Einleitung
Bei der Bundestagswahl 2002 gab es wieder fünf Überhangmandate. Obwohl dies deutlich weniger sind als in den beiden letzten Bundestagswahlen (1994: 16, 1998: 13), haben Überhangmandate weiterhin politische Sprengkraft. Gerade beim äußerst knappen Ausgang der letzten Bundestagswahl war erkennbar, dass Überhangmandate immer noch das Potenzial besitzen, die politischen Folgen einer Wahl zu bestimmen. Durch die Überhangmandate wurde die SPD z.B. größte Fraktion im Deutschen Bundestag und hatte damit automatisch Anspruch auf den Posten des Bundestagspräsidenten. Dass schon kleine Differenzen ausschlaggebend sein können, zeigt auch das Beispiel der Bundestagswahl von 1994. Damals errang die Koalition von CDU/CSU und FDP ebenfalls nur eine hauchdünne Mehrheit von zwei Sitzen gegenüber der Opposition, die sich mit Hilfe der angefallenen Überhangmandate auf zehn erhöhte. Da mindestens drei Abgeordnete der Koalition damals jedoch bei der Wahl des Bundeskanzlers nicht für Helmut Kohl stimmten, könnten die Überhangmandate so Helmut Kohl seine Kanzlerschaft gerettet haben. Anstatt wie 1994 oder 2002 knappe Mehrheiten zu stabilisieren, können Überhangmandate diese aber genauso gut umkehren. Es ist offensichtlich, dass dies aus demokratietheoretischen Gründen nicht gewollt sein kann. Die weiter existierenden Überhangmandate müssen daher als politisches Problem gesehen werden, für das dringend Abhilfe geschaffen werden sollte.
Die Mechanik der Entstehung von Überhangmandaten
Überhangmandate entstehen, wenn die Anzahl der direkt in einem Bundesland gewonnenen Mandate einer Partei höher ausfällt als die Anzahl der Mandate, die ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil dort zustehen würden. Die Zuteilung der Sitze erfolgt dabei nach der zweimaligen Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens. Daher werden diese regulär zugeteilten Mandate im Folgenden auch als Hare-Niemeyer-Mandate bzw. einfacher als HN-Mandate bezeichnet. Die Berechnung geht dabei im Einzelnen folgendermaßen vor sich: Zuerst wird ermittelt, welche Parteien die Fünfprozenthürde übersprungen oder (auch) mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Nur diese Parteien nehmen an der Verteilung der regulären Sitze teil. Das waren bei der Bundestagswahl 2002 SPD, CDU, CSU, GRÜNE und FDP. Jetzt wird die Anzahl der zu verteilenden Sitze bestimmt. Da die PDS zwei Direktmandate errungen hatte, aber nicht an der Sitzverteilung nach Zweitstimmen teilnahm, wurden diese zwei Mandate von der regulären Anzahl der Sitze von 598 abgezogen. Es verblieben demnach 596 reguläre Sitze. Die Zweitstimmen verteilten sich auf die Parteien wie in Tabelle 1 (siehe PDF-Version) dargestellt.
Im ersten Schritt wird die so genannte Oberverteilung der Sitze berechnet, d.h. die Verteilung der Sitze auf die verschiedenen Parteien. Hierfür wird für jede Partei zuerst die exakte (nicht ganzzahlige) Anzahl der Sitze bestimmt, die ihr aufgrund ihres Anteils an Stimmen zusteht. Die SPD z.B. hatte 18 488 668 gültige Zweitstimmen erhalten. Alle fünf Parteien zusammen hatten 44 620 479 erhalten, d.h. die SPD bekam 41,44 Prozent aller Zweitstimmen der fünf Parteien. Dem genau gleichen Anteil entsprechen 246,95 von 596 Sitzen. Analog zur beschriebenen Vorgehensweise erhielten die CDU 189,24, die CSU 57,64, die FDP 47,27 und die GRÜNEN 54,90 Sitze. Nun wurde den Parteien der ganzzahlige Anteil zugewiesen. Es verblieben drei noch nicht verteilte Sitze. Diese wurden den Parteien zugeteilt, welche die drei größten Restzahlen hinter dem Komma stehen hatten, also der SPD, den GRÜNEN und der CSU. Die endgültige Oberverteilung der Sitze bestand daher aus 247 Sitzen für die SPD, 189 für die CDU, 58 für die CSU, 47 für die FDP und 55 für die GRÜNEN.
Die Landeslisten von Parteien, die in mehreren Bundesländern antreten, werden nach Paragraph 7 (1) des Bundeswahlgesetzes automatisch als verbundene Landeslisten behandelt. Die Sitze, die einer Partei im gesamten Bundesgebiet zustehen, müssen nun auf die verschiedenen Landeslisten aufgeteilt werden. Dies ist die so genannte Unterverteilung. Da die CSU nur in Bayern antritt, nimmt die CSU nicht an der zweiten Stufe der Sitzzuteilung teil. Auch bei der zweiten Stufe wird wieder das Hare-Niemeyer-Verfahren angewandt, wonach sich die Ergebnisse in Tabelle 2 (siehe PDF-Version) ermitteln.
Nach der doppelten Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens ergaben sich für 2002 die in Tabelle 3 aufgeführten endgültigen Sitzzuteilungen der regulären Mandate. Außerdem sind in der Tabelle die in den jeweiligen Ländern errungenen Direktmandate der Parteien aufgeführt.
Von den auf ein Bundesland entfallenden HN-Mandaten werden jetzt die dort erzielten Direktmandate abgezogen, und die restlichen Mandate werden entsprechend der Landesliste verteilt. In jedem Fall behält eine Partei also immer alle von ihr gewonnenen Direktmandate. Die endgültige Anzahl der Sitze, die eine Partei in einem Bundesland erhält, ist daher das Maximum aus Direktmandaten und HN-Mandaten. In Hamburg z.B. errang die SPD sechs Direktmandate, aber nach ihrem Zweitstimmenanteil hätten ihr nur fünf Mandate zugestanden. Da die SPD aber alle sechs Wahlkreismandate behielt, entstand hier ein Überhangmandat. Weitere Überhangmandate entstanden in Sachsen (CDU), in Sachsen-Anhalt (SPD: zwei) und in Thüringen (SPD). Die SPD erhielt also insgesamt vier Überhangmandate, die CDU eines. Da eine Partei für jedes Mandat, das ihr nach dem HN-Verfahren zugeteilt wurde, ungefähr 75 000 Zweitstimmen als "Preis" entrichten musste, heißt das, dass die Überhangmandate einen Effekt erzielten, als ob weitere 300 000 "virtuelle" Wähler die SPD und weitere 75 000 virtuelle Wählerinnen und Wähler die CDU gewählt hätten. Der Effekt der Überhangmandate für die SPD kann daher so interpretiert werden, als ob aufgrund der magischen Überhangmandate gleichsam aus dem Nichts eine mittlere Großstadt entstanden wäre, deren Bürger ausschließlich SPD-Wähler wären.
Ohne Überhangmandate hätte die rot-grüne Koalition 302 von 598 Sitzen gehabt, d.h. nur zwei Sitze mehr als die von ihr zur Kanzlerwahl benötigte absolute Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Mit Hilfe der Überhangmandate jedoch kam die rot-grüne Koalition auf 306 Stimmen, wobei die Größe des Bundestags auf 603 Abgeordnete anwuchs. Damit hatte die Koalition 4 Mandate mehr, als sie mindestens zur Kanzlerwahl benötigte.
Dabei hätten ohne weiteres noch deutlich mehr Überhangmandate entstehen können. In Berlin z.B. errang die SPD neun Direktmandate, das ist auch genau die Anzahl der Mandate, die ihr aufgrund ihres Zweitstimmenanteils zugestanden hätte. Jedes weitere errungene Direktmandat wäre hier ein Überhangmandat gewesen. Dies ist besonders brisant, da in den drei von der SPD nicht gewonnenen Wahlkreisen bizarre Formen des Stimmensplittings auftraten. In allen drei Wahlkreisen nämlich lag die SPD nach Zweitstimmen an erster Stelle. Im Wahlkreis 87 (Berlin-Lichtenberg) verlor sie den Sitz dennoch an die PDS-Abgeordnete Gesine Lötzsch, im Wahlkreis 86 (Berlin-Marzahn-Hellersdorf) an die PDS-Abgeordnete Petra Pau und im Wahlkreis 84 (Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost) an den Direktkandidaten der GRÜNEN, Hans-Christian Ströbele. Diese besonders ungewöhnliche Form des Splittings lässt sich wohl nur mit der Person Ströbeles erklären. Der Gewinn des Wahlkreises durch Ströbele hat also keineswegs die PDS aus dem Bundestag herausgehalten, wie manchmal behauptet wird, denn die PDS hätte in diesem Wahlkreis offensichtlich kaum Chancen gehabt. Vielmehr hat Ströbeles Direktmandat die rot-grüne Koalition ein zusätzliches Mandat gekostet, weil sie ohne dieses in den Genuss eines weiteren Überhangmandats gekommen wäre.
Noch interessanter sind die Fälle, in denen zusätzliche Überhangmandate und damit auch mehr Mandate für eine Partei hätten anfallen können, wenn sie weniger Stimmen bekommen hätte. Die SPD errang in Brandenburg alle zehn Direktmandate. Da sie aber auch nach dem HN-Verfahren zehn Mandate erhalten hätte, entstand kein Überhangmandat. Hätte die SPD in Brandenburg nur 549 Zweitstimmen weniger erzielt, dann wäre das achte zu verteilende Restmandat nicht auf Brandenburg, sondern auf Bremen gefallen (vgl. Tabelle 2: siehe PDF-Version). In der Oberverteilung wäre der SPD durch diesen geringfügigen Verlust an Stimmen kein Mandat verloren gegangen. Durch weniger Stimmen in Brandenburg hätte die SPD also ein Listenmandat in Bremen hinzugewonnen. Ebenfalls wären mehr Überhangmandate entstanden, hätte die PDS den Einzug in den Bundestag geschafft, indem sie z.B. in Berlin ein drittes Direktmandat erzielt hätte. Bei ansonsten gleichen Zweitstimmenanteilen der Parteien wären dann statt fünf Überhangmandaten acht entstanden, je ein weiteres in Brandenburg (SPD), in Sachsen (CDU) und in Thüringen (SPD).
Die Ursachen der Entstehung von Überhangmandaten
Überhangmandate entstehen, wenn die Direktmandate, die eine Partei in den Wahlkreisen aufgrund der Erststimme gewinnt, nicht alle durch die HN-Mandate gedeckt sind, die der Partei aufgrund der Zweitstimmen zustehen. Der Anteil der Direktmandate an allen regulären Mandaten beträgt bundesweit 50 Prozent. Unter "normalen" Umständen entspricht daher auch die Anzahl der Direktmandate, die in einem Bundesland erzielt werden können, ungefähr der Hälfte der HN-Mandate, die aufgrund der Zweitstimmen auf dieses Bundesland für alle Parteien zusammen entfallen. Wir können für diesen "Normalfall" deshalb folgende Faustregel formulieren: Überhangmandate entstehen dann, wenn der Anteil der durch eine Partei errungenen Direktmandate an allen Direktmandaten mehr als doppelt so hoch ausfällt wie der Anteil der Zweitstimmen dieser Partei in diesem Bundesland. Dabei nehmen wir an, dass der Anteil an Zweitstimmen einer Partei an allen verrechneten Zweitstimmen, die in diesem Bundesland abgegeben wurden, ungefähr dem Anteil der HN-Mandate der Partei an allen auf das Bundesland entfallenden HN-Mandaten entspricht. Nach der Faustregel erhält eine Partei, die z.B. 40 Prozent der Zweitstimmen erhalten hat, dann Überhangmandate, wenn sie mehr als 80 Prozent der Direktmandate gewinnen kann. Dabei muss der Überschuss gegenüber dem kritischen Schwellenwert von 80 Prozent so groß ausfallen, dass er einem Mandat entspricht. Nehmen wir ein Bundesland mit 20 Wahlkreisen an, auf das insgesamt 40 HN-Mandate entfallen. Eine Partei mit 40 Prozent der Zweitstimmen hätte demnach 16 HN-Mandate erhalten. Gewinnt diese Partei nun mindestens 17 der 20 Direktmandate, also mindestens 85 Prozent der Direktmandate, dann entsteht mindestens ein Überhangmandat. Offensichtlich kann eine Partei, die mindestens 50 Prozent der Zweitstimmen erhält, nach der Faustregel keine Überhangmandate erzielen, denn sie kann ja nicht mehr als 100 Prozent der Direktmandate gewinnen. Je stärker eine Partei mit ihrem Zweitstimmenanteil unter 50 Prozent liegt, desto größer ist das theoretisch zu erringende Potenzial an Überhangmandaten. Andererseits gilt jedoch: Je weniger Stimmen sie erhält, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass sie viele Direktmandate gewinnt. Um einen Großteil der Direktmandate gewinnen zu können, muss eine Partei deutlich vor ihren Konkurrenten liegen. Um z.B. ungefähr 80 Prozent der Direktmandate zu erhalten, muss eine Partei durchschnittlich ungefähr sieben Prozentpunkte vor allen ihren Konkurrenten liegen.
Bisher gingen wir davon aus, dass die Anzahl der Direktmandate ungefähr die Hälfte der HN-Mandate ausmacht, wie es den "normalen", d.h. den bundesweiten Verhältnissen entspricht. Tatsächlich aber weicht dieser Anteil der Direktmandate an den HN-Mandaten zwischen den Bundesländern erheblich ab. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Bleiben wir bei unserem Beispielbundesland mit 20 Direktmandaten. Jetzt aber sollen auf dieses Bundesland nur noch 30 HN-Mandate entfallen. Der Anteil der Direktmandate an den HN-Mandaten beträgt also nicht mehr 50 Prozent, sondern ist auf zwei Drittel bzw. 67 Prozent angewachsen. Eine Partei mit 40 Prozent der Zweitstimmen erhielte jetzt zwölf HN-Mandate, d.h. ab dem 13. Direktmandat für diese Partei fallen Überhangmandate an. Die Partei muss nicht mehr 85 Prozent, sondern nur noch 65 Prozent der Direktmandate gewinnen, um Überhangmandate zu erhalten.
Je geringer der Anteil aller Direktmandate an den HN-Mandaten in einem Bundesland ausfällt, desto leichter können in diesem Bundesland Überhangmandate entstehen. Alle Faktoren, die bewirken, dass die durchschnittliche Anzahl an Zweitstimmen, die in einem Bundesland auf einen Wahlkreis entfallen, besonders niedrig ist, begünstigen demnach die Entstehung von Überhangmandaten. Die wichtigsten dieser Faktoren sind die Wahlkreiseinteilung, die Wahlbeteiligung und hohe Stimmengewinne von Parteien, die nicht an der Sitzverteilung nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren teilnehmen, weil sie an der Fünfprozenthürde gescheitert sind. Am einflussreichsten war von diesen Faktoren von 1990 bis 1998 die Wahlkreiseinteilung. Da die Wahlkreise in den neuen Ländern zu klein zugeschnitten waren, entfielen auf diese im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung zu viele Direktmandate. Als Folge der Neueinteilung der Wahlkreise im Jahr 2001 spielte dieser Faktor bei der Bundestagswahl 2002 jedoch keine Rolle mehr.
Die letzte wichtige Ursache für die Entstehung von Überhangmandaten ist das Stimmensplitting. Direktmandate werden ja gewonnen, wenn man eine relative Mehrheit der Erststimmen in einem Wahlkreis erreicht. Je mehr Erststimmen eine Partei im Verhältnis zu ihrem Zweitstimmenanteil hat, desto leichter ist es für sie, einen überwiegenden Teil der Direktmandate zu gewinnen. Die Partei in unserem Beispiel, die 40 Prozent der Zweitstimmen bekommt, muss über 80 Prozent der Direktmandate gewinnen, um zu Überhangmandaten zu gelangen. Natürlich fällt ihr dies wesentlich leichter, wenn sie nicht nur 40 Prozent, sondern 50 Prozent der Erststimmen erhält, also, wenn massives Stimmensplitting zugunsten der Partei bezüglich der Erststimme auftritt.
Einzelne Überhangmandate entstehen niemals aufgrund einer bestimmten singulären Ursache. Vielmehr kommen Überhangmandate nur durch das gemeinsame Wirken aller erwähnten Ursachen zustande. Einzelne Ursachenkomponenten können sich dabei eher gegen eine Entstehung, andere zugunsten einer Entstehung von Überhangmandaten auswirken, entscheidend ist lediglich, dass der gesamte simultan wirkende Komplex an Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten ein Überhangmandat zustande bringt. So hätte die CDU z.B. bei der Bundestagswahl 2002 in Sachsen nur neun der 17 Direktmandate erhalten, wenn alle Wähler mit ihrer Erststimme genauso abgestimmt hätten wie mit ihrer Zweitstimme. Durch massives Stimmensplitting konnte aber die CDU tatsächlich 13 Direktmandate gewinnen. Wären auf das Land insgesamt 34 HN-Mandate entfallen, wie es den 17 Wahlkreisen in Sachsen entsprochen hätte, dann hätte die CDU mit ihren 42,6 Prozent der Zweitstimmen auf jeden Fall mindestens 14 Mandate erhalten. Tatsächlich aber entfielen auf das Land aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung und vor allem aufgrund der weggefallenen PDS-Stimmen nur 28 HN-Mandate, von denen die CDU dann 12 erhielt. Das Überhangmandat konnte also nur durch ein Zusammenwirken von Stimmensplitting, niedriger Wahlbeteiligung und Nichtverrechnung der PDS-Stimmen entstehen.
Die Tatsache, dass in den letzten Bundestagswahlen Überhangmandate vor allem in den neuen Ländern entstanden sind, ist daher darauf zurückzuführen, dass es dort zu einer brisanten Kombination von sich gegenseitig verstärkenden Ursachen gekommen ist, die alle zugunsten der Entstehung von Überhangmandaten wirken.
Der Dualismus der Überhangmandate
Es ist relativ einfach, die Art und Weise der Entstehung von Überhangmandaten zu beschreiben. Auch die Erläuterung der Ursachen und der Art ihres Wirkens fällt nicht schwer. Wesentlich komplizierter ist hingegen die Beantwortung der Frage, was Überhangmandate denn genau sind. Handelt es sich bei diesen z.B. um Direktmandate oder Listenmandate? Für erstere Ansicht würde ja sprechen, dass Überhangmandate dadurch entstehen, dass eine Partei mehr Direktmandate bekommt, als ihr an HN-Mandaten zustehen würden, dass sie also "zu viele" Direktmandate erhält. Andererseits aber sind die zusätzlich anfallenden Mandate offensichtlich alle Listenmandate, da die Anzahl der Direktmandate ja fix gehalten wird.
Bei den Überhangmandaten könnte man von einem Dualismus sprechen, denn je nach Betrachtungsweise sind sie einmal Direktmandate und einmal Listenmandate. Am einfachsten lässt sich dieses Phänomen vielleicht verstehen, wenn man eine Analogie aus der Buchführung benutzt. Demnach kaufen die Parteien zwei Arten von Artikeln, nämlich Direkt- und Listenmandate, die sie in der Währung der ihnen zustehenden HN-Mandate bezahlen müssen. Überhangmandate entstehen dann dadurch, dass nicht alle in einem Land erworbenen Direktmandate durch die Bezahlung in HN-Mandaten gedeckt sein müssen. Die Parteien erhalten in diesen Ländern zusätzliche Direktmandate als Rabatt oder Geschenk, die sie nicht in HN-Mandaten begleichen müssen. Der so eingesparte Betrag in HN-Mandaten kann dann zum "Kauf" weiterer Listenmandate eingesetzt werden.
Da nicht einmal festgestellt werden kann, ob es sich bei Überhangmandaten um Direktmandate oder Listenmandate handelt, folgt daraus logisch, dass es auch nicht möglich sein kann, die Überhangmandate einzeln zu identifizieren. Demnach wäre es in der Tat angemessener, im Zusammenhang mit dieser Problematik weniger von Überhangmandaten als vielmehr von einem "Überhang an Mandaten" zu sprechen, wie es von Hans Mayer vorgeschlagen worden ist
Das rechtliche Problem der Überhangmandate
Das Wahlsystem der Bundesrepublik selbst ist nicht in der Verfassung, sondern im Bundeswahlgesetz festgelegt. Dadurch kann das Wahlsystem jederzeit im Rahmen der normalen Gesetzgebung geändert werden. Im Grundgesetz enthalten sind lediglich die Wahlrechtsgrundsätze, die in Art. 38 aufgeführt sind. Die juristische Diskussion wurde daher fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt geführt, inwieweit die Überhangmandate den Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit verletzen.
Entsprechend dem Umstand, dass die Ausgestaltung des Wahlsystems Angelegenheit des Gesetzgebers ist, legte das Bundesverfassungsgericht in seinen ersten grundlegenden Entscheidungen fest, dass der Grundsatz der Wahlgleichheit "systemgebunden"
Als bei der Bundestagswahl 1994 die bis dahin unbekannte und auch später nicht mehr erreichte Größenordnung von 16 Überhangmandaten zustande kam, veranlasste dies das Land Niedersachsen unter seinem damaligen Ministerpräsidenten Schröder zur Anstrengung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Am 10. April 1997 verkündeten die Richter das bisher umfangreichste Urteil zu den Überhangmandaten,
Es kann hier auf das Urteil nicht ausführlich eingegangen werden,
Das politische Problem der Überhangmandate
Die Frage, ob Überhangmandate nun wirklich gegen die Verfassung verstoßen oder nicht, ist aber gar nicht so entscheidend. Zwar wäre der Gesetzgeber im Falle einer Verfassungswidrigkeit gezwungen zu handeln, aber ein Anlass zu handeln besteht für den Gesetzgeber ja auch dann, wenn ein offensichtliches Problem in einem Bereich auftritt, der durch Gesetze geregelt ist. In diesem Fall gilt es, schlechte Gesetze durch bessere zu ersetzen. Und genau einen solchen Fall stellen die Überhangmandate ohne Zweifel dar. Denn sie widersprechen in mehrfacher Hinsicht unseren Intuitionen, wie denn ein gelungenes Design eines Wahlsystems auszusehen hätte.
Zuerst will ich die Frage behandeln, ob Überhangmandate unter Umständen gar nicht als Übel empfunden werden, sondern sogar mit guten Gründen gewollt sein können. Es gibt meines Wissens ein einziges Argument, das in diese Richtung zielt. Dieses Argument besagt, dass Überhangmandate eine bewusst geschaffene Konsequenz des Personenwahlelements sind, da sie als "Prämie" verstanden werden können, die den Parteien zugesprochen wird, die sich durch die Aufstellung besonders attraktiver Kandidaten um eine Verankerung in der Bevölkerung besonders bemüht haben.
Kommen wir zu den Nachteilen: Auf jeden Fall verletzen Überhangmandate das Prinzip der Erfolgswertgleichheit und somit auch eine Grundanforderung nach Gerechtigkeit und Fairness, die wir an ein gutes Wahlsystem stellen. Erfolgschancengleichheit ist eben gerade nicht ein Garant für Fairness, da sie lediglich die gleiche Chance verspricht, einen an sich ungerechten Vorteil zu erzielen. Im Sinne gängiger Gerechtigkeitstheorien können ungleiche Verteilungen einer konstanten Menge, wenn überhaupt, nur auf zweierlei Weise gerechtfertigt werden. Zum einen dann, wenn sie auf unterschiedlichen Ansprüchen beruhen, wie es der Fall wäre, wenn das Prämienargument Gültigkeit hätte. Zum anderen dann, wenn die Ungleichheit der Verteilung prinzipiell unvermeidbar ist, wie es z.B. bei einem unteilbaren Gut der Fall wäre. In einem solchen Fall würde der Fairness am besten durch eine gleiche Chance, das Gut zu erhalten, Genüge getan.
Ein gutes Wahlsystem sollte außerdem gegen Möglichkeiten der Manipulation gefeit sein. Wahlsysteme sollten die Wähler dazu anhalten, im Sinne ihrer aufrichtigen, unmittelbaren Präferenzen zu stimmen. Wahlsysteme, die den Wählern Anreize zu taktischen Verhalten bieten, sind daher problematisch, da sie sich ihrer eigenen legitimatorischen Grundlage, der Erkundung des wahren Wählerwillens, berauben. Die mögliche Gewinnung von Überhangmandaten durch gezieltes Praktizieren von Stimmensplitting stellt aber genau einen solchen Anreiz zu taktischem Verhalten her.
Eine grundlegende Funktion von Wahlen besteht in der Legitimation der gewählten Regierung. In einem Verhältniswahlsystem besteht diese Legitimation einer Sitzmehrheit der Regierungskoalition darin, dass sie mehr Stimmen erhalten hat als die Opposition. Wenn nun die Mehrheit der Sitze aber nicht auf einer Mehrheit von Stimmen, sondern auf Überhangmandaten beruhen würde, so würde dies mit Sicherheit unweigerlich zu einer Legitimationskrise der Regierung führen. Wie nahe an der Wirklichkeit ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse durch Überhangmandate tatsächlich ist, konnte man gut an der Bundestagswahl 2002 verfolgen, als es eine Zeitlang nach den Hochrechnungen am Wahlabend sogar tatsächlich danach aussah, als könnte der Sieger der Wahl erst durch die Überhangmandate bestimmt werden.
Die Beseitigung des Problems
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, das Problem der Überhangmandate zu beseitigen, die in der Literatur erörtert werden.
Überhangmandate stellen mit Sicherheit einen Makel des Wahlsystems dar. Es gibt kein einziges stichhaltiges Argument dafür, sie bewusst beizubehalten. Es gibt aber eine Reihe guter Argumente, warum Überhangmandate unbedingt abgeschafft werden sollten. Der einzige Grund, diesen Makel des Wahlsystems nicht abzuschaffen, könnte somit nur darin bestehen, dass es nicht möglich wäre, die unangenehmen Folgen der Überhangmandate zu beseitigen, ohne gleichzeitig andere, höherwertige Grundsätze zu tangieren. Dies ist allerdings keineswegs der Fall. Die gleichheitsverzerrenden Folgen der Überhangmandate können beseitigt werden, ohne andere wichtige Elemente des Wahlsystems, wie z.B. die Personenwahl, auch nur im geringsten anzutasten. Die mangelnde Initiative des Gesetzgebers scheint eher so erklärt werden zu können, dass bisher immer diejenige Koalition von den Überhangmandaten profitierte, die die Mehrheit im Parlament besaß. Doch es kann nicht als politisch klug bezeichnet werden, aus kurzfristigen Interessen eine Regelung aufrechtzuerhalten, die langfristig jede zukünftige Regierung der Drohung eines Legitimationsverlusts aussetzt. Welche Probleme auch immer ein zukünftiger Wahlsieger zu lösen haben wird, es wird ihm umso leichter fallen, der Bevölkerung Opfer zuzumuten, je unantastbarer seine Legitimität ist.