Vorbemerkungen
In der Bundesrepublik stehen derzeit umfangreiche wirtschafts- und sozialpolitische Reformen auf der politischen Tagesordnung. Die von der Bundesregierung geplanten und in Teilen bereits umgesetzten Maßnahmen rufen sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Während von Seiten der Gewerkschaften und der politischen Linken ein Einschwenken der rot-grünen Bundesregierung auf die neoliberale Reformagenda diagnostiziert und heftig kritisiert wird, gilt der derzeitige Reformkurs vielen anderen Beobachtern als nicht weitgehend genug; es ist vom "Reformstau" und sogar vom "Zeitlupenland Deutschland" die Rede.
Die Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen sind jedoch nicht nur hierzulande ein viel diskutiertes Thema. Bereits seit Anfang der neunziger Jahre beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Politischen Ökonomie von Reformen. Anfangs stand die politische Durchsetzbarkeit radikaler Strukturanpassungsprogramme und des so geannnten "Washington Consensus" in Entwicklungsländern im Vordergrund der Analysen.
Rentenreformen in Lateinamerika und Osteuropa
Welche Reformerfahrungen andernorts gemacht wurden, soll in diesem Beitrag am Beispiel des Umbaus der Alterssicherung aufgezeigt werden. Demographische Trends und die Aushöhlung der erwerbsarbeitszentrierten Beitragsgrundlage stellen die Finanzierbarkeit der umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme und die Tragfähigkeit des zugrunde liegenden Generationenvertrags weltweit auf die Probe. Dennoch wird in der volkswirtschaftlichen und politikwissenschaftlichen Literatur bis heute die Unwahrscheinlichkeit eines fundamentalen Systemwechsels in der Alterssicherung betont.
Unter welchen Bedingungen konnte es zu den radikalen Rentenreformen in Lateinamerika und Osteuropa kommen, die einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung implizieren? Dieser Frage soll hier im Lichte der bisherigen Forschungsergebnisse zur Politischen Ökonomie von Reformen im Allgemeinen und der Politischen Ökonomie der Rentenprivatisierung im Besonderen nachgegangen werden. Die Analyse basiert auf den Ergebnissen eines von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojektes zum Paradigmenwechsel in der lateinamerikanischen und osteuropäischen Alterssicherung, das von 1999 bis 2002 am Frankfurter Institut für Transformationsstudien der Europa-Universität Viadrina durchgeführt wurde.
Wenn sich in zwei entfernten Weltregionen eine Welle sehr ähnlicher Reformen beobachten lässt, deutet dies auf eine gemeinsame Inspirationsquelle bzw. einen supranationalen Transfermechanismus hin. In der Tat lässt sich eine so genannte "neue Rentenorthodoxie" identifizieren, die den Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren propagiert und sich seit Mitte der neunziger Jahre international als dominante epistemische Gemeinschaft konstituiert hat.
Dass die Reformagenda der neuen Rentenorthodoxie gerade in Osteuropa und Lateinamerika auf fruchtbaren Boden fiel, ist kein Zufall. Beide Regionen waren in den neunziger Jahren maßgeblich von den Politikempfehlungen des neoliberalen "Washington Consensus" geprägt und vollzogen den Übergang von einem staatsinterventionistischen zu einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftsmodell. Berücksichtigt man, dass auch vielen Verfechtern des Kapitaldeckungsverfahrens ein Übergang vom Staat zum Markt in der Alterssicherung ein zentrales Anliegen ist, so lässt sich schlussfolgern, dass die Rentenprivatisierung in beiden Regionen insofern auf ein günstiges politisches Umfeld stieß, als sie gegenüber der dominanten politischen Agenda "anschlussfähig" war.
Substitutives, gemischtes und paralleles Rentenmodell
Auch wenn die lateinamerikanischen und osteuropäischen Rentenreformen einander im Kern sehr ähnlich sind, so fällt das jeweilige Mischungsverhältnis zwischen Staat und Markt, Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung, individualisierter und intergenerational organisierter Vorsorge von Land zu Land durchaus unterschiedlich aus. In einigen Staaten wurde das umlagefinanzierte, staatliche Alterssicherungssystem geschlossen und durch private, kapitalgedeckte Pensionsfonds ersetzt (substitutives Modell).
Während in Lateinamerika der substitutive Ansatz vorherrschend ist, dominiert bei den osteuropäischen Rentenreformen das gemischte Modell. Der Paradigmenwechsel war in den Transformationsländern also weniger weitreichend, und der Staat spielt auch nach der Teilprivatisierung des Rentensystems noch eine wichtige Rolle in der osteuropäischen Alterssicherung.
Pfadabhängigkeit von Reformen
Es ist in der Literatur zur Politischen Ökonomie von Reformen üblich, nach möglichen Pfadabhängigkeiten bzw. "policy feedback" zu fragen, die die Reformentscheidungen und -ergebnisse beeinflusst haben könnten. "Existing policies can set the agenda for change ... by narrowing the range of feasible alternatives."
Die Hypothese ist jedoch insofern nicht unproblematisch, als die Höhe der impliziten Rentenschuld alles andere als ein fixer Parameter ist. Vielmehr ist es übliche Praxis, die gegenüber den Versicherten bereits aufgelaufenen Verbindlichkeiten durch das Reformdesign selbst zu reduzieren, und zwar teilweise erheblich (z.B. in Bolivien und Peru). Die unvollständige Anerkennung der bestehenden Rentenansprüche - zu Lasten der künftigen Rentnergeneration - soll dazu beitragen, die beachtlichen fiskalischen Kosten der Rentenprivatisierung zu minimieren.
Krisen als Auslöser von Reformen
Ein weiterer Topos in der Literatur zur Politischen Ökonomie neoliberaler Reformen sind reformbegünstigende Krisen.
Krisen können Akteurkonstellationen nachhaltig verändern. Fiskalische Probleme stärken meist die Rolle des Finanzministers im Kabinett, während eine hohe Auslandsverschuldung die Einflussmöglichkeiten der Weltbank erhöht. Dabei ist das Gewicht der internationalen Finanzinstitutionen nicht ausschließlich an ihrem eigenen finanziellen Engagement zu messen; vielmehr senden diese bedeutende Signale an die Finanzwelt aus, welche die allgemeine Kreditwürdigkeit eines Landes verbessern oder verschlechtern können.
Die hier betrachteten Fallstudien zeigen, dass radikale Rentenreformen dann politisch durchsetzbar wurden, wenn das Sozialministerium nicht alleine agierte, sondern auch Finanzministerium und Weltbank Einfluss auf die rentenpolitische Paradigmenwahl nehmen konnten. Dies war in der Regel in einer Krisensituation der Fall. Das Wirtschafts- und Finanzressort ist meist der wichtigste lokale Befürworter einer Rentenprivatisierung. Die Ressortlogik erlaubt es, direkt an die inhärent makroökonomische Agenda der Rentenprivatisierer anzuknüpfen. Diese wird jedoch nur dann unterstützt, wenn die fiskalischen Übergangskosten vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem als tolerabel angesehen werden bzw. sich hierfür interne oder externe Finanzierungsmöglichkeiten finden lassen.
Umgang mit Reformgegnern
Das Sozialministerium mit seiner traditionellen Orientierung an den Bismarck- bzw. Beveridge-Modellen leistete häufig, aber durchaus nicht immer Widerstand gegen einen radikalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung. In Polen, Ungarn und Bulgarien zählte es zunächst zu den Reformgegnern, verlor dann jedoch den Machtkampf im Kabinett gegen das Finanzministerium. Im Anschluss daran wurden in diesen drei Ländern neue Sozialminister eingesetzt, die bereits ex ante auf die Rentenprivatisierung eingeschworen worden waren. Eine weitere Strategie zur Umgehung des Widerstands des Sozialressorts war dieBildung kleiner Reformteams, die nicht demSozialministerium, sondern dem Finanzministerium oder dem Premierminister unterstellt waren. Diese waren meist nicht mit lokal etablierten Sozialexperten (häufig Juristen), sondernmitimAusland ausgebildeten Ökonomen besetzt,was den Paradigmenwechsel ebenfalls erleichterte.
Linken Parteien und Gewerkschaften - traditionellen Gegnern des Sozialabbaus - kam ebenfalls nicht automatisch eine Oppositionsrolle zu.
In vier der untersuchten Länder - Uruguay, Argentinien, Polen und Kroatien - ist eine Konstellation nichtintendierter Effekte zu beobachten (vgl. Tabelle 2: s. PDF-Version). Eine besonders erfolgreiche Opposition gegen geplante parametrische Rentenreformen, teilweise unter Zuhilfenahme von Plebisziten und Gerichtsverfahren, zementierte den rentenpolitischen Status quo im Umlagesystem und verhinderte die rechtzeitige Nutzung der vorhandenen Stellschrauben. In Uruguay wurde eine generöse Form der Leistungsindexierung sogar verfassungsrechtlich verankert. Was zunächst ein maßgeblicher politischer Erfolg von Rentnerverbänden, Gewerkschaften und linken Parteien zu sein schien, wirkte mittelfristig extrem kostentreibend, während gleichzeitig die Anpassungsmechanismen im Umlagesystem erheblich beschnitten wurden. Da die politischen Alternativen also blockiert waren, wurde hierdurch letzten Endes der radikale Paradigmenwechsel in der Alterssicherung befördert.
Der Handlungsspielraum der Regierungen
Der Handlungsspielraum der Regierungen war in den acht untersuchten Fällen unterschiedlich. In Bolivien, Bulgarien, Ungarn und Uruguay verfügte die Regierung bei der Verabschiedung der Rentenreform über eine komfortable parlamentarische Mehrheit. Auch in Kroatien kontrollierte das autoritäre Tudjman-Regime mit seiner HDZ
Fazit
Es dürfte deutlich geworden sein, dass entgegen den gängigen Annahmen in der Wohlfahrtsstaatsliteratur eine Privatisierung der Alterssicherung durchaus politisch durchsetzbar sein kann - nicht nur unter Pinochet, Fujimori und Tudjman. Ein radikaler Paradigmenwechsel war in zahlreichen Ländern Lateinamerikas und Osteuropas auch in einem demokratischen Kontext möglich. Aufgrund der teilweise erheblichen Unterschiede in den politischen Kontextbedingungen und Akteurskonstellationen lassen sich die hier vorgestellten Ergebnisse nicht ohne weiteres auf die Bundesrepublik übertragen.