"Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen." (Art. 7 Abs. 3 GG)
Der Religionsunterricht ist das einzige im Grundgesetz erwähnte Schulfach. Dennoch ist er wiederkehrenden Diskussionen ausgesetzt, die in der vergangenen Dekade vor allem um den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt kreisten. Denn neben die christliche Religion und ihre Konfessionen sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend sowohl andere "Weltreligionen" als auch neue Formen von Religion getreten. Viele Menschen ziehen sich aus religiösen Strukturen zurück, zugleich konstatiert die Religionsforschung in einer Art Korrektur des seit den 1970er Jahren dominanten Säkularisierungsparadigmas ein Wiederaufleben religionsorientierter Legitimations- und Argumentationsmuster in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die Aktivitäten religiöser Institutionen diversifizieren sich, und Religion wird mehr und mehr zur Sache von Einzelnen.
Vor diesem Hintergrund wird in vielfältigen Debatten die Frage aufgegriffen, wie zunehmende religiöse und weltanschauliche Vielfalt im und durch schulischen Religionsunterricht aufgefangen werden kann. Für wen und wie viele Angehörige welcher Religionsgemeinschaften kann von wem ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht angeboten werden? Ist angesichts immer mehr religionsfreier Schüler_innen der Religionsunterricht überhaupt noch zu halten? Welche alternativen Bildungsangebote sind möglich und nötig? Muss neben die Einführung in (die eigene) Religion nun auch die Vermittlung von Wissen über Religion(en) anderer treten? Oder wird gar die Vorbereitung auf das Leben in der durch eine Pluralität an Sinnbildungsangeboten geprägten Gesellschaft zum Hauptziel religionsbezogenen Schulunterrichts?
Internationale Agenda
Auf globaler Ebene ist seit einigen Dekaden zu beobachten, dass sich internationale Organisationen wie der Europarat, die OSZE und die UNESCO, aber auch kleinere Organisationen wie Arigatou International oder das Centre for Spiritual and Ethical Education, der Entwicklung von Konzepten und Werkzeugen für den Umgang mit Religion und religiöser beziehungsweise weltanschaulicher Pluralität verschreiben. Die Konzepte dieser internationalen Akteure knüpfen an gesellschaftliche und bildungsrelevante Phänomene wie etwa soziale Kohäsion, Diversität und Sicherheit an und orientieren sich am Ansatz der Wissensvermittlung über Religionen, des "teaching about religions". Im bekenntnisorientierten Unterricht wird dieser Ansatz meist ergänzend zur Einführung in die eigene Religion und deren Praxis eingesetzt, für religionskundliche Unterrichtsformen bildet er typischerweise den (einzigen) Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Religion.
Dieser Ansatz unterscheidet sich den Toledo-Leitlinien der OSZE von 2007 zufolge grundsätzlich von religiöser Unterweisung und Religionsunterricht, da er nicht konfessionell oder glaubensorientiert sei. Die Vermittlung von Wissen über Religion(en) sei eine wichtige Verantwortung der Schule, wohingegen Familien und religiöse Institutionen für die moralische Erziehung zuständig seien. Ziel ist hier also die Etablierung und Verbreitung internationaler Prinzipien für den "teaching about"-Zugang zu Religion in der öffentlichen Bildung.
Die jüngste Veröffentlichung des Europarates in diesem Zusammenhang ist das aus der Arbeit einer Expertengruppe hervorgegangene Dokument "Signposts", geschrieben für Lehramtsausbildung, Lehrende und politische Entscheidungsträger_innen. Die Empfehlungen basieren auf dem Ansatz einer interkulturellen Bildung und thematisieren neben religiösen auch nichtreligiöse Überzeugungen.
Fächerdiversifizierung in Deutschland
In Deutschland haben die Debatten um den Religionsunterricht im Kontext des religiösen Wandels zu zwei grundlegend unterschiedlichen Antworten geführt. So wurden einerseits sogenannte Ersatzfächer für den konfessionellen Religionsunterricht in Form eines Wahlpflichtfachs oder eines ordentlichen Fachs eingeführt, deren verschiedene Bezeichnungen unterschiedliche didaktische Konzepte reflektieren. Andererseits wurde der konfessionelle Religionsunterricht um weitere Angebote wie den alevitischen, den buddhistischen, den christlich-orthodoxen oder den islamischen Religionsunterricht erweitert.
Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht an öffentlichen Schulen muss laut Art. 7 Abs. 3 GG im Gegensatz zu religionskundlichen Fächern "in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften" erteilt werden, wobei für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Bremen eine Ausnahmeregelung gilt: In Bremen wird "Religion", in Brandenburg "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" (LER) jeweils als nicht bekenntnisorientiertes Lehrkonzept angeboten. In Berlin wird bekenntnisorientierter Religionsunterricht als freiwilliges und nicht versetzungsrelevantes Fach mit finanzieller Unterstützung durch den Senat von den Religionsgemeinschaften selbst angeboten sowie seit 2006 Ethik als ordentliches Schulfach mit zwei Wochenstunden von der siebten bis zur zehnten Klasse.
Die Ethikfächer thematisieren Religion aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen, je nachdem welche akademischen Disziplinen an der Entstehung des Fachs maßgeblich beteiligt waren. Einige der Ersatzfächer gehen von einer christlichen Fundierung der Gesellschaft aus (Baden-Württemberg, Hessen, Bayern, Thüringen), während andere Fächer Religionen kontrovers beziehungsweise dialogisch thematisieren (Hamburg). Je nach Lehrplan wird besonderer Wert auf die Behandlung einer Vielfalt von Weltdeutungssystemen (Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg) oder auf Fragen des Zusammenlebens und des Dialogs (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt) gelegt. Eine explizite Nennung von Spiritualität findet sich nur in den Lehrplänen von Rheinland-Pfalz und Sachsen.
Mit Blick auf den Religionsunterricht forderten religiöse Minderheiten immer wieder eine Gleichstellung mit etablierten Religionsgemeinschaften. Auch wenn die Hürden dafür aufgrund des Erfordernisses, in vereinsrechtlichen und arbeitsfähigen Organisationsstrukturen verfasst zu sein, recht hoch liegen, hat eine Ausdifferenzierung des Religionsunterrichts stattgefunden. Heute gibt es daher mehr Vielfalt bei Anbietern und Zielgruppen, dazu gehören neben der evangelischen und der katholischen Kirche zahlreiche weitere christliche Gemeinschaften, die jüdische Gemeinde sowie buddhistische, christlich-orthodoxe, alevitische und islamische Religionsgemeinschaften sowie der Humanistische Verband (Abbildung).
Die evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland initiierte in den 1990ern in Hamburg mit dem "Religionsunterricht für alle" einen dialogischen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG, an dem sich heute auch alevitische, islamische und jüdische Gemeinden beteiligen. Die Ausbildung der Lehrkräfte erfolgt an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Außerdem findet an einzelnen Schulen ein separater katholischer Religionsunterricht statt. Ab der siebten Klasse wird Philosophie als Wahlpflichtalternative zu Religion angeboten. In Niedersachsen wendet sich seit 1998 ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht an evangelische und katholische Schüler_innen, während das Fach "Werte und Normen" seit 1993 die Wahlpflichtalternative ist.
Islamischer Religionsunterricht im Fokus
Von allen Veränderungen erhielt die Etablierung des islamischen Religionsunterrichts die größte politische, mediale und akademische Aufmerksamkeit. Während die Debatte um die Ersatzfächer stark akademisch geprägt war und sich Vertreter_innen unterschiedlicher Disziplinen zu Wort meldeten, sind in der Debatte um die Einführung des islamischen Religionsunterrichts vielfältige politische und religiöse Akteure involviert – vermutlich auch, weil anhand des islamischen Religionsunterrichts nicht nur Bildungsfragen, sondern auch die rechtliche Integration des Islams in die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik sowie Strukturfragen für die organisatorische Verfasstheit islamischen Lebens debattiert werden. Somit ist diese Diskussion nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung von Religionsunterricht als Fach interessant, sondern stellt ein wesentliches Element der Islampolitik in Deutschland dar.
So war der grundlegende Konsens für die Einführung des Schulfachs eines der wesentlichen Resultate der Deutschen Islam Konferenz von 2006 bis 2009. Heute ist islamischer Religionsunterricht in Berlin, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen eingeführt, in vier weiteren Ländern laufen Modellprojekte. Für die flächendeckende Einführung des schulischen Islamunterrichts erwies sich die Organisationsstruktur islamischer Religionsgemeinschaften als größte Herausforderung. Da sie keine klare Mitgliederstruktur vorweisen und zum Teil den Verdacht der Abhängigkeit insbesondere von der türkischen Regierung nicht entkräften konnten, galten sie lange als ungeeignete Partner für den schulischen Religionsunterricht. Für ein Umdenken bedurfte es der politischen Initiative auf Bundesebene, sodass heute auch Religionsgemeinschaften, die nicht als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind, als Partner für den Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG infrage kommen.
Umgekehrt hat das Bemühen um den Religionsunterricht die islamischen Organisationen stark geprägt. Denn der Konsens für die Einführung des Schulfachs islamischer Religionsunterricht zog eine Reihe weiterer Fragen nach sich, etwa nach der Ausbildung von Lehrkräften, der Entwicklung von Curricula und der Gestaltung von Schulbüchern. An den in erster Linie mit dem Ziel der Lehramtsausbildung eingerichteten Fakultäten für islamische Theologie an Universitäten in fünf Bundesländern sowie an pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg werden Grundlagen für eine islamische Religionspädagogik gelegt.
Didaktische Konzepte
Rund um die verschiedenen Schulfächer werden im Hinblick auf das Verständnis von und den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt disparate wissenschaftliche und bildungspolitische Positionen deutlich.
So sieht etwa der evangelische Theologe Michael Wermke den konfessionellen Religionsunterricht und die entsprechenden Schulbücher in Deutschland angesichts der steigenden Zahl an religionsfreien Lernenden aktuell vor die Herausforderung gestellt, sowohl religionsgebundene als auch religionsfreie Schüler_innen gleichermaßen anzusprechen. Zwar formulieren die Lehrpläne für den Religionsunterricht das Ziel, sowohl kognitive Kompetenzen wie Argumentationsmuster und Sprechfähigkeit zu entwickeln und zu stärken als auch emotionale Erfahrungen zu ermöglichen. Aber Religionsunterricht sei nicht mit religiöser Unterweisung gleichzusetzen. Konfessionslosigkeit sei damit keine irgendwie zu überwindende Charakteristik des Umfelds, sie determiniere vielmehr die Erschließung von Religion als Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen.
Mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht formuliert der Religionspädagoge Ednan Aslan das Ziel, dieser solle Lernende darauf vorbereiten, "vor dem Hintergrund konkurrierender Wahrheiten individuelle Entscheidungen zu treffen sowie Empathie und Toleranz zu entwickeln". Dabei geht es häufig zunächst um einen gelingenden innerislamischen Dialog. Denn so vielfältig wie der Islam mit seinen verschiedenen Strömungen und die ethnischen beziehungsweise regionalen Herkünfte der muslimischen Schülerschaft samt der damit verbundenen sprachlichen Prägungen sind die religiösen Vorbildungen und Vorstellungen der Lernenden – eine Pluralität, die auch Verunsicherung und Verwirrung zur Folge haben kann. Die Förderung der Sprechfähigkeit von Schüler_innen über ihren Glauben und den Islam in Deutschland ist dabei ein erster Schritt. Denn häufig fehle ihnen schlicht das Vokabular, so der Religionspädagoge Bülent Uçar. Im Deutschen geläufige christliche Fachbegriffe meinten vielleicht Ähnliches, "lassen sich jedoch nicht einfach adäquat einsetzen, so sie denn überhaupt bekannt sind".
Während die bisher genannten Positionen eine interreligiöse Öffnung des Unterrichts aus Sicht von Religionsgemeinschaften für eine religiös und konfessionell diverse Schülerschaft für möglich und erstrebenswert halten, beziehen eine Reihe von Forschenden aus der Philosophie und Religionswissenschaft eine dezidiert andere Position. So leitet etwa die Philosophie- und Ehtikdidaktikerin Anita Rösch aus dem Kontext pluralisierter gesellschaftlicher Bedingungen den Auftrag ab, keine allgemein verbindlichen Antworten auf die letzten Sinnfragen zu geben. Verschiedene individuelle religiöse Vorstellungen, Weltbilder und persönliche Werthaltungen sollten ihr zufolge einen Ausgangspunkt für Fragen, Vergleiche, Deutungen und Diskussionen darstellen. Glaube und persönliche Einstellungen dürften hingegen den Ethikunterricht nicht beeinflussen und müssten daher auch für die Aufnahme des Studiums und die Abschlussprüfung irrelevant sein.
Die Religionswissenschaftlerin Wanda Alberts, die unter anderem die Ausbildung von Lehrenden für das Fach Werte und Normen in Niedersachsen betreut, plädiert ihrerseits für die religionskundliche Perspektive als explizit integrativen Zugang, der die Lernenden einer Klasse ungeachtet ihrer religiösen oder weltanschaulichen Verortung gemeinsam anspricht. Die Religionswissenschaftlerin Katharina Frank fordert hierbei nicht zuletzt aufgrund der Vielfalt in den Klassenzimmern "eine Haltung der respektvollen Distanz gegenüber den behandelten Religionen". Der Religionswissenschaftler Tim Jensen tritt für eine strikt säkularistische Position ein, die die spirituellen Bedürfnisse von Lernenden und Lehrenden ausschließlich im Privatbereich verortet. Der "wissenschaftliche Weg", nach dem die Verbindung zwischen akademischen und religiösen Interessen so gering wie möglich sein soll, müsse in der Bildung – auch in der religionsbezogenen – Vorrang haben.
Aus religionswissenschaftlicher Perspektive wird ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht also vehement abgelehnt oder zumindest der religionskundliche Zugang als geeigneter für die religiös plurale Gesellschaft angesehen, während theologisch verankerte Religionspädagog_innen dafür argumentieren, mit bekenntnisorientierten Ansätzen die Vielfalt religiöser Positionen in den Blick zu nehmen, da sich auch mit einer religionsbejahenden Perspektive eine anderen Weltanschauungen gegenüber wertschätzende Haltung erarbeiten lasse. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit teilen diese exemplarischen Positionen das Ziel, Lernende in die Lage zu versetzen, unabhängig von Religionszugehörigkeit und Kultur friedlich und respektvoll zusammenzuleben.
In der Debatte um religiöse Vielfalt in der Bildung ist die Perspektive der primär Betroffenen, also der Jugendlichen, trotz ihrer Relevanz unterrepräsentiert. Dabei geben die wenigen Resultate der Jugendforschung mit Blick auf Meinungen und Bedürfnisse von Jugendlichen in Sachen Religion, religiöse Muster und Religiosität Argumente dafür, sowohl die Inhalte des Religionsunterrichts als auch anderer Fächer im Kontext der Wertevermittlung zu überdenken. So zeigte eine Erhebung unter 8000 Berufsschüler_innen unterschiedlicher religiöser Prägung, dass diese offene Fragen haben, die – wenn sie sich mit genuin religiösen Themen auseinandersetzen – stark auf eine Privatisierung und eine offene Auslegung religiöser Semantiken hindeuten. Der Erziehungswissenschaftler Heiner Barz beobachtet einen vom kirchlich verfassten Christentum weitgehend abgekoppelten Patchworkcharakter weltanschaulicher und religiöser Orientierungen bei Jugendlichen in den alten Bundesländern. Ein monokonfessioneller Religionsunterricht hat sich vor diesem Hintergrund aus seiner Sicht überlebt. Stattdessen seien Lebenshilfe und Auseinandersetzung mit Sinnfragen und Informationen über religiöse Lehren, Traditionen und Bräuche nötig.
Fazit
Sowohl die Frage, wie Religionen und Weltanschauungen in der öffentlichen Bildung und in Schulbüchern darzustellen und zu diskutieren sind, als auch die Frage, ob eher ein (inter)religiöser oder religionskundlicher Zugang anzuwenden ist, werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Verfechter_innen beider Ansätze ziehen die religiöse Vielfalt in Gesellschaft und Klassenzimmern als Argument für die jeweils von ihnen vertretene Unterrichtsform heran: Während die einen in der distanzierten Vermittlung von Wissen über Religionen den Königsweg sehen, argumentieren die anderen, dass die Sprechfähigkeit über den eigenen Glauben eine Voraussetzung für das Erlernen eines respektvollen Umgangs mit Vielfalt sei. Beide Unterrichtsformen stehen vor der Herausforderung, die zunehmend individualisierten Vorstellungen von Jugendlichen anzusprechen und aufzugreifen.