Reformstau in Deutschland vs. Reformruck in Großbritannien
"Durch Deutschland muss ein Ruck gehen", forderte Bundespräsident Roman Herzog 1997, in dem Jahr, in dem sich die Ära Helmut Kohl dem Ende zuneigte, in dem die große Steuerreform scheiterte und das Wort Reformstau von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt wurde.
Doch der symbolischen Ruckrede ist kein wirklicher Reformruck gefolgt. 2003, sechs Jahre später, kann man sich nicht einmal darüber einigen, ob eine Steuerreform vorgezogen werden soll oder nicht, wird eine Gesundheitsreform zerpflückt, bevor sie überhaupt konzeptualisiert wurde, und bleibt ein Zuwanderungsgesetz nach ewigem Tauziehen (u.a. dem nicht verfassungsgemäßen Zustandekommen im Bundesrat, dem Stopp durch das Bundesverfassungsgericht, der erneuten Verabschiedung im Bundestag und dem erneuten Scheitern im Bundesrat) im Vermittlungssauschuss hängen. 2003 wäre eine Ruckrede des Bundespräsidenten ebenso passend wie die Wahl des Worts Reformstau zum Wort des Jahres.
In Großbritannien kann von einem fehlenden Ruck oder gar einem Reformstau nicht die Rede sein. So hat die Regierung Tony Blair seit ihrem Amtsantritt 1997 sogar eine überwältigende Anzahl an Verfassungsreformen vorgenommen, eine Reihe weiterer angekündigt und sich trotz erheblichen Unmuts im eigenen Land am Krieg gegen den Irak beteiligt. Grundsätzlich ist das Thema Reformstau in Großbritannien kein Thema. In kaum einem anderen demokratischen Land wird der Charakter der repräsentativen Demokratie als "temporäre Vertrauensdiktatur"
Die Umsetzbarkeit von Reformen hängt maßgeblich von den verfassungspolitischen Rahmenbedingungen eines Landes ab. Diese wirken in Deutschland überwiegend reformhemmend: "In keinem Land der Welt haben so viele Instanzen Verhinderungsgewalt wie in Deutschland - vielleicht mit Ausnahme der Schweizer 'Konkordanzdemokratie."
Der deutsch-britische Vergleich macht deutlich: Es gibt nicht die repräsentative Demokratie, genauso wenig wie die Demokratie oder die Demokratietheorie. Es gibt unterschiedliche Formen der repräsentativen Demokratie, die unterschiedliche Funktionsmechanismen aufweisen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Doch so unterschiedlich die Formen, Funktionsmechanismen und Ergebnisse der repräsentativen Demokratie auch sein mögen, so gleich lautend ist oftmals die Kritik an denselben. Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien ist die spezifische Ausgestaltung des politischen Systems für dessen mangelnde Outputleistung verantwortlich gemacht worden: Während in Deutschland die geringe Steuerungsfähigkeit als Ursache gilt, wird in Großbritannien die hohe Steuerungsfähigkeit moniert. Wie diese paradox anmutenden Kritiken zustande kommen, soll im Folgenden auf der Basis der Vetospielertheorie erörtert werden. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, welches politische System für moderne, gesellschaftlich homogene Industrienationen besser geeignet ist.
Vetospielertheorie (nach George Tsebelis)
George Tsebelis hat mit seiner Vetospielertheorie einen umfassenden Ansatz formuliert, der politische Systeme hinsichtlich ihrer Steuerungsfähigkeit klassifizierbar und vergleichbar macht. Im Mittelpunkt steht dabei die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems in Abhängigkeit von dessen konkreter Ausgestaltung. Die bahnbrechende Idee von Tsebelis besteht darin, sämtliche Akteure, welche die politische Steuerungsfähigkeit direkt einschränken, in Vetospieler "zu übersetzen" und politische Systeme auf dieser Grundlage vergleichbar zu machen.
Vetospieler sind nach Tsebelis alle jene Akteure, die politische Reformen (Gesetze) direkt verhindern können: "Veto players are individual or collective actors whose agreement is necessary for a change of the status quo."
Besondere Bedeutung misst Tsebelis der Unterscheidung institutioneller und parteipolitischer Vetospieler bei. Institutionelle Vetospieler beschreibt er als in der Verfassung verankerte, konstante Vetospieler: "I will call institutional veto players individual or collective veto players specified by the constitution. The number of these veto players is expected to be constant but their properties may change."
In Deutschland existieren gegenwärtig zwei parteipolitische Vetospieler - die Parteien, welche die Regierungskoalition bilden (SPD und Bündnis 90/Die Grünen) - sowie drei institutionelle Vetospieler - der Bundesrat (bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen), das Bundesverfassungsgericht (sofern es nach einer Anrufung eine direkte oder indirekte Normenkontrolle vornimmt) und der Bundespräsident (im Rahmen seines abgeschwächten Prüfungsrechts).
Wirkung von Vetospielern
Je nachdem, aus welcher Perspektive man Vetospieler betrachtet, fällt deren Bewertung höchst unterschiedlich aus: Aus der Perspektive der Gewaltenteilung erscheinen sie als Garanten der Demokratie und des Konsenses, aus der Perspektive der politischen Steuerungsfähigkeit als Ursachen des politischen Stillstands und der Reformunfähigkeit. Für Wolfgang Luthardt, der (implizit) Vetospieler aus der ersten Perspektive betrachtet, gehören diese "zu den großen geschichtlichen Leistungen des modernen demokratischen Verfassungsstaates"
Zum einen sind Vetospieler ein direkter Ausdruck des Prinzips der Gewaltenteilung.
Zum anderen schränken Vetospieler - wie Tsebelis deutlich gemacht hat - die Steuerungsfähigkeit eines politischen Systems ein. Grundsätzlich gilt: Je weniger Vetospieler existieren, desto größer ist die Steuerungsfähigkeit eines politischen Systems. Infolgedessen hängt sowohl die Steuerungsfähigkeit als auch die Konsensfähigkeit eines politischen Systems von der Anzahl der Vetospieler ab - allerdings diametral entgegengesetzt: Je mehr Vetospieler existieren, desto größer ist die Konsensfähigkeit und desto geringer ist die Steuerungsfähigkeit, und umgekehrt (vgl. Tabelle: s. PDF-Version).
Während vor dem Hintergrund der in der Tabelle dargestellten Varianten das politische System Großbritanniens - aufgrund des Minimums an Vetospielern - ein Maximum an Steuerungsfähigkeit bei einem Minimum an Konsensfähigkeit gewährleistet, realisiert das politische System Deutschlands - aufgrund des Maximums an Vetospielern - ein Maximum an Konsensfähigkeit bei einem Minimum an Steuerungsfähigkeit. Folglich bezieht sich die Kritik hinsichtlich der geringen Outputleistung des politischen Systems in Großbritannien auf die geringe Konsensfähigkeit und in Deutschland auf die geringe Steuerungsfähigkeit.
An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wie viele Vetospieler in modernen, gesellschaftlich homogenen Industrienationen mit Blick auf die Konsensfähigkeit nötig und mit Blick auf die Steuerungsfähigkeit erträglich sind. Um diese Frage annähernd beantworten zu können, empfiehlt sich eine eingehende Untersuchung der spezifischen Auswirkung der Anzahl der Vetospieler auf die Konsensfähigkeit der politischen Systeme Deutschlands und Großbritanniens.
Vetospieler in Deutschland als Falschspieler?
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Vetospieler die Staatsgewalt nicht einfach willkürlich hemmen, sondern in einem bestimmten Rahmen spezifische Ziele verfolgen bzw. Interessen vertreten und dabei eine gewaltenteilende Wirkung entfalten sollen. Andernfalls wird die intendierte Gewaltenteilung "wenn überhaupt, durch eine Gewaltenteilung widersinniger und offensichtlich nicht gewollter Art ersetzt"
Während der Bundesrat Länderinteressen vertreten und sich seine Vetomacht auf Fragen, die den Kernbereich der Länderinteressen berühren, beschränken soll, vertritt er zumindest in wichtigen Sachfragen regelmäßig Parteiinteressen und hat sich der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze zunehmend auf Bereiche ausgedehnt, die kaum mehr zum Kernbereich der Länderinteressen gerechnet werden können. Vor diesem Hintergrund ist der Bundesrat "demokratisch kaum zu rechtfertigen und inzwischen das eigentliche Scharnier eines sich selbst blockierenden Parteienstaats"
Während das Bundesverfassungsgericht Gesetze hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit kontrollieren und sich seine Kontrollkompetenz nur auf die enumerativ im Grundgesetz bzw. im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festgelegten Fälle beschränken soll, hat es in vielen Bereichen eine politisch-gestalterische Kontrolldichte entwickelt, in Einzelfällen Entscheidungen (partei)politischen Charakters getroffen, in einer Vielzahl von Urteilen eine über den konkreten Fall hinausgreifende Rechtsprechung entwickelt und sogar seine eigenen Kompetenzen sukzessive ausgeweitet. Insbesondere in den neunziger Jahren ist überdeutlich geworden, dass das Bundesverfassungsgericht immer mehr "aus dem Ruder läuft"
Während das personalisierte Verhältniswahlrecht, das für das Erfordernis einer Koalitionsregierung weitest gehend verantwortlich ist, eine gerechte Repräsentation gewährleisten soll, führt es im Vergleich zu Mehrheitswahlsystemen auf der Parlamentsebene - wenn überhaupt - allenfalls zu mehr und nicht zu vollständiger Proportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen der Parteien und auf der Regierungsebene sogar zu äußerst starken Disproportionalitätseffekten, da parlamentarische Minderheitsparteien auf der Regierungsebene einen - in jeder Hinsicht - überproportional starken Einfluss ausüben. Besonders deutlich wurde dies in Deutschland zwischen 1961 und 1983. Schließlich waren in diesem Zeitraum Regierungswechsel "nur als ein von der FDP zu vollziehender Partnerwechsel möglich"
Es ist festzuhalten, dass die meisten Vetospieler in Deutschland ihre Vetomacht nicht unmaßgeblich missbrauchen und - zum Teil selbstständig - ausgedehnt haben, wodurch deren Ausmaß größer und deren Legitimationskraft geringer wurde.
Adversary Politics in Großbritannien?
Die aus der geringen Konsensfähigkeit des Westminster-Modells resultierenden Nachteile sind insbesondere durch die - von Samuel Finer maßgeblich geprägte - Theorie der Adversary Politics zum Ausdruck gebracht worden. Finers zentrale Kritik am Westminster-Modell besteht darin, dass durch häufige Wechsel von Einparteienregierungen eine Abfolge von radikalen Politikrevisionen ausgelöst wird: "reversals and re-reversals and in some cases, re-re-reversals of policy"
Nach Finer resultiert das Adversary-Modell aus dem britischen Zweiparteiensystem und dieses aus dem britischen Mehrheitswahlsystem (relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen). Deshalb fordert Finer eine Wahlrechtsreform bzw. die Einführung eines Verhältniswahlsystems (Single Transferable Vote in Dreier- bis Fünferwahlkreisen).
Empirische Belege für Adversary Politics führt Finer in der Originalfassung seiner Theorie von 1975 insbesondere aus der Nachkriegszeit an. Ein klassisches Beispiel stellt die Entwicklung im Bereich der Stahlindustrie dar: "[T]he steel industry was nationalised by Labour in 1950 - 1, denationalised by the Conservatives in 1953 and renationalised by Labour in 1966."
Unabhängig davon, ob in Großbritannien in der Vergangenheit ein Adversary-Modell oder ein Konsensus-Modell dominierte, ist davon auszugehen, dass in der Gegenwart ein Konsensus-Modell vorherrscht.
Die moderate Politik der Labour-Partei bzw. der Blair-Regierung darf jedoch keineswegs als Ausfluss einer völlig souverän bzw. unabhängig getroffenen internen Wertentscheidung betrachtet werden, die jederzeit - folgen- bzw. problemlos - wieder revidiert werden kann. Labour hat sich als (Regierungs-)Partei weniger aufgrund interner Willensbildungsprozesse, sondern vielmehr aufgrund externer Zwänge zu New Labour entwickelt. Das moderate Programm der Labour-Partei bzw. die moderate Politik der Blair-Regierung wurde insbesondere von zwei Faktoren regelrecht erzwungen: den Restriktionen des politischen Entscheidungsraums sowie der spezifischen Struktur der Wählerschaft.
Die Wählerschaft hat sich in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert: Ihre Bindung an Partei(ideologi)en ist geringer, ihre Wechselbereitschaft größer geworden (vgl. Abbildung: s. PDF-Version). Ohne die Anpassung der Labour-Partei bzw. der Blair-Regierung an die Bedürfnisse der großen Anzahl der Wechselwähler, d.h. ohne eine moderate, entideologisierte und klassenübergreifende Politik, wären die beiden erdrutschartigen Wahlsiege von 1997 und 2001 definitiv nicht möglich gewesen.
Darüber hinaus haben die Restriktionen des politischen Entscheidungsraums, z.B. die Restriktionen, die aus der Mitgliedschaft in internationalen oder supranationalen Organisationen (insbesondere der EU), der internationalen (Wirtschafts-)Verflechtung und der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung resultieren, der Politik der Blair-Regierung - insbesondere im Wirtschaftsbereich - enge Grenzen gesetzt: "On one side both Thatcherism and Labour were adjusting to new realities. There is no party in western Europe, or perhaps the world, which is now using Keynesian demand management."
Fazit
Da die meisten Vetospieler in Deutschland ihre Vetomacht nicht unmaßgeblich missbraucht sowie ausgedehnt haben und in der Bundesrepublik grundsätzlich ähnliche Rahmenbedingungen herrschen wie in Großbritannien, erscheint eine Reduzierung der Vetospieler bzw. ihrer Vetomacht - soweit dies möglich ist - durchaus sinnvoll. Zu denken wäre beispielsweise an die Einführung eines moderaten Mehrheitswahlsystems (z.B. Mehrheitswahl mit proportionaler Zusatzliste), das als Repräsentationsziel eindeutig die Mehrheitsbildung (einer Partei) verfolgt, jedoch kleinen Parteien eine gewisse - wenn auch nicht gerechte - Repräsentation im Parlament garantiert. In Frage käme z.B. das AV-Plus System, das die Independent Commission on the Voting System in Großbritannien ausgearbeitet hat.