Einleitung
"Deutschland braucht starke Gewerkschaften" - dieser Satz des Bundeskanzlers und Gewerkschaftsmitglieds Gerhard Schröder zum Abbruch des Streiks der IG Metall in Ostdeutschland 2003 klang beschwörend. Was aber beschwor Schröder? Die offenkundige Schwäche der monumentalen IG Metall, die sich über Jahrzehnte in dem Ruf gesonnt hatte, der Welt größte Industiegewerkschaft zu sein? Oder den Anti-Modernismus ihrer Führungskader? Oder wollte er die Arbeitgeber auffordern, jetzt nicht in Triumphalismus zu verfallen? Keine Frage, dass die Gewerkschaften seit Gründung der Bundesrepublik noch nie eine solche Krise erlebt haben wie derzeit: eine Machtkrise, aber auch eine Sinnkrise. Dass sie "stark" sein sollen, sagt da wenig.
Unzweifelhaft haben sich die Gewerkschaften in der Geschichte große Verdienste erworben. Sie haben den Arbeiterinnen und Arbeitern im Arbeitsleben und in der Gesellschaft Gleichberechtigung und Würde verschafft und die Diskrepanz zwischen Arbeitern und Angestellten nahezu beseitigt. Ohne die Gewerkschaften, ohne die Männer und Frauen, die sie gründeten und führten, ist der Weg vom Raubtier-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Sozialstaat des 20. Jahrhunderts kaum vorstellbar. Die scheinbar so banale Weisheit, dass der Schwache in der Gemeinschaft stark wird, haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Bildung von Gewerkschaften realisiert und damit Wohlstand und Lebensqualität geschaffen, wie es sie für die Mehrheit der Bevölkerung nie zuvor gegeben hat: hohe Löhne und Gehälter, Weihnachts- und Urlaubsgeld, lange, bezahlte Urlaube, menschenfreundliche Arbeitsplätze, Vermögensbildung und Mitbestimmung.
Ohne das Machtmittel des Streiks - oder der Drohung damit - hätten Wirtschaft und Politik solche Konzessionen nie gemacht. In Zeiten von Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung war das auch vertretbar. Höhe des Lohns und Höhe der Beschäftigung schienen nichts mit einander zu tun zu haben. Das aber erwies sich als verhängnisvolle Fehleinschätzung, als sich das Wirtschaftswachstum verlangsamte, um schließlich gegen null zu tendieren.
1973 erschütterte die erste Ölkrise die westliche Welt. Binnen kurzem vervielfachte sich der Preis für Heizöl und Benzin. Die Gewerkschaften forderten einen Ausgleich durch die Unternehmen. Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr erstreikte mitten in der Rezession zweistellige Lohnzuwächse. Das war der Anfang vom Ende der Regierung des Sozialdemokraten Willy Brandt und der Anfang vom Ende der Vollbeschäftigung.
Das Feindbild Arbeitgeber versus Arbeitnehmer ist unzeitgemäß
Jeder nüchterne Betrachter konnte die Spirale erkennen: Verbesserte Arbeitsbedingungen (höherer Lohn, kürzere Arbeitszeit, längerer Urlaub) schmälern den Ertrag. Ist solcher nicht durch höhere Umsätze zu steigern, bleibt nur die Kostensenkung. Wodurch aber lassen sich die Kosten senken? Durch den Einsatz von Maschinen und Automaten mit computergesteuerter Perfektion statt immer teurer werdender menschlicher Arbeitskraft; oder durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Plakativ gesprochen kostet jede unter dem Druck der Gewerkschaften erzwungene Lohnerhöhung eine Vielzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den Arbeitsplatz.
Das Feindbild Arbeitnehmer versus Arbeitgeber passt auf einmal nicht mehr. Doch die antikapitalistische Tradition der Gewerkschaften verschloss bisher vielen ihrer Repräsentanten die Augen - drastisch aufgezeigt beim Tarifabschluss im öffentlichen Dienst Anfang 2003. Mit insgesamt 4,4 Prozent Lohnerhöhung war dieser Streik angesichts des überschuldeten, finanziell kaum noch handlungsfähigen Staates - Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen - ökonomischer Aberwitz, erzwungen durch massive Streikdrohungen und Warnstreiks zu Lasten der Gemeinschaft, also aller Bürger. Selten zuvor ist so überdimensioniert gedroht worden wie im Frühjahr und Sommer 2003.
Ungeachtet des Scheiterns des Streiks um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland gerieten die Reformer in der mächtigen IG Metall zumindest vorerst wiederum in die Defensive. Auf die Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung zur Bewältigung der tiefgreifendsten Krise des deutschen Wirtschafts- und Sozialstaats erklärte der neue IG-Metall Chef Jürgen Peters: "Wir müssen die Erwartungen unserer Mitglieder erfüllen und wollen natürlich tarifliche Wiedergutmachung für das, was ihnen die Regierung androht." Das klang abermals nach Streik bei Nichterfüllung. So war allerdings die durch das Grundgesetz in Artikel 9 Absatz 3 geschützte Tarifautonomie nicht gedacht.
Der Staatsrechtslehrer Joseph H. Kaiser erkannte schon 1954, knapp fünf Jahre nach Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, in Streiks ein staatsrechtliches Problem: "In ihnen kommen nicht nur die realen und legitimen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Austrag, sondern auch die spezifischen Interessen von hochentwickelten Organisationen, die Eigeninteressen der Gewerkschaftsbürokratie und der Syndici, der großen Funktionskörper mit all ihrem Eigengewicht, der Machtgruppen mit der jeder Macht innewohnenden Tendenz zur Expansion." Der spätere DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg sagte dazu im DGB-Auslandsdienst vom März 1954: "Manchmal scheint es uns, als ob sie (die Organisationen) Roboter oder Riesen würden, die einen eigenen Willen und ein eigenes Leben gewinnen und Amok zu laufen drohen und aus uns, die wir sie geschaffen haben, ihre Diener und ihre Objekte machen."
Heute, rund 50 Jahre später, ist die Richtigkeit dieser Aussage offenkundig. Viele Funktionsträger der großen Gewerkschaften stellen sich als Politiker im Dienst des kleinen Mannes oder gar der Allgemeinheit dar und verfolgen doch nur die Interessen ihrer Gruppe. Arbeitskämpfe mit hochgeschraubten Forderungen sollen sie gegenüber den Mitgliedern legitimieren, Flächentarife werden aus Prinzip selbst dann starr verteidigt, wenn Unternehmen zugrunde gehen.
Millionenabfindungen mit Zustimmung von Gewerkschaftern
Dabei nehmen viele dieser Spitzenfunktionäre wohldotierte Aufsichtsratsposten ein und stimmen, während in den Betrieben die nächsten Entlassungen angekündigt werden, den oft phantastischen Vergütungen der Unternehmenschefs zu, die das verhängnisvolle Shareholder-Value-Prinzip aus den USA importiert haben. Der Fall Mannesmann/Vodafone, bei dem viele Millionen Euro Abfindungen an ausscheidende und ausgeschiedene Mitglieder der Geschäftsführung bezahlt wurden unter Mitwirkung, wenn auch Stimmenthaltung, des Gewerkschaftsvertreters, ist nur ein besonders extremes Beispiel.
Und was ist davon zu halten, dass im Aufsichtsrat der Lufthansa der Spitzenfunktionär der Dienstleistungsgesellschaft Ver.di die Mitarbeiter zum Streik anhält, der das Unternehmen, dessen Interessen er im Aufsichtsrat wahren soll, Millionen kostet? Dabei ist der Streik ein Fremdkörper in einer Welt der fast totalen Verrechtlichung aller gesellschaftlichen - und sogar internationalen - Konflikte. Er ähnelt dem Krieg, wie Joseph H. Kaiser gleichfalls schon in den fünfziger Jahren feststellte. Denn es ist wirklicher Kampf, "eine echte Analogie des Schauspiels des Krieges zwischen den Staaten, ein theatrum belli en miniature".
Die Gerichte haben inzwischen gewisse Regeln für das Duell von Arbeit und Kapital entwickelt. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 1954 verlangt, dass die Tarifautonomie nur im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden darf. Das heißt: Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit steht in unlösbarem Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip der Artikel 20 und 28 Grundgesetz. Der Zweck der Tariffreiheit ist "eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens unter Mitwirkung der Sozialpartner in den sich aus dem Zweck ergebenden Grenzen" - so das Bundesverfassungsgericht über die Jahre. Das ist das genaue Gegenteil von "Krieg". Deshalb kann laut Bundesverfassungsgericht "die Tarifautonomie zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen verfassungsrechtlicher Rang zukommt" (1993). Das Sozialstaatsprinzip besitzt Verfassungsrang. Auch sind die Grundrechte der betroffenen Dritten und der ebenfalls im Verfassungsrang stehende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Arbeitskämpfe müssen nicht durch Streik ausgefochten werden
Doch wie der im öffentlichen Dienst 2003 zu Lasten der Allgemeinheit ausgetragene Arbeitskampf zeigt, reichen die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Maßstäbe nicht, umso weniger, als sich seit den Anfängen der Bundesrepublik viele der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten grundlegend geändert haben. War damals die Daseinsvorsorge nahezu vollständig hoheitlich organisiert, administriert von Beamten, die nach ganz überwiegender Rechtsauffassung nicht streiken dürfen, wird sie - man denke an Post, Bahn, Elektrizität, Gas, Wasser, Müllabfuhr etc. - heute im privatrechtlichen Gewand betrieben. Die Folge ist, dass jetzt ein Streik im öffentlichen Dienst, der die gesamte Bevölkerung trifft, zulässig sein soll.
Arbeitskampf muss nicht durch Streik gelöst werden. Der moderne Staat ist durchaus in der Lage, geeignete Mittel zur Lösung von Konflikten auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Er kann den ordentlichen Rechtsweg eröffnen oder ein Gericht ähnlich dem Bundesverfassungsgericht schaffen. Schließlich gibt es auch in der Europäischen Gemeinschaft zur Streitbeilegung den Europäischen Gerichtshof. Warum soll das zur Beilegung von Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern um Löhne und Arbeitsbedingungen nicht möglich sein? Zur Zeit klagen Beamte, die kein Streikrecht haben, gegen Kürzungen von Pensionen, Weihnachts- und Urlaubsgeld. Das erste Volkszählungsgesetz ist 1983 nicht durch Boykott außer Kraft gesetzt worden, sondern durch den Spruch des Bundesverfassungsgerichts.
Ein gerichtliches Verfahren anstelle von Streik sollte nicht als Privilegierung der Arbeitgeber missverstanden werden. Wir brauchen starke Gewerkschaften. Wir brauchen sie als Gegengewicht gegen die Unternehmerseite und als Ordnungsfaktor. Wir brauchen auch Flächentarifverträge, wenn Betriebsräte und Belegschaften in den einzelnen Unternehmen nicht erpressbar sein sollen. Wohlverstanden praktiziert und ausgestattet mit vernünftigen Öffnungsklauseln zur flexiblen Anpassung an die Ertragslage der jeweiligen Unternehmen einschließlich der Wohlfahrtsverbände, stellen sie eine Friedensformel dar, die Arbeitnehmern wie Arbeitgebern dient.
Das setzt allerdings Gewerkschaftsführer voraus, die sich bewusst der veränderten Welt stellen, die über egoistische Verbands- und Eigeninteressen hinaus zugleich das Ganze sehen, die begreifen, dass Reformen, wenn es nicht zum Kollaps des Sozialstaats kommen soll, unumgänglich sind. Die Mehrheit der Bevölkerung hat längst begriffen, dass diese Reformen jedem Einzelnen Opfer abverlangen.
Noch bestimmt die reine Ausübung von Macht viele Gewerkschaftsführer
Statt auf dem Status quo, regelmäßigen Lohnerhöhungen und auf starrem Kündigungsschutz zu beharren, sollten bessere, flexiblere Arbeitsbedingungen und/oder Beschäftigungsverhältnisse entwickelt werden. Wenn es die wirtschaftlichen Umstände erfordern, muss auch eine Nullrunde flächendeckend oder regional oder branchenbezogen möglich sein oder Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzgarantie oder im Extremfall selbst ohne eine solche. In diesem Zusammenhang sind auch die hohen Managereinkünfte ins Verhältnis zum Arbeitsplatzabbau zu setzen. Wo bleibt die Mitbestimmung? Warum wird nicht die Frage nach Sinn oder Unsinn des überzogenen Shareholder-Value-Denkens aufgegriffen und nach besseren Gestaltungen gesucht? Die Gewerkschaften haben zwar kein politisches Mandat, das hindert sie jedoch nicht, Einfluss auf brennende gesellschaftliche Belange zu nehmen, und zwar ohne Streik- und Demonstrationsdrohungen, aber mit besseren Argumenten. Dazu ist Weiterbildung weltweit zu fordern und Mobilität zu fördern.
Noch bestimmt die reine Ausübung von Macht zu sehr das Bewusstsein vieler in der Führung der Gewerkschaften, während Dienstleistung das Schlüsselwort wäre und Offenheit statt der viel gepriesenen "Geschlossenheit". Nicht Konfrontation ist die Aufgabe der Zeit sondern die Suche nach gemeinsamen Werten, die sich sicher nicht in Geld und in der Menge an Freizeit erschöpfen.
Nur dann, wenn sich der Gesichtskreis der Gewerkschaften weit öffnet und die Zukunft aller Mitmenschen in ihr Denken einbezogen wird, werden die Gewerkschaften die Tarifautonomie halten. Nur dann werden die Gewerkschaften wieder attraktiv, auch für Angestellte, Frauen und jüngere Arbeitskräfte - vor allem solche in den wichtigen modernen Branchen. Geschieht dies nicht, muss der Gesetzgeber die Belange der Allgemeinheit gegen eine Minderheit Organisierter wahren. Der jetzt schon dramatische Abwärtstrend in den Mitgliederzahlen wird die Gewerkschaften dann in die Bedeutungslosigkeit drücken. Das wäre das traurige Ende einer einst glanzvollen, inzwischen vielerorts versteinerten Tradition.