Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland ist ungeachtet mancher Aufgeregtheiten ein stabiles Gemeinwesen. Die Anhänger des Mehrheitswahlsystems, die in den fünfziger und sechziger Jahren auf eine Änderung des Wahlmodus drängten, sind seit mehr als drei Jahrzehnten größtenteils verstummt. Ein Grund dafür liegt in folgendem Umstand: Was sie gefordert hatten (u.a. Stabilität der Regierungen; gemäßigte Parteien; faktische Wahl der Regierung durch das Volk ohne Koalitionshändel; Regierungswechsel in gewissen Abständen), war weitgehend auch unter den Bedingungen der Verhältniswahl eingetroffen. Daneben spielten pragmatische Überlegungen eine Rolle. Wer als Politiker für ein mehrheitsbildendes Wahlsystem votiert, bringt die Liberalen und die Grünen gegen sich auf - Parteien, die dann kaum eine Chance auf den Gewinn eines Direktmandats hätten, auch bei einer Halbierung der Größe der Wahlkreise.
Wurde das 1949 eingeführte personalisierte Verhältniswahlsystem im Kern nicht geändert (das trifft auch für die Länder zu, deren Wahlrechtsregelungen sich nur geringfügig voneinander unterscheiden),
Weniger Furore machte die Kritik daran, dass die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die bei der Bundestagswahl mit ihrer Erststimme für die beiden erfolgreichen Kandidaten der PDS votierten, berücksichtigt wurden. (Auf diese Weise kam die SPD zu einem Vorsprung von 6 027 Stimmen vor der Union. Ohne die umstrittenen Stimmen hätte die Union mit einigen tausend Stimmen vorn gelegen).
Der Beitrag gibt zunächst eine Übersicht zu Wahlrechtsänderungen, also zu Reformvorschlägen, die Praxis geworden sind. Berücksichtigung finden dabei nur die wichtigsten: die Verschärfung der Sperrklausel, die Einführung des Zweistimmensystems, die Etablierung der Briefwahl und die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre. Im Anschluss daran geht es um (relevante) Wahlrechtsreformvorschläge, die in der Öffentlichkeit auf ein größeres Echo stoßen, um sinnvolle und weniger sinnvolle: die Einführung des Wahlrechts von Geburt an, die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, die Abschaffung oder die Senkung der Sperrklausel, die Abschaffung der Überhangmandate, der Alternativklausel und des Zweistimmensystems. Welche Kriterien werden zugrunde gelegt, damit eine Reform als "sinnvoll" gelten kann? In Anlehnung an die Überlegungen von Winfried Steffani zu Parlamentsreformen handelt es sich um die Elemente von "Effizienz", "Transparenz" und "Partizipation"
Wahlrechtsänderungen
Vielzahl der Wahlrechtsänderungen
Galt das erste Bundeswahlgesetz nur für die erste und das zweite Wahlgesetz lediglich für die zweite Bundestagswahl, so wurde 1956 nach heftigen Auseinandersetzungen ein Wahlgesetz verabschiedet, das in seinen Wesenszügen trotz zahlreicher Modifikationen im Einzelnen bis heute unverändert gültig ist.
Zu den Reformen gehörten u.a. die Abschaffung von Nachwahlen (1953) beim Ausscheiden eines Wahlkreisabgeordneten aus dem Parlament - nach Wilhelm Hennis "eine der bedauerlichsten verfassungspolitischen Maßnahmen der Nachkriegszeit"
1985 erfuhr das Auszählverfahren eine Änderung: Der Verrechnungsmodus nach Hare/Niemeyer löste das d'Hondt'sche Höchstzahlverfahren ab. Unter dem Strich kann dies dazu führen, dass wegen des Wegfalls der geringfügigen Begünstigung für die großen Parteien eine kleine Partei ein Mandat mehr erhält als zuvor. Im selben Jahr beschloss der Bundestag das Wahlrecht für Auslandsdeutsche. Alle in den EU-Staaten lebenden Deutschen erhielten das Wahlrecht, ebenso jene anderen Auslandsdeutschen, sofern seit ihrem Fortzug nicht mehr als zehn Jahre vergangen sind. Im Jahr 1998 wurde auf eine Initiative der Grünen hin allen Auslandsdeutschen das aktive Wahlrecht gewährt, unter der Voraussetzung, dass sie sich zuvor mindestens drei Monate ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten haben.
Größere Bedeutung kommt der Regelung zu, dass von nun an die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises vom Durchschnitt um nicht mehr als 15 Prozent abweichen darf (bisher: 25 Prozent). Eine Neuabgrenzung wird seit der Bundestagwahl 2002 bei einer Abweichung von mehr als 25 Prozent (bisher: 33 1/3 Prozent) zwingend. Die folgenden Wahlrechtsänderungen
Verschärfung der Fünfprozentklausel
Die 1949 von den Ministerpräsidenten der Länder nachträglich in das Wahlgesetz eingeführte Sperrklausel wurde 1953 und 1956 verschärft. Seit dem Jahr 1953 muss eine Partei, um an der Mandatsverteilung beteiligt zu werden, im gesamten Bundesgebiet fünf Prozent der Stimmen erreichen. Zuvor genügte für die parlamentarische Repräsentanz ein Stimmenanteil von mindestens fünf Prozent in einem Bundesland.
Ungeachtet aller Kritik
Die Auswirkungen der Fünfprozenthürde sind zwar beträchtlich, freilich nicht exakt zu beziffern,
Einführung des Zweistimmensystems
Durch das 1953 eingeführte Zweistimmensystem (bei der ersten Bundestagswahl zählte die einzige Stimme des Wählers sowohl für den Wahlkreiskandidaten als auch für die Partei) - der Grund lag wesentlich darin, Wahlkreisabsprachen zu ermöglichen
Das Urteil über das Zweistimmensystem fällt unter den Aspekten von Effizienz, Transparenz und Partizipation nicht positiv aus. Effizient ist es nicht, weil durch die Wahl eines Wahlkreisbewerbers der Kandidat der anderen großen Partei häufig über die Liste einzieht. Das Zweistimmensystem ruft vor allem einen kosmetischen Effekt hervor. Es handelt sich mithin um eine Scheinpartizipation. Und dieses System lässt für den überforderten Bürger jegliche Transparenz missen. Manche glauben, einen Kompromiss begangen zu haben, indem sie mit der Erststimme für den Kandidaten von der Partei A und mit der Zweitstimme für die Partei B votieren.
Die Auswirkungen des Zweistimmensystems sind umstritten - nicht zuletzt deshalb, weil die Diskrepanzen zwischen Erst- und Zweitstimmen bei einer Partei nur schwer zu deuten sind. Beispielsweise: Die Grünen erreichten bei der Bundestagswahl 2002 8,6 Prozent der Zweitstimmen und nur 5,6 Prozent der Erststimmen.
Etablierung der Briefwahl
Die auf das Jahr 1956 zurückgehende Einführung der Briefwahl wurde damit begründet, dass es jedem Staatsbürger, ob er nun am Wahltag krank oder sonst wie verhindert ist, möglich sein müsse, "seine" Volksvertretung zu wählen. Die Briefwahl ist mittlerweile unumstritten,
Die Briefwahl lässt sich mit Blick auf die erwähnten drei Kriterien gut rechtfertigen: Die Partizipation der Wahlberechtigten steigt dadurch beträchtlich; die Effizienz ist ebenso gegeben; Transparenz liegt ungeachtet gewisser bürokratischer Hindernisse bei der Besorgung der Briefwahlunterlagen auch vor, was sich darin zeigt, dass die Quote der ungültigen Stimmen bei den Briefwählern stets unter jener der Wähler ohne Briefwahl liegt. Bei der Bundestagswahl 1990 votierten 0,9 Prozent der Briefwähler mit ihrer Erststimme (bei den Wählern ohne Briefwahl: 1,6 Prozent) und 0,5 Prozent mit ihrer Zweitstimme (bei den Wählern ohne Briefwahl: 1,2 Prozent) ungültig.
Briefwähler neigen überproportional der Union, der FDP und dem Bündnis 90/Die Grünen zu. Freilich hat sich eine Angleichung vollzogen. Wählten 1957 60,3 Prozent der Briefwähler die Union und bei den Wählern ohne Briefwahl 49,6 Prozent, so lag die Differenz 1990 nur noch bei 1,3 Prozentpunkten. Schnitten die FDP-Wähler 1957 bei den Briefwählern mit 2,1 Punkten besser ab, waren es 1990 lediglich 1,2 Punkte. Demgegenüber hat sich die Unterrepräsentanz der SPD bei den Briefwählern verringert: von 11,3 Punkten (1957) auf 2,7 Punkte.
Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre
Der Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 21 auf 18 Jahre im Jahr 1970 ging eine intensive politische wie wissenschaftliche Diskussion voraus.
Die Herabsetzung des Wahlalters ist unter dem Aspekt der Partizipation positiv zu würdigen. Zusätzlich drei Jahrgänge erhielten das aktive Wahlrecht. Auch die Effizienz ist unbestritten, wiewohl die Wahlbeteiligungsquote der 18- bis 20-Jährigen deutlich unter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung liegt, zwar höher als die der 21- bis 24-Jährigen, aber niedriger als die der 25- bis 29-Jährigen.
Die Auswirkungen halten sich schon deshalb in Grenzen, weil die 18- bis 20-Jährigen nur einen Bruchteil der Wählerschaft stellen. Bei der Bundestagswahl 2002 waren dies 3,0 Prozent aller Wähler. Wie die repräsentative Wahlstatistik belegt (sie war für die Bundestagswahlen 1994 und 1998 ausgesetzt), sind die 18- bis 24-Jährigen bei der Union (32,0 Prozent; insgesamt: 38,5 Prozent) deutlich und bei der SPD (38,1 Prozent; insgesamt: 38,5 Prozent) schwach unterrepräsentiert. Hingegen schneiden die Grünen (11,2 Prozent; insgesamt: 8,6 Prozent) und vor allem die Liberalen (10,2 Prozent; insgesamt: 7,4 Prozent) in dieser Altersgruppe überdurchschnittlich gut ab.
Wahlrechtsreformvorschläge
Vielzahl der Wahlrechtsreformvorschläge
Die Zahl der von politischer und wissenschaftlicher Seite unterbreiteten Wahlrechtsreformvorschläge ist Legion (gewesen). Das fängt mit Verfahren zur Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate
Eine Reform von beträchtlicher Tragweite wäre die Einführung der begrenzt-offenen Liste. Die Enquete-Kommission "Verfassungsreform" hatte bereits 1976 folgende Empfehlung ausgesprochen: Der Wähler soll mit seiner Zweitstimme - gemäß dem bayerischen Landtagswahlrecht - die Möglichkeit erhalten, die von den Parteien aufgestellteReihenfolge der Kandidaten zu ändern ("begrenzt-offene Liste" statt der bisherigen "starren Liste").
Auch die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, wie das mittlerweile in der Mehrheit der Bundesländer der Fall ist (nicht in Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommerm, Sachsen-Anhalt),
Einführung des Wahlrechts von Geburt an
Als Konrad Löw 1974 für "wirklich allgemeine Wahlen" eintrat,
In dem Gesetzentwurf heißt es u.a., die demographische Entwicklung mit der zunehmenden Überalterung in Deutschland gefährde die Zukunft der Gesellschaft. Eine kinderfreundliche Politik sei notwendig. Familien sollten größeren Einfluss auf die Politik erhalten. Deswegen sollte das Wahlrecht ab der Geburt im Grundgesetz verankert werden. Bis zum 18. Lebensjahr übten die Eltern dies aus. Die folgenden Überlegungen schaffen zusätzlichen Zündstoff: "Eltern sollten bei der Ausübung des Wahlrechts in Stellvertretung ihres Kindes dessen wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Die Wahlentscheidung sollte von den Eltern, soweit es nach dem Entwicklungsstand des Kindes angezeigt ist, mit dem Kind besprochen werden."
Für die Anhänger des Wahlrechts von Geburt an ist es nicht akzeptabel, etwa 20 Prozent der Bevölkerung vom Wahlrecht auszuschließen.
Die Parteien sind in dieser Frage gespalten. Am meisten engagieren sich die Liberalen für den Vorschlag, die stärksten Vorbehalte kommen von den Grünen, auch wenn aus ihren Reihen, wie gezeigt, Unterstützung signalisiert wird. Wiewohl die Parteien mehrheitlich noch skeptisch eingestellt sind, vermag eine solche Initiative eine große Dynamik zu entfalten. Das Unterfangen kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn sich im Parlament eine Mehrheit für die Änderung der Verfassung findet, die das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag mit dem 18. Lebensjahr beginnen lässt. In absehbarer Zeit ist eine solche Mehrheit nicht zu erreichen.
Unabhängig davon, ob ein Wahlrecht von Geburt an verfassungsrechtlich bedenklich ist: Wer den politischen Einfluss der Familie steigern will, muss dies über eine bessere Familienpolitik tun. Man kann die Gleichberechtigung der Frau ja auch nicht mit dem Argument befördern wollen, ihr (vorübergehend) ein größeres Stimmrecht zu gewähren. Für den Verfasser überwiegen also die Bedenken gegenüber diesem ungewöhnlichen Vorschlag. Das Kriterium der Partizipation würde durch diesen Vorschlag zwar bestens erfüllt, aber die Transparenz bliebe auf der Strecke. Und es ist zu bezweifeln, ob ein solcher Schritt tatsächlich effektiv im Sinne der Initiatoren wäre.
Herbsetzung des Wahlrechts auf 16 Jahre
Was Friedrich Karl Fromme 1968 vermutet hatte, eine Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre werde Forderungen nach einer weiteren Herabsetzung nach sich ziehen,
Unabhängig davon, ob 16-Jährige genügend politische Reife und Urteilskraft besitzen,
Die Herabsetzung des Wahlrechts auf 16 Jahre würde zwar die Partizipation fördern, aber durch die Entkopplung von Wahlalter und Volljährigkeit käme ein hohes Maß an Intransparenz auf, das zu Verwirrung führte. Zudem würde sich ein solcher Schritt angesichts der wahrscheinlich niedrigen Wahlbeteiligungsquote kaum als effizient erweisen.
Abschaffung oder Absenkung der Sperrklausel
Immer wieder ist von der Notwendigkeit die Rede, die Fünfprozenthürde abzuschaffen - sei es aus prinzipiellen Erwägungen, sei es deshalb, weil sich die Bundesrepublik Deutschland zu einem stabilen Land entwickelt habe. Die Grünen machten sich 1990 im Bundestag für die Abschaffung der Fünfprozenthürde stark, die Postkommunisten ebenso (zum Teil auch für die Absenkung auf drei Prozent). Wer für eine Absenkung des Fünfprozent-Quorums votiert, müsste negative Konsequenzen der Sperrklausel in der bisherigen Höhe nachweisen.
Kritikwürdig ist der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht eine Anhebung der Sperrklausel über fünf Prozent prinzipiell nicht duldet. "Es müssen ganz besondere zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen."
Auch wenn die Sperrklausel aus den erwähnten Gründen zu rechtfertigen ist, weist sie ein gravierendes Manko auf. Wer für eine Partei votiert, die weniger als fünf Prozent erreicht, hat faktisch für den "Papierkorb" gestimmt. Seine Stimme zählt für die politische Willensbildung nichts. In einer parlamentarischen Demokratie sollte jedoch gerade das Wahlrecht als der wichtigste Partizipationsakt so konstruiert sein, dass möglichst jede Stimme zählt. Eine Möglichkeit bestünde darin, jedem Wähler eine Nebenstimme zu geben.
Der Vorschlag würde die Vorteile der Fünfprozentklausel (vor allem: Sicherung einer regierungsfähigen Mehrheit) beibehalten und deren Nachteile (vor allem: Auftreten von "Papierkorbstimmen") vermeiden. Er trägt dem Gedanken der Partizipation Rechnung, ebenso dem Prinzip der Effizienz, denn die Wirksamkeit ist vielfältig gegeben. Vielleicht stiege sogar die Wahlbeteiligung, weil jeder weiß: "Meine" Stimme kommt zum Zuge. Hingegen gilt es bei der Transparenz des Verfahrens Abstriche zu machen.
Abschaffung der Alternativklausel
Wer die Fünfprozentklausel prinzipiell für rechtens ansieht, muss nicht auch die Alternativ- oder Grundmandatsklausel bejahen, denn diese unterläuft die Sperrwirkung der Hürde zum Teil wieder. Für das Bundesverfassungsgericht stellt eine Partei, die Direktmandate erreicht, "eine besondere politische Kraft"
Gewiss sollen einer Partei, die Direktmandate errungen hat, diese verbleiben, doch kann es nicht sein, dass dieser Umstand von der Kautele der Fünfprozentklausel entbindet. Es bietet sich eine ersatzlose Streichung der Alternativklausel an. Dies schüfe Transparenz; eine solche Entscheidung verhülfe der Sperrklausel zu größerer Effizienz als die gegenwärtige Regelung. Der Partizipationsgedanke wird durch die Alternativklausel ebenso wenig gefördert. Schließlich begünstigt diese Minderheitspositionen. Die Streichung der Alternativklausel dürfte jedoch erst dann vorgenommen werden, wenn eine Partei (nach menschlichem Ermessen kann es nur um die PDS gehen) keine Chance (mehr) hat, von ihr zu profitieren. Andernfalls käme das Argument auf, es gehe um Wahlmanipulation. Parteien, die bei der Etablierung einer solchen Regelung diesem Vorwurf Nahrung gegeben haben, sollten ihn diesmal zu meiden suchen.
Abschaffung der Überhangmandate
Überhangmandate kommen dann zustande, wenn Parteien in den Bundesländern mehr Direktmandate erhalten, als ihnen nach dem Zweitstimmenanteil zustehen. Die Gesamtzahl der Sitze erhöht sich um diese Mandate ("Überhangmandate"). Sie spielten vor allem in den neunziger Jahren eine größere Rolle (1990: 6; 1994: 16; 1998: 13). Bei der Bundestagswahl 2002 erzielte die SPD deren vier, die CDU eines.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Überhangmandate immer wieder gerechtfertigt, weil sie eine "notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl"
Abschaffung des Zweistimmensystems
Wie oben ausgeführt, hat sich das Zweistimmensystem nicht sonderlich bewährt. Es fördert den Missbrauch, zumindest aber Missverständnisse in eklatantem Maße. Das Stimmensplitting trägt zur Verwirrung bei. Vor allem kann es nicht die Möglichkeit der personellen Funktion erfüllen. In der Tat wirkt sich das Zweistimmenmodell "negativ auf die Legitimität des demokratischen Systems"
Die möglichen Auswirkungen sind schwer einzuschätzen. Gewiss würden die Wahlkreiskandidaten bei dem Wählervotum weiterhin wohl nur eine marginale Rolle spielen. Doch in dem Fall, in dem jemand sich ganz bewusst für einen Kandidaten entscheidet, hat dies Konsequenzen für die Größenverhältnisse der Parteien.
Schlussbemerkung
Das Urteil über die (wesentlichen) Wahlrechtsänderungen wie über die Wahlrechtsreformvorschläge fällt unterschiedlich aus. Einige Revisionen wie die Verschärfung der Sperrklausel mit der Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet und die Einführung der Briefwahl sind sinnvoll, andere wie die Etablierung des Zweistimmensystems und die Senkung des Wahlalters (ohne zugleich das Alter der Volljährigkeit zu reduzieren) problematisch. Ähnlich fällt der Befund für die Reformvorschläge aus. Sie erscheinen zum Teil überzeugend (wie die Abschaffung des Zweistimmensystems, der Alternativklausel und der Überhangmandate), zum Teil weniger einleuchtend (wie das Wahlrecht von Geburt an, die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre sowie die Abschaffung der Fünfprozentklausel).
Wer die nur angedeutete Vielzahl der Vorschläge Revue passieren lässt, darf angesichts von begrenzter Relevanz nicht der Vorstellung huldigen, eine solche Reform symbolisiere den Stein der Weisen. Und: Die Annahme, sie habe diese oder jene Auswirkung, muss so nicht stimmen. Der Wille der Wähler - er ist glücklicherweise unberechenbar. Es besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen der prinzipiellen Notwendigkeit einer Reform und der Aussicht, dass sie auch zustande kommt. Politische Überlegungen verwässern manche Reform.
Eingangs war davon die Rede, dass die Diskussion über die Einführung eines Mehrheitswahlsystems verstummt ist. Diese könnte unter bestimmten Voraussetzungen wie den folgenden wieder aufleben: Verhinderung einer Mehrheit durch eine als "regierungsunfähig" geltende Partei; weite Auffächerung des Parteiensystems bis hin zu erfolgreichen extremistischen Parteien von links und rechts; Bildung anderer Koalitionen als vor der Wahl verkündet; permanente Asymmetrie des Parteiensystems; mangelnde Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen durch Kungeleien in den Ausschüssen. Doch spricht für eine solch "große Wahlrechtsreform" wenig.