Lachen in Zeiten des Krieges
Politik macht Spaß. Dies galt zumindest zu Beginn der rot-grünen Koalition unter der Ägide des in den Medien mitunter als "Spaßkanzler" titulierten Bundeskanzlers Gerhard Schröder. "Regieren macht Spaß" lautete folgerichtig das Motto des Fraktionsfestes der SPD im Dezember 1998. "Rot macht Spaß" behauptete ein SPD-Wahlkampfslogan anlässlich der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im März 2001. Und während die FDP vor der Bundestagswahl 2002 ihr Image als "Spaß- und Eventpartei"
"Politik ist keine Spaßgesellschaft", stellte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber am Tag nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im April 2002 vor Pressevertretern fest.
Gleichwohl wird seit jeher und nicht erst im Kontext der Spaßgesellschaft über Politiker und politische Ereignisse gelacht - man denke nur an die Komödien des Aristophanes, die zahllosen kursierenden politischen Witze, das politische Kabarett oder die Karikaturen in der politischen Presse. Politiker selbst machen sich in der politischen Auseinandersetzung über ihresgleichen lustig, überziehen ihren politischen Gegner mit Spott und Häme und geben ihn bisweilen der Lächerlichkeit preis. Entgegen der landläufigen Meinung sind Politiker durchaus zu Humor und Selbstironie fähig und bei Gelegenheit zu ausgelassenen Scherzen aufgelegt.
Lachen in Zeiten des Krieges, der Wirtschaftskrise und der sozialen Konflikte? Dieser vermeintliche Widerspruch wirft die Frage nach den Funktionen auf, die Humor und Lachen auf der Ebene politischen Denkens und Handelns erfüllen. Dabei zeigt sich, dass Lachen und Politik elementare Gemeinsamkeiten aufweisen, die es für den Einzelnen, für Gruppen und die Gesellschaft möglich machen, selbst in schwierigen Zeiten lachen zu können. Vor dem Hintergrund der Wesensgleichheit von Lachen und Politik findet darüber hinaus seit einigen Jahren gewissermaßen eine Karnevalisierung des öffentlichen Lebens statt, die den Kern der so genannten Spaßgesellschaft bildet und dem politischen Treiben hier und da karnevaleske Züge verleiht. Diese "Karnevalisierung der Politik" lässt auch altbekannte und aktuelle Theoreme der Politikwissenschaft in einem neuen Licht erscheinen.
Die Wesensgleichheit von Lachen und Politik
Lachen ist keineswegs unpolitisch, im Gegenteil, "humor is natural and pervasive in politics"
Lachen lässt sich indes nicht nur zur Steuerung und Beeinflussung politischen Denkens, Verhaltens und Handelns instrumentalisieren. Es zeigt überdies wie ein Seismograph gesellschaftliche Veränderungen an. Eingedenk seines eruptiven Charakters, den der Volksmund in vergleichsweise drastischen Bildern körperlicher Erschütterungen zum Ausdruck bringt - "sich totlachen", "sich kranklachen", "sich kaputtlachen", "Lachkrampf" -, kann Lachen als Zeichen für das Vorhandensein und als Maßstab für die Schwere von Missständen und Umbrüchen in der Gesellschaft interpretiert werden: Gelacht wird dort, wo die vertraute Welt in Unordnung geraten und keine andere Reaktion, etwa handelnd oder sprachlich, möglich ist. Lachen gibt indes Gewissheit, jede nur erdenkliche Situation beherrschen zu können, indem es das Schreckliche und Unaussprechliche verkleinert. Es wirkt dadurch stabilisierend bei der Verarbeitung aktueller Problemlagen, für die noch keine politische Lösung gefunden ist.
Störungen der politischen Ordnung manifestieren sich gemeinhin als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen den realen Gegebenheiten und den politischen Vorstellungen, Idealen, Wünschen, Bedürfnissen und Normen. Für politisches Lachen ist also die Kongruenz von Anspruch und Wirklichkeit bedeutsam: je tiefer die Kluft zwischen Sein und Sollen, desto lauter und nachhaltiger das Lachen. Vor allem in Zeiten des Wandels und der Krise verschärfen sich die Kontraste und mithin das Gelächter. Hier kommt eine weitere Analogie zwischen Politik und Lachen zum Tragen: So wie Letzteres ein historisch-situatives Phänomen ist, das je nach orts- und zeitspezifischem Profil der heterogenen Strukturen sein Gesicht verändert, kennt auch Politik aufgrund des Widerspiels konservativer und progressiver Kräfte die grundsätzliche Vorläufigkeit jeglicher Ordnung und die ländereigene Verschiedenartigkeit der politischen Systeme, Kulturen und Lachkulturen.
Insofern stellt Politik ein weites Feld an Lachgelegenheiten dar. Konstatiert wird indes gemeinhin der Rückgang politischen Humors
Die unterschiedlichen Ansichten resultieren aus den paradoxen Bedingungen des Lachens. Denn das Komische, die elementare Materie des Lachens, verflüchtigt sich in der Tat aus der gewohnten Lebenswelt des Einzelnen.
Man kann daher nicht pauschal von einem Rückgang politischen Humors sprechen. Vielmehr verteilen sich dessen Ziele auf eine Fülle von variablen Objekten, wodurch er beständig seine Gestalt verändert. Lachen unter totalitären Verhältnissen fokussiert hingegen eine gleichbleibend knappe Sujetmenge, etwa wenige zentrale Personen, und gründet auf dem Reiz des Verbotenen und Gefährlichen, der Lachlust wie Aufmerksamkeit steigert. In der Enge einer Diktatur treffen politische Witze, während sie in der Weite einer Demokratie, in der politischer Humor den Status des Selbstverständlichen besitzt, so dass Lachenden und ihrem Lachanlass zwangsläufig weniger Augenmerk zuteil wird, an Schärfe verlieren. Ein demokratisch geprägtes, an Normenvielfalt gewöhntes Bewusstsein baut eine erhöhte Erwartungshaltung gegenüber Phänomenen des Extremen auf. Abweichende Denk- und Verhaltensweisen integriert die demokratische Gesellschaft durch die allmähliche Ausweitung ihrer Toleranzgrenzen, so dass sie regressiven, anarchischen oder avantgardistischen Bewegungen die Spitze nimmt. Die Eingliederung ebnet die Gegensätze bis zu einem Grad ein, an dem sich Lachen nur noch stark entfunktionalisiert entzündet.
Da Politik zudem ihrer Natur gemäß eng mit anderen Segmenten der Gesellschaft verflochten ist, vermengen sich die Anlässe politischen Lachens häufig mit anderen Lebenswelten des Menschen, mit Familie, Medizin, Sport, Sexualität, Kunst, Technik und Wirtschaft. Diese Tendenz zur ubiquitären Ausdehnung der Wirk- und Einflusssphären begründet neben dem kommunitären und kommunikativen Wesenszug sowie der strukturellen Polarität und Heterogenität als Entstehungsquellen und Antriebsmotoren eine dritte Gemeinsamkeit von Lachen und Politik. Wie das Politische durchdringt das Komische alle Daseinsbereiche des Menschen, so dass Lachen einerseits kaum noch Tabuschranken kennt und andererseits in erster Linie kulturell geformt sowie ob der Vielfalt der Wechselbeziehungen in zunehmend unterschiedlicher Gestalt auftritt.
So reduziert der Lachende etwa mit dem Fingerzeig auf Eigenarten oder Defizite moralischer, geistiger und körperlicher Art die Fallhöhe des "Opfers", über dessen Schwächen und Fehler er sich erhebt.
Über kaum einen Politiker der Bundesrepublik wurde so viel gelacht wie über Helmut Kohl, in Sonderheit zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler. Die Dissonanzen zwischen einem sich volksnah gebenden "Kanzler aller Deutschen" und einem geschickten Parteitaktiker, zwischen provinzieller Ausstrahlung und staatsmännischer Amtseignung sowie zwischen der avisierten geistig-moralischen Wende und handfesten Skandalen sorgten - und sorgen - für ausreichend Lachgelegenheiten. Doch je mehr gelacht wurde, desto gefestigter präsentierte sich trotz realer Stimmverluste die Regierung Kohl. Denn die Volkstümlichkeit entschärfte die Lachattacken, indem sie einerseits die Anlässe des Lachens vermehrte, andererseits aber die Fallhöhe zum lachenden Bürger verminderte: So viel Heiterkeit war nie, wenn auch selten so flach und unverbindlich.
Die Gemeinsamkeiten von Karneval und Politik
Gruppenbildung, kommunikativer Charakter, strukturelle Polarität und Heterogenität sowie Ubiquität stellen nicht nur die Eckpunkte der Wesensgleichheit von Lachen und Politik dar, sie schaffen zudem die Voraussetzung dafür, dass Karneval im 19. Jahrhundert zu einem Vehikel für die Verbreitung politischer Inhalte werden konnte (Politisierung des Karnevals) und das politische Geschehen heute bisweilen karnevaleske Züge annimmt (Karnevalisierung der Politik). Entstehung und Verlauf dieser Entwicklungslinien basieren auf grundlegenden Gemeinsamkeiten von Karneval und Politik, die ihrerseits aus der Geistesverwandtschaft des Lachens und der Politik hervorgehen: Das sind
die für eine aktive Teilnahme am Geschehen keineswegs zwingende, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl festigende, Eliten herausbildende und die Vergabe von Machtpositionen regelnde Mitgliedschaft in Karnevalsvereinen respektive Parteien und Verbänden;
das auf Unterhaltung, Überzeugung und Zustimmung abzielende Sprechen coram publico in der Bütt oder am Rednerpult; der politische Aschermittwoch, an dem derbe Sprüche nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwartet werden, ist gewissermaßen eine Verlängerung des Karnevals in den politischen Alltag hinein;
das Denken in polaren Schemata (hoch-niedrig, Leben-Tod, Geist-Körper respektive links-rechts, progressiv-konservativ, arm-reich, Regierung-Opposition, Freund-Feind);
das Überschreiten von Grenzen und die Tabulosigkeit bei der Themenwahl; idealiter werden in der Politik auch randständige Problemfelder angesprochen, und marginalisierten Personen und Gruppen, die in der öffentlichen Diskussion keine Stimme haben, wird repräsentativ eine Stimme verliehen.
Karneval ist die spielerische Gefährdung der rationalen Ordnung, die reglementierte Störung des öffentlichen Lebens. Sein subversives, anarchisches Potential erinnert stets an die mögliche Katastrophe, zeigt die Brüchigkeit des soziokulturellen und politischen Systems auf und ermahnt damit zu Disziplin im Alltag. Zum Wesen des Karnevals gehört daher das Bewusstsein von Veränderung, Erneuerung und Vergänglichkeit. Analog wird Politik von der Relativität jeder Herrschaft bestimmt. Vor allem in einer Demokratie ist nichts von Dauer, konstitutiv sind hingegen Wechsel und Ablösung. Andererseits bilden beide Gesetzmäßigkeiten und Konventionen heraus, um Kontinuität im Wandel zu gewährleisten. Vornehmlich Institutionen und Akteure (Elferrat, Karnevalsprinz, Funkenmariechen respektive Parlament, Abgeordnete, Kanzler, Präsident), Zeitpunkte und -räume (11.11., 11.11 Uhr und Rosenmontag respektive Legislaturperiode, Neujahrsansprache) und ritualisierte Abläufe (Ordensverleihung, Zeremonien, Bräuche respektive Amtseid, Haushaltsdebatten, Wahlen) geben Karneval und Politik eine feste Struktur und formen den Erwartungshorizont des Publikums.
Zudem finden beide in der Öffentlichkeit, in Sälen und auf Plätzen, statt und bedürfen daher neben verbaler Artikulation insbesondere der Visualisierung, Symbolisierung und theatralischen Inszenierung (Kostüme, Masken, Narrengericht respektive Flaggen, Parteifarben, Wahlkämpfe). Auf der karnevalistischen und politischen Bühne verbinden sich Präsentation und Repräsentation auf ganz spezifische Weise: Die Sündenbockfunktion des Narren spiegelt sich in der Stellvertreterrolle des Politikers wider, die ihn für alle Missstände in der Gesellschaft verantwortlich und - ob zu Recht oder Unrecht - a priori des Lügens, der Faulheit, der Bereicherung, der Bestechlichkeit und der Inkompetenz verdächtig macht. Überdies verkörpern Politiker das öffentliche Gewissen, das sie durch echte oder inszenierte Empörung und Betroffenheit entlasten: "Unsere Politiker tragen den Ernst als Maske, um uns den Ernst der Lage zu ersparen."
Wird die Leistung der politischen Repräsentanten als defizitär wahrgenommen, äußern sich Unzufriedenheit und Protest unter anderem in politischen Demonstrationen. Diese ähneln in gewisser Weise Karnevalsumzügen: Beide stellen stabilisierende Faktoren dar, indem sie als Großveranstaltungen zur Kanalisierung einer Massenhandlung beitragen und sich als Ventil für emotional aufgeladene Stimmungen eignen. Fahnen, Parolen, Schlagwörter, Symbole und Kleidung sind gleichsam Masken, die den Einzelnen in eine Gruppe Gleichgesinnter einbetten und seine Rolle auf der politischen Bühne festschreiben. Durch das Anlegen solcher Masken repräsentiert der Träger die Gemeinschaft, für deren Ziele er kämpft.
Die Politisierung des Karnevals und die Karnevalisierung der Politik
Die Politisierung des Karnevals vollzog sich im Gefolge der Säkularisierung, Ideologisierung, Liberalisierung und Pluralisierung um 1830, als der organisierte Karneval zum Sammelbecken für revolutionär-demokratische Strömungen im Kampf gegen die obrigkeitsstaatliche Ordnung, gegen Zensur und politische Repressionen wurde.
Mit den Errungenschaften im Zuge der Demokratisierung nach 1848
Obwohl (oder gerade weil) dem politischen Karneval allmählich der Nährboden seiner Konflikt- und Kritikfähigkeit entzogen worden ist, markiert er einen der Eckpunkte im Identitätsgefüge der Bundesrepublik: "Der rheinische Karneval ((...)) gehörte zur Bonner Republik wie die erfolgreiche Westbindung, die soziale Marktwirtschaft und die Römischen Verträge."
Diese Einschätzung korrespondiert mit einem Prozess, den man in Anlehnung an den Literaturwissenschaftler Michail Bachtin als Karnevalisierung der Politik bezeichnen kann. Bachtin gründete seine Romantheorie auf vier "Kategorien des Karnevals", die "im Verlauf von Jahrtausenden in die Literatur transponiert" wurden und sukzessive zu einer "Karnevalisierung der Literatur" geführt haben:
Diese Kategorien markieren aber nicht allein den Bereich der Literatur, sie beschreiben vielmehr die Entwicklungslinien einer generellen Karnevalisierung des öffentlichen Lebens, die gewissermaßen als Perpetuum mobile die Spaßgesellschaft antreibt und die politische Kultur beeinflusst. So spiegeln Enthierarchisierung und die Beseitigung von Intimitätsschwellen als Momente der karnevalistischen Familiarisierung beispielsweise die zunehmende Überlappung der öffentlichen und der privaten Sphären wider.
Andererseits wird das Persönliche und Private von Politikern selbst immer häufiger zur Eigendarstellung akzentuiert. Personengebundene Informationen lassen sich nicht nur leichter vermitteln als abstrakte politische Prozesse, sie stützen zudem die Vorstellung, Politik werde nicht von Zwängen regiert (Demographiefaktor, Globalisierung), sondern von Menschen gemacht und sei in all ihren Folgen jederzeit beherrschbar. Personalisierung verschleiert zudem die Tatsache, dass Politik vielfach in nichtöffentlichen Gremien, von Experten besetzten Kommissionen und vertraulichen Kamingesprächen "hergestellt" wird. Wahlkampfplakate, die etwa Edmund Stoiber und seine Familie zeigen, schaffen durch die Abbildung von Intimität Vertrauen. Sie erhöhen die Sympathiewerte eines Politikers und erleichtern den Aufbau emotionaler Bindungen. Auf diese Weise kann von Problemen, die möglicherweise Stimmenverluste bedeuten, weil sie Unsicherheit und Angst erzeugen, abgelenkt, die schwindende Zahl fester Parteibindungen überbrückt und das Desinteresse des Bürgers an einer Auseinandersetzung mit politischen Themen und Programmen kompensiert werden.
Mehr noch als das Bemühen, sich mit dem Bürger auf eine Stufe zu stellen, erregt exzentrisches Verhalten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Richtig platziert können dadurch Bekanntheitsgrad und Popularität gesteigert und die politische Karriere vorangetrieben werden. Im Wissen um die Bedeutung der Medienpräsenz, die ein begehrtes Gut im Wettbewerb um Beachtung und Anerkennung durch die Allgemeinheit darstellt und noch immer einen Hauch von Exklusivität vermittelt, versuchen sich Politiker, Parteien und Institutionen zu profilieren und politisch zu positionieren. Wer indes um jeden Preis auffallen will, geht stets das Risiko ein, sich lächerlich und zum Politclown zu machen, indem er den Einsatz der Mittel übertreibt, einen ungünstigen Zeitpunkt wählt oder die Reaktionen auf sein Verhalten falsch einschätzt. In diesem Sinne tragen Oskar Lafontaines Abgang als Finanzminister im Frühjahr 1999, Rudolf Scharpings für ein Massenblatt inszenierter Badespaß auf Mallorca und Gerhard Schröders Italienurlaubsboykott ebenso karnevaleske Züge wie das illusorische "Projekt 18", die Ausrufung Guido Westerwelles zum Kanzlerkandidaten der FDP und dessen Rundreise quer durch die Republik im "Guidomobil" anlässlich der Bundestagswahl 2002.
Der exaltiert-verzweifelte Versuch mancher Politiker, ihr Image als hölzern-langweilige Biedermänner abzustreifen, indem sie vor laufenden TV-Kameras über Jugenderinnerungen plaudern (Friedrich Merz als Mofa-Rowdy, Hans Eichel als Konsument leichter Drogen), ist der wachsenden Medienfixierung der Politik geschuldet. Diese führt, dem Diktat der Medien gehorchend, zu einer Verknüpfung und Vermischung politikrelevanter und politikferner Nachrichten - eine Mesalliance von Inhalt (Information) und Form (Unterhaltung), die gegenwärtig als "Boulevardisierung", "Theatralisierung", "Infotainment" und "Politainment"
Die am Körperlichen orientierte Komponente des Karnevals korrespondiert mit der allgemeinen Sexualisierung des öffentlichen Raums. Nicht nur in der Werbung, in Filmen und im TV ist die Zurschaustellung von Nacktheit nahezu allgegenwärtig, am Trend zum Voyeurismus beteiligt sich auch die Politik. So versuchen Parteien, vor allem Jungwähler mit mehr oder weniger unverhohlenen sexuellen Anspielungen für sich einzunehmen: etwa die Grüne Jugend Baden-Württemberg mit einer für den Landtagswahlkampf 2001 lancierten Postkartenaktion ("Grün fickt besser. Untersuchung zeigt: Hausfrauen und Grüne haben am häufigsten Sex.") oder die Jungen Liberalen ("Steck ihn rein"), die Jusos ("Das ist erst das Vorspiel, der Höhepunkt kommt noch"), die PDS ("Heute popp' ich, morgen kiff' ich, übermorgen wähl' ich PDS") und die Bündnisgrünen ("Wir machen's gleich") mit zweideutigen Slogans im Bundestagswahlkampf 2002. Auch eine Anzeigen- und Plakataktion des Bundesumweltministeriums zur Imageverbesserung der Ökosteuer warb mit dem Text: "Mehr Sex. Und wer öfter mal das Licht ausmacht, wird belohnt. So oder so." Die - wenngleich späte - Selbstbeschränkung der Medien bei der angeblichen Affäre des "Vier-Ehen-Kanzlers"
Gerade weil Gerhard Schröder als Bundeskanzler eine singuläre Rolle im Regierungssystem spielt, unterliegt er besonderer Beobachtung. Zunehmend sieht er sich jedoch allgemeiner Volksbelustigung ausgesetzt: vermarktet auf CD ("Der Bierkanzler", "Die Gerd-Show"), verunglimpft als"Schwachmaten-Kanzler"
Fazit
"Sind wir hier im Karneval?"
Das ändert nichts an der Tatsache, dass Politik - ebenso wie der vereinsmäßig betriebene Karneval - grundsätzlich eine ernste Angelegenheit ist. Der Verlust an Politikfähigkeit jedoch ist evident: Ausweitung der Handlungssphären, aber Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten; steigende Erwartungshaltungen, aber Verringerung der Gestaltungskraft; steigender Problemlösungsdruck, aber Verkürzung der Halbwertzeit politischer Projekte und Maßnahmen. Lachen vermag zeitweise vom Druck zu befreien, Defizite auszugleichen und Freiräume zu schaffen. Es stärkt den Gemeinsinn, fördert Kreativität und Reformbereitschaft und baut Frustpotentiale ab. Seine therapeutische Wirkung entfaltet sich vor allem bei der Verarbeitung von Schreckensnachrichten, die auf andere Weise nicht kompensiert werden können: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Wer sich indes über alles und jeden lustig macht, alles irgendwie witzig findet, schwächt die Funktionen, die das Lachen für die Politik haben kann, und stärkt die Tendenz zur Karnevalisierung als Impulsgeberin der indifferent-unverbindlichen Spaßgesellschaft. Das Fortschreiten des Karnevalisierungsprozesses ist ein soziokulturelles Phänomen, das als Begleiterscheinung des öffentlichen Lebens das politische Geschehen zwar keineswegs dominiert, aber einen gut Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht, da es das alltägliche Routinegeschäft der Politik punktuell und situationsgebunden überlagert. Das Ausmaß der Karnevalisierung nimmt jedoch auch deshalb zu, weil das dem Politischen artverwandte karnevalistische Element seinerseits auf eine sich beständig verändernde "politische Kultur, in der medial inszenierte Emotionen, Privates und Unterhaltung immer mehr Bestandteil der Politik selbst werden"