Eingebürgerte als potenzielle Wähler
Die Zusammensetzung der wahlberechtigten Bevölkerung verändert sich ständig. Dabei sind für die Wahlforschung traditionell vor allem die Veränderungen der einheimischen Wählerschaft von Interesse: Jungwähler kommen kontinuierlich zur wahlberechtigten Bevölkerung hinzu, die Gruppe der älteren Wählerinnen und Wähler gewinnt für den Wahlausgang immer größere Bedeutung, aber ungeachtet der steigenden Lebenserwartung scheiden mit der Zeit ganze Generationen aus der Gruppe der Wahlberechtigten aus. Es gehört zum Standardrepertoire der auf Umfragedaten oder der Repräsentativen Wahlstatistik fußenden Analysen, das Wahlverhalten in einzelnen Altersgruppen näher zu betrachten.
Viel weniger Beachtung haben bisher in der empirischen Wahlforschung eingebürgerte Personen gefunden. Erst im Laufe der neunziger Jahre und bei engen politischen Kräfteverhältnissen (vor allem 1994 und 2002) geriet auch diese Personengruppe ins Blickfeld der Parteien, der Medien und einiger Wissenschaftler. Insbesondere aufgrund des Paradigmenwechsels im Politikfeld Migration seit dem Regierungswechsel 1998,
Es gibt bislang nur wenige empirische Analysen des Wahlverhaltens eingebürgerter Personen in Deutschland. Neben mangelndem Interesse stellt es aufgrund der geringen Gruppengröße vor allem ein forschungspraktisches Problem dar, eingebürgerte Personen in ausreichender Zahl zu identifizieren und über den Königsweg der empirischen Sozialforschung, die Befragung, Informationen über das Wahlverhalten und dessen mögliche Motive in Erfahrung zu bringen.
Die Einbürgerungsentwicklung in Deutschland
Einbürgerungen hat es in der Bundesrepublik Deutschland immer gegeben, wenn auch erst seit Ende der achtziger Jahre in größerem Umfang. Das Hauptkontingent der Eingebürgerten stellten bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Aussiedler, die bis Juli 1999 auf der Grundlage von Art. 116 GG eingebürgert wurden.
Der Anstieg der Einbürgerungen, die nicht auf einen Aussiedlerstatus zurückgehen, ist durch die verschiedenen Einbürgerungserleichterungen als Folge des Ausländergesetzes aus dem Jahr 1990 und durch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) aus dem Jahr 1999 begründet. In die Gruppe der Nicht-Aussiedler fallen überwiegend ehemalige Gastarbeiter, die zwischen 1955 und 1973 rekrutiert wurden, deren Nachkommen und, in geringerem Umfang, Asylberechtigte. Das alte, auf dem ius sanguinis basierende Einbürgerungsrecht, das Einbürgerungen von Ausländern bis 1990 ausschließlich nach Ermessen (und nach zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland) ermöglichte und danach (bis 1999) im Prinzip noch längere Aufenthaltszeiten (15 Jahre für Erwachsene, acht Jahre für in Deutschland sozialisierte Jugendliche) zur Bedingung für eine Anspruchseinbürgerung machte, ließ die Einbürgerungsraten von Ausländern nur marginal ansteigen. In frühen Vergleichstabellen der Einbürgerungsraten von Ausländern in westlichen Ländern rangierte Deutschland stets mit 0,4 % weit abgeschlagen am Tabellenende.
Zusammensetzung der Gruppe eingebürgerter Personen in Deutschland
Aufgrund der Tatsache, dass insbesondere während der letzten 15 Jahre die meisten Neubürger Aussiedler gewesen sind, kann erwartet werden, dass die Gruppe Eingebürgerter aus Aussiedlerländern im Vergleich zu anderen Neubürgergruppen (v.a. aus ehemaligen "Gastarbeiterländern") am größten ist. Diese Erwartung wird durch die Ergebnisse aus den Politbarometern 1999 und 2001/02 (Tabelle 1: siehe PDF-Version) tatsächlich bestätigt.
Zugenommen hat dagegen der Anteil eingebürgerter Personen ehemals türkischer Staatsbürgerschaft. 2001/02 bildeten eingebürgerte Türken mit 13 % die drittgrößte Gruppe der Neubürger. Bei anhaltender Entwicklung - und es spricht wenig gegen eine Kontinuität - werden eingebürgerte Türken bei der nächsten Bundestagswahl, die regulär 2006 stattfinden wird, die zweitgrößte Gruppe der Neubürger bilden. Alle weiteren Differenzierungen nach ehemaliger Staatsangehörigkeit sind aufgrund zu geringer Fallzahlen wenig sinnvoll. Ein großer Rest der insgesamt rund 5 % eingebürgerter Personen in Deutschland kommt aus vielen verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern. Mit Blick auf die Veränderungen zwischen 1999 und 2001/02 ist lediglich noch der vergleichsweise starke Rückgang in der Gruppe zentraleuropäischer Länder (Österreich, Schweiz, Ungarn, Tschechische und Slowakische Republik) zu bemerken. Hier wirkt sich vor allem das hohe Durchschnittsalter in dieser Gruppe aus, so dass auch bezüglich der zentraleuropäischen Neubürger mit einem weiteren Anteilsrückgang zu rechnen ist.
Mit Blick auf die soziodemographische Zusammensetzung eingebürgerter Personen (Tabelle 2) zeigt sich, dass lediglich 17 % der Neubürger in Deutschland geboren wurden. Nahezu sämtliche Eingebürgerte mit der ehemaligen Staatsbürgerschaft eines Aussiedlerlandes wurden im Ausland geboren, jedoch nur knapp zwei Drittel der eingebürgerten Türken. Dieser Umstand sollte für eingebürgerte Türken hinsichtlich ihres Kenntnisstandes der politischen Landschaft in Deutschland von Vorteil sein. Insbesondere diese, aber auch die Eingebürgerten aus der Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten und aus Polen sind jünger als gebürtige Deutsche. Interessanterweise unterscheiden sich die Bildungsgrade zwischen Eingebürgerten und gebürtigen Deutschen kaum. Allerdings haben die meisten Aussiedler ihre Schulabschlüsse wohl nicht in Deutschland, sondern im Auswanderungsland erworben.
Betrachtet man die Berufsgruppenzugehörigkeit, dann zeigt sich, dass mehr Eingebürgerte (24 %) als gebürtige Deutsche (17 %) in keine dieser Kategorien passen. Dies resultiert vor allem aus der Tatsache, dass der Anteil Eingebürgerter, die noch in der Schule oder in Ausbildung sind, unter Eingebürgerten rund 5 Prozentpunkte höher liegt als unter gebürtigen Deutschen (8 %). Insbesondere Russlanddeutsche und eingebürgerte Türken weisen hier hohe Anteile (jeweils 18 %) von Personen auf, die sich in der ein oder anderen Form noch in Ausbildung befinden. Zudem zeigen sich vor allem bei Russlanddeutschen hohe Arbeitslosigkeitsraten: Trotz der Tatsache, dass es eine sozial nicht erwünschte Antwort in Umfragen ist, sich als arbeitslos zu bekennen, liegt dieser Anteil unter Russlanddeutschen mit 12 % dreimal so hoch wie unter gebürtigen Deutschen (4 %).
Eingebürgerte sind in der Regel religiös. Der Anteil derer, die keine Religionszugehörigkeit angeben, ist niedriger als unter gebürtigen Deutschen, die Anteile der Katholiken und Muslime dagegen höher. Letztere sind auf polnische bzw. türkische und südosteuropäische Neubürger zurückzuführen. Höchst interessant ist in diesem Zusammenhang, dass eingebürgerte Türken ihren Glauben wohl insgesamt weniger intensiv praktizieren als Aussiedler. In der Heidelberger Befragung des Jahres 1999 gaben lediglich 11 % an, regelmäßig in eine Moschee zu gehen. Dieser niedrige Anteil mag mit einer geringeren Verfügbarkeit von Moscheen zu tun haben, doch auch bei einer Frage nach der Selbsteinschätzung der eigenen Religiosität lagen eingebürgerte Muslime hinter eingebürgerten Katholiken und Protestanten.
Diese Details über die Religionszugehörigkeit sind ebenso wichtig für einen konfliktlinienorientierten Blick auf politische Präferenzen und das Wahlverhalten eingebürgerter Personen wie die Frage nach einer Affinität zu Gewerkschaften.
Politisches Interesse und politische Informiertheit
Im Vorfeld der Beteiligung an einer Wahl und der Entscheidung für oder gegen eine Partei bzw. ein Parteilager erscheint es wichtig, danach zu fragen, inwieweit Politik Neubürger überhaupt interessiert und welcher Informationsgrad den etwaigen Wahlentscheidungen zugrunde liegt. Da die Frage nach dem Politikinteresse sozial erwünsche Antworten befördert, hat sich der Anteil derjenigen, die angeben, sich stark für Politik zu interessieren, als guter Indikator für tatsächlich vorhandenes politisches Interesse erwiesen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf Defizite bei der Kenntnis von Parteien und führenden Politikern (Tabelle 4: siehe PDF-Version). Eingebürgerte Personen weisen hier deutlich höhere Anteile an Unkenntnis auf als gebürtige Deutsche. Sowohl hinsichtlich der Parteien als auch im Hinblick auf führende Politiker besteht unter Eingebürgerten aus der Sowjetunion oder deren Nachfolgestaaten die größte Unkenntnis. Eingebürgerte aus Polen schneiden insgesamt am besten ab, doch zumindest im Bezug auf die Parteien zeigt sich auch bei eingebürgerten Türken ein hoher Kenntnisstand. Es spielt hierbei und beim politischen Interesse im Übrigen keine Rolle, ob eingebürgerte Türken in Deutschland oder im Ausland geboren wurden. Von Letzteren interessieren sich 31 % für Politik, und sie zeigen eine sehr ähnliche, durchschnittliche Unkenntnis von Parteien (9,4 %) und Politikern (20,2 %). Trotz der Unterschiede nach ehemaliger Staatsangehörigkeit und obwohl in Deutschland geborene Neubürger insgesamt ein etwas stärkeres politisches Interesse zeigen, lassen sich mit soziodemographischen und migrationsspezifischen Variablen politisches Interesse und politische Informiertheit nicht allzu gut erklären.
Wahlbeteiligung
Analysen, die über die politische Beteiligung von Einwanderern in anderen Ländern vorliegen,
Die Politbarometer-Daten zeigen alles in allem geringe Beteiligungsunterschiede zwischen gebürtigen Deutschen und Einwanderern. Wenn man Antwortverzerrungen beiseite lässt, die durch die soziale Erwünschtheit, wählen zu gehen, entstehen, gaben in den Politbarometern im Jahr vor der letzten Bundestagswahl 87 % der gebürtigen Deutschen und 82 % der Eingebürgerten an, sich an der Wahl beteiligen zu wollen. Eingebürgerte ehemals türkischer Staatsbürgerschaft und Russlanddeutsche liegen mit Beteiligungsraten von jeweils 78 % am Ende, Rumäniendeutsche bilden mit 88 % die Spitze.
Die Wahlbeteiligung eingebürgerter Personen variiert erheblich nach dem Alter.
Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen
Parteipolitik reflektiert in erheblichem Ausmaß eigene (ideologische) Grundpositionen und kommt damit zumeist den die jeweilige Partei unterstützenden gesellschaftlichen Gruppen zugute.
Zu high politics wurden Migrationsfragen Anfang der neunziger Jahre - die heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen führten 1992 zum so genannten "Asylkompromiss", bei dem Zuzugsbeschränkungen sowohl für Aussiedler als auch Asylsuchende getroffen wurden, obwohl diese Asylbewerber sehr viel härter trafen als Aussiedler. Spätestens 1992/93 wurden ideologische Grundpositionen (monokulturell vs. multikulturell) und gruppenspezifische Präferenzen (pro Aussiedler vs. pro Ausländer) der Parteien sehr deutlich, obwohl die Parteien unisono davon sprachen, dass nun vor allem die Integration der in Deutschland lebenden Ausländer verbessert werden sollte.
Die in Tabelle 5 (siehe PDF-Version) ausgewiesenen langfristigen Parteibindungen (Parteiidentifikation) und die geäußerten Wahlabsichten erscheinen vor dem Hintergrund der skizzierten Parteipolitiken mehr oder weniger zwangsläufig zu sein. Überraschend ist zunächst, dass in den ausgewiesenen Neubürgergruppen jeweils mindestens die Hälfte der Befragten (50 % bis 59 %) angibt, einer Partei langfristig zuzuneigen. Damit liegen die Anteile an eine Partei langfristig gebundener Neubürger annähernd so hoch wie unter gebürtigen Deutschen (63 %). Auf der Grundlage dessen, was wir über die Entwicklung langfristiger Parteibindungen wissen,
Kleine Parteien scheinen für Neubürger insgesamt weniger attraktiv zu sein, und die verschiedenen Neubürgergruppen scheuen zudem jeweils bestimmte Parteien. Eingebürgerte Türken meiden die CDU/CSU, während die SPD unter Eingebürgerten aus der Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten und aus Rumänien stark unterrepräsentiert ist. Diese prononcierten Partei-Unterstützungsprofile der Neubürger können im Ausmaß lediglich mit einigen wenigen sozioökonomischen Untergruppen bei gebürtigen Deutschen verglichen werden. So erwiesen sich im exit poll von ZDF und Forschungsgruppe Wahlen zur Bundestagswahl 2002 nur kirchengebunde Katholiken als genauso ausgeprägte Unionsanhänger (73 %) wie Russlanddeutsche.
Tabelle 5 beinhaltet neben langfristigen Parteibindungen und den Ergebnissen auf die Wahlabsichtsfrage auch so genannte Parteipotenziale nach ehemaliger Staatsangehörigkeit. Diese entstehen durch die Kombination von Antworten auf zwei Fragen im Politbarometer:
Im Rahmen dieses Beitrags soll sich die Aufmerksamkeit nicht auf Kandidatenorientierungen, Lösungskompetenzen der Parteien und Bewertungen der Regierungs- und Oppositionsarbeit konzentrieren, die selbstverständlich auch für Neubürger Einfluss auf die individuelle Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2002 besaßen. Hierauf wurde an anderer Stelle intensiver eingegangen.
Ausblick
Die politischen Präferenzen und das Wahlverhalten eingebürgerter Personen sind nach den bisher gezeigten und berichteten Ergebnissen prägnant. Doch sind diese gruppenspezifischen Muster auch im Zeitverlauf konstant? Werden Russlanddeutsche auch in zwei, fünf oder zehn Jahren zu drei Vierteln die CDU/CSU wählen und eingebürgerte Türken zu über 60 % die SPD? Prospektivisch lässt sich diese Frage nur qualitativ und nicht quantitativ beantworten. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die gezeigten parteipolitischen Präferenzmuster zumindest mittelfristig, d.h. in den nächsten Jahren und zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl, recht stabil bleiben werden. Diese Einschätzung beruht auf der Prägnanz (Parteipotenziale) und Tiefe (Parteiidentifikation) der Präferenzen in der Gegenwart, aber auch auf Ergebnissen einer retrospektiven Sicht, die in Abbildung 2 dargestellt sind: Wenn wir die vor 1995 mit danach eingebürgerten Russlanddeutschen und Türken vergleichen, dann zeigt sich vor allem, dass das jeweils gemiedene Lager nur mäßig von Veränderungen politischer Präferenzen profitiert. Trotz gewisser Variationen, die durchaus auch auf den niedrigen Fallzahlen beruhen können, bleiben die Präferenzen prägnant und signifikant verschieden. Demnach sollten starke Veränderungen innerhalb kurzer Zeit unwahrscheinlich sein, zumal eine veränderte sozialstrukturelle Zusammensetzung (z.B. durch beruflichen Aufstieg) oder eine bessere gesellschaftliche Integration den bisherigen Analysen zufolge nur geringe Effekte auf parteipolitische Präferenzen hat.
Wenn parteipolitische Präferenzen in den verschiedenen Neubürgergruppen tief verankert sind, dann bedürfte es in jedem Fall erst einmal ausreichender Zeit, diese zu ändern. Auch die erste als deutsche Staatsbürger geborene Generation wird zu einem großen Teil, zumindest anfangs, die Präferenzen der Elterngeneration übernehmen.