedoch zum Teil nur eine scheinbare. Gegenüber den achtziger Jahren gibt es in der Berliner Republik deutliche Veränderungen. Zu nennen ist hier zunächst der offensichtliche Verlust einer strukturellen Mehrheit zugunsten der Christdemokratie, die zu den zentralen Charakteristika des Parteiensystems der alten Bundesrepublik gehörte.
Das im hier gegebenen Zusammenhang wichtigste Moment des Wandels im Parteiensystem betrifft jedoch die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Die Ergebnisse der Bundestagswahlen von 1994 und 2002 waren - hinsichtlich des prozentualen Mandatsanteils der aus der jeweiligen Wahl hervorgehenden Regierungsparteien - die knappsten in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949. Nach der Bundestagswahl vom September 2002 schrumpfte die Mandatsdifferenz zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen auf lediglich neun Sitze zusammen. Ohne den Gewinn von Überhangmandaten wäre die Mehrheit für die Regierung von Gerhard Schröder sogar noch ein wenig schmaler ausgefallen. In einer nach dem Mehrheitsprinzip funktionierenden parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik sind sehr knappe parlamentarische Mehrheiten stets mit der Gefahr eines Verlusts der politischen Handlungsfähigkeit der Regierung verbunden. Bei außergewöhnlichen internationalen Herausforderungen und innenpolitischen Belastungen - zu denen die jüngste Vergangenheit gezählt werden kann - gilt dies in besonderem Maße. Der Entschluss von Bundeskanzler Schröder, die parlamentarische Entscheidung über den Antiterroreinsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Herbst 2001 mit einer Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG zu verbinden, symbolisiert die gewachsenen Anforderungen an das parlamentarisch-gouvernementale "Mehrheitsmanagment" über den betreffenden Einzelfall hinaus.
Interessengruppen
In eine ähnliche Richtung weisen auch die jüngeren Entwicklungen im Bereich der Interessenpolitik. Wie in allen westlichen Demokratien ist es in den vergangenen Jahrzehnten auch in der Bundesrepublik zu einer deutlichen Zunahme von gesellschaftlichen Akteuren gekommen, deren Ziel es ist, Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen oder weitgehend autonom zu treffen. Seitens der politischen Soziologie wurden diese Veränderungsprozesse unter dem Stichwort der "Netzwerkgesellschaft" diskutiert. Die autopoietischen Radikalentwürfe der Bielefelder Schule - nach der sich weite Teile des Systems selbst steuern und dem Staat bestenfalls die Rolle einer "Supervisionsinstanz" zukommt
Graduelle Veränderungen sind jedoch unübersehbar. Selbst Vertreter der klassischen, rechtswissenschaftlich dominierten Gesetzgebungslehre haben von der Idee eines zentralen, verfassungsrechtlich berufenen Gesetzgebers mittlerweile Abschied genommen und diese durch die Vorstellung einer "Instanzenvielfalt in der offenen Gesellschaft derGesetzgeber"
Das föderative System
Zu den klassischen Strukturen des deutschen Regierungssystems, welche die Reichweite der Entscheidungsmacht von Bundesregierungen deutlich einschränken, gehört von jeher der föderative Staatsaufbau. Hervorgehoben seien hier ausschließlich einige der jüngeren Veränderungen, die einen signifikanten Einfluss auf den Handlungsspielraum parlamentarischer Mehrheiten auf Bundesebene haben. Zu den diesbezüglich erwähnenswerten Kennzeichen des Föderalismus im vereinigten Deutschland gehört zunächst die deutlich gewachsene Vielfalt von Parteikoalitionen auf Länderebene. Zu Beginn des Jahres 2003 gab es nicht weniger als acht in parteipolitischer Hinsicht unterschiedlich zusammengesetzte Landesregierungen. Von den 16 Regierungen auf Landesebene wiesen nur fünf exakt die parteipolitische Zusammensetzung entweder der Bundesregierung oder des "bürgerlichen" Oppositionslagers (CDU/CSU und FDP) auf Bundesebene auf; bei allen anderen handelte es sich um Alleinregierungen oder Parteienbündnisse, für die es auf Bundesebene kein Pendant gibt.
In der Kombination mit den extrem unterschiedlichen finanziellen Leistungsgrenzen der Länder
Diese Dynamisierung des Kräftespiels im föderativen System des vereinigten Deutschland ging jedoch mit beträchtlichen finanziellen Belastungen einher, die den Handlungsspielraum der Bundesregierungen von anderer Seite her einschränken. Ungleich bedeutender als die für den gelegentlichen "Stimmenkauf" bei einzelnen Bundesratsentscheidungen zu leistenden Zahlungen des Bundes waren die enormen finanziellen Kosten der deutschen Einheit, die seit 1990 zu einem im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Anstieg der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik führten. Sie wurden vor allem vom Bund getragen.
Bundesverfassungsgericht und Bundesbank
Auf zwei anderen Feldern - der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Geldpolitik - lässt sich auf den ersten Blick eine deutliche Schwächung ausgerechnet von zwei der historisch schwergewichtigsten potentiellen "Vetospieler" deutscher Regierungen erkennen. Sowohl Bundesbank als auch Bundesverfassungsgericht haben im Zuge des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses ihre traditionelle Machtposition im deutschen Regierungssystem mehr oder minder deutlich eingebüßt. Dies gilt vor allem für die Bundesbank seit der "Wachablösung" durch die Europäische Zentralbank im Gefolge der Euro-Einführung. Es gilt in geringerem Maße, aber doch zumindest der Tendenz nach, auch für die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, dessen exklusiver Kompetenzbereich gegenüber demjenigen des Europäischen Gerichtshofs in den vergangenen Jahren merklich zusammengeschmolzen ist.
Zweifelsohne hat sich der strukturelle Handlungsspielraum deutscher Bundesregierungen durch die Supranationalisierung der Funktionen von Bundesbank und Bundesverfassungsgericht nicht gerade vergrößert. Die alten mächtigen "Vetospieler" sind vielmehr durch neue, von der Bundesregierung allein schon hinsichtlich der Elitenrekrutierung noch unabhängigere und überdies weniger am speziellen Wohl der Bundesrepublik orientierte potentielle "Vetoakteure" ersetzt worden. Allerdings wird man einräumen müssen, dass Bundesregierungen auf den Feldern der Geldpolitik und der Verfassungsgerichtsbarkeit ohnehin nicht sehr viel an Handlungsmacht zu verlieren hatten. Wie historische Bestandsaufnahmen belegen, war der Einfluss von Regierungen auf die Entscheidungen von Bundesbank und Bundesverfassungsgericht alles in allem stets gering. Dies gilt insbesondere für die Geschichte von Konflikten zwischen Bundesregierung und Bundesbank, welche durch zahlreiche Niederlagen und seltene Erfolge der Regierung gekennzeichnet ist. Nach Einschätzung einiger Beobachter war das hartnäckige Festhalten der Bundesbank an ihrem zinspolitischen Kurs ein wesentlicher Grund für den Machtverlust von nicht weniger als drei Kanzlern der Bundesrepublik.
Die Rolle der Medien
Maßgeblich verändert haben sich in den vergangenen Jahren nicht zuletzt die Strukturen politischer Kommunikation in der Bundesrepublik - ein Bereich, der in Katzensteins Untersuchung aus den achtziger Jahren keine Rolle spielt, der jedoch so wichtig geworden ist, dass er hier berücksichtigt werden soll. Grundlage der veränderten Bedingungen politischer Kommunikation in der Bundesrepublik des frühen 21. Jahrhunderts sind signifikante Wandlungen des Mediensystems bzw. der Rolle der Medien im politischen System.
Entscheidend ist im hier interessierenden Zusammenhang, dass die Massenmedien im Kontext der "Mediengesellschaft" in den vergangenen Jahren zu einem eigenständigen politischen Akteur aufgestiegen sind, der durchaus die Qualitäten eines "Vetospielers" von Regierungen entfalten kann.
Dieser Strukturwandel im Verhältnis Staat-Medien-Bürger hat zu grundlegend veränderten Bedingungen des Regierens in der Bundesrepublik geführt. Darstellungspolitik ist dadurch zwar nicht vollständig an die Stelle von Entscheidungspolitik getreten. Professionelles Medienmanagement ist unter den Bedingungen medialer Allgegenwart aber ohne Zweifel zu einem konstitutiven Teil des Regierungsprozesses geworden. Dadurch sind Ressourcen, die ansonsten für die Wahrnehmung der "klassischen" Regierungsaufgaben verwendet werden könnten, anderweitig gebunden. Die drastisch gewachsene Personalisierung von Politik
Kontinuität und Wandel parlamentarischer Regierung in der Bundesrepublik
Eine Bestandsaufnahme der jüngeren Entwicklungen in Deutschlands "semisouveränem Staat" ist - ungeachtet der in diesem Beitrag vorherrschenden Konzentration auf die wichtigsten Veränderungen - durch Wandel und Kontinuität gekennzeichnet. Erhalten geblieben ist die in wesentlichen Teilen bereits im Grundgesetz angelegte und durch vielfältige politische und politisch-kulturelle Faktoren befestigte ausgeprägte Machtteilung im deutschen Regierungssystem. Gemeinsam mit den USA und der Schweiz verkörpert die Bundesrepublik in der Familie der westlichen Länder nach wie vor einen Extremfall von "institutionellem Pluralismus".
Unterhalb dieser Ebene von prinzipieller Kontinuität sind unterschiedliche Dimensionen von Wandel, wie sie in diesem Beitrag beschrieben wurden, jedoch unverkennbar. In der Summe der Entwicklungen lässt sich von einer weiter reduzierten innenpolitischen Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht parlamentarischer Mehrheiten in der Bundesrepublik sprechen.
Bemerkenswert ist, wie wenig die deutlich gestiegene Medienpräsenz im Regierungssystem zur Erhöhung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Entscheidungsprozesses beiträgt. Insgesamt scheint es vielmehr so zu sein, dass die vielfältigen Mechanismen der "Mediengesellschaft" mit der ihr eigenen starken Konzentration auf einzelne Persönlichkeiten - nicht zuletzt den vermeintlich allmächtigen Regierungschef - mehr dazu angetan sind, den beschriebenen Wandel des Regierungssystems zu verschleiern als adäquat zu reflektieren.