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Ernst ist das Leben, heiter die Politik | Politik als Inszenierung | bpb.de

Politik als Inszenierung Editorial Ernst ist das Leben, heiter die Politik Die Theatralität der Politik in der Mediendemokratie Von Feinden und Helden Die medienorientierte Inszenierung von Protest

Ernst ist das Leben, heiter die Politik Lachen und Karneval als Wesensmerkmale des Politischen

Marcus Hoinle

/ 26 Minuten zu lesen

Politik ist eine ernste Angelegenheit. Im politischen Alltagsgeschäft spielt aber auch der Humor eine nicht unerhebliche Rolle. Ein Karnevalisierungsprozess, der den Kern der so genannten Spaßgesellschaft bildet, hat das öffentliche Leben in weiten Teilen erfasst.

Lachen in Zeiten des Krieges

Politik macht Spaß. Dies galt zumindest zu Beginn der rot-grünen Koalition unter der Ägide des in den Medien mitunter als "Spaßkanzler" titulierten Bundeskanzlers Gerhard Schröder. "Regieren macht Spaß" lautete folgerichtig das Motto des Fraktionsfestes der SPD im Dezember 1998. "Rot macht Spaß" behauptete ein SPD-Wahlkampfslogan anlässlich der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im März 2001. Und während die FDP vor der Bundestagswahl 2002 ihr Image als "Spaß- und Eventpartei", "Medienspaßpartei" und "forsche, aber konturlose Frohsinnspartei" pflegte, errang die seit ihrem Gründungsparteitag am 2. Februar 2002 in Magdeburg real existierende "Spaßpartei" bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern jeweils 0,7 Prozent der Stimmen.


"Politik ist keine Spaßgesellschaft", stellte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber am Tag nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im April 2002 vor Pressevertretern fest. Politiker unterschiedlicher Couleur ziehen zum einen gegen die Entsolidarisierung und Entpolitisierung einer ichbezogenen, konsumorientierten Spaßgesellschaft zu Felde und entwerfen gemeinschaftsfördernde Gesellschaftskonzepte, etwa die "Wir-Gesellschaft" (Angela Merkel/CDU), die "Verantwortungsgesellschaft" (Ute Vogt und Kerstin Griese/SPD) oder die "Mitmachgesellschaft" (Cem Özdemir/Bündnis 90/Die Grünen), die der Politik verlorenes Terrain zurückgewinnen und politisches Engagement stärken sollen. Zum anderen ist Politik eine ernste Angelegenheit und spielt sich nicht selten in einem existenzbedrohenden Kontext ab. Renten- und Gesundheitsreform, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute, Finanznot bei Bund, Ländern und Gemeinden, Umweltverschmutzung, Krankheiten und Seuchen bei Mensch (SARS, AIDS) und Tier (BSE, MKS, Geflügelpest), Kriminalität, Terrorismus und Krieg geben augenscheinlich kaum Anlass zu Heiterkeit oder gar schallendem Gelächter.

Gleichwohl wird seit jeher und nicht erst im Kontext der Spaßgesellschaft über Politiker und politische Ereignisse gelacht - man denke nur an die Komödien des Aristophanes, die zahllosen kursierenden politischen Witze, das politische Kabarett oder die Karikaturen in der politischen Presse. Politiker selbst machen sich in der politischen Auseinandersetzung über ihresgleichen lustig, überziehen ihren politischen Gegner mit Spott und Häme und geben ihn bisweilen der Lächerlichkeit preis. Entgegen der landläufigen Meinung sind Politiker durchaus zu Humor und Selbstironie fähig und bei Gelegenheit zu ausgelassenen Scherzen aufgelegt. Obgleich der Politik Ernsthaftigkeit als genuines Wesensmerkmal inhärent scheint, schätzen auch Volksvertreter Humor und Lachen als politikrelevante Faktoren ein: Carlo Schmid etwa hielt "den Humor für das Salz der Politik", und Richard Stücklen merkte wohl nicht zu Unrecht an: "Bei Politikern, die selbst nicht lachen können, hat das Volk auch nichts zu lachen."

Lachen in Zeiten des Krieges, der Wirtschaftskrise und der sozialen Konflikte? Dieser vermeintliche Widerspruch wirft die Frage nach den Funktionen auf, die Humor und Lachen auf der Ebene politischen Denkens und Handelns erfüllen. Dabei zeigt sich, dass Lachen und Politik elementare Gemeinsamkeiten aufweisen, die es für den Einzelnen, für Gruppen und die Gesellschaft möglich machen, selbst in schwierigen Zeiten lachen zu können. Vor dem Hintergrund der Wesensgleichheit von Lachen und Politik findet darüber hinaus seit einigen Jahren gewissermaßen eine Karnevalisierung des öffentlichen Lebens statt, die den Kern der so genannten Spaßgesellschaft bildet und dem politischen Treiben hier und da karnevaleske Züge verleiht. Diese "Karnevalisierung der Politik" lässt auch altbekannte und aktuelle Theoreme der Politikwissenschaft in einem neuen Licht erscheinen.

Die Wesensgleichheit von Lachen und Politik

Lachen ist keineswegs unpolitisch, im Gegenteil, "humor is natural and pervasive in politics". Denn Lachen und Politik verbindet eine Art Wesensverwandtschaft: Im nach Gemeinschaft strebenden und sprachmächtigen zoon politikon spiegelt sich der gemeindebildende und kommunikative Charakter des Lachens wider. Auf dieser Basis erfüllt Lachen politikrelevante Funktionen: Es bildet temporär Gruppen von Gleichgesinnten und stärkt deren Zusammenhalt; es dient als Waffe in der politischen Auseinandersetzung (Lächerlichmachen), kann aber auch Streitigkeiten entschärfen, Aggressionen reduzieren und Spannungen abbauen und so eine Grundlage gemeinsamer Verständigung schaffen; als ein Phänomen der Öffentlichkeit transportiert Lachen nonverbal Botschaften und Sinngehalte, Meinungen und Intentionen; es stiftet zur Kritik an, indem es verborgen gehaltene Sichtweisen demaskiert, und eröffnet neue Perspektiven, da es emotional aufgeladene Situationen rationalisiert. Neben dieser emanzipativ-revolutionären besitzt Lachen jedoch auch eine konservative Funktion. Denn als eine Art Sicherheitsventil trägt Lachen zur Stabilisierung des politischen Systems bei, indem es als Akt der Zustimmung Anpassung und Sozialisation erleichtert, als Chaos wahrgenommene Zustände und selbst soziale Repressionen erträglich machen kann und, da sich im Vorgang des Verlachens die Entmachtung der Mächtigen realisiert, kurzzeitig dem Ideal der Gleichheit nahe kommt. Als ein Mittel sozialer Kontrolle sanktioniert es darüber hinaus Normabweichungen und Grenzverletzungen: Bei Fehlverhalten droht als Strafe das Aus-Lachen der Gruppe im Sinne eines Aus-der-Gruppe-Lachens.

Lachen lässt sich indes nicht nur zur Steuerung und Beeinflussung politischen Denkens, Verhaltens und Handelns instrumentalisieren. Es zeigt überdies wie ein Seismograph gesellschaftliche Veränderungen an. Eingedenk seines eruptiven Charakters, den der Volksmund in vergleichsweise drastischen Bildern körperlicher Erschütterungen zum Ausdruck bringt - "sich totlachen", "sich kranklachen", "sich kaputtlachen", "Lachkrampf" -, kann Lachen als Zeichen für das Vorhandensein und als Maßstab für die Schwere von Missständen und Umbrüchen in der Gesellschaft interpretiert werden: Gelacht wird dort, wo die vertraute Welt in Unordnung geraten und keine andere Reaktion, etwa handelnd oder sprachlich, möglich ist. Lachen gibt indes Gewissheit, jede nur erdenkliche Situation beherrschen zu können, indem es das Schreckliche und Unaussprechliche verkleinert. Es wirkt dadurch stabilisierend bei der Verarbeitung aktueller Problemlagen, für die noch keine politische Lösung gefunden ist.

Störungen der politischen Ordnung manifestieren sich gemeinhin als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen den realen Gegebenheiten und den politischen Vorstellungen, Idealen, Wünschen, Bedürfnissen und Normen. Für politisches Lachen ist also die Kongruenz von Anspruch und Wirklichkeit bedeutsam: je tiefer die Kluft zwischen Sein und Sollen, desto lauter und nachhaltiger das Lachen. Vor allem in Zeiten des Wandels und der Krise verschärfen sich die Kontraste und mithin das Gelächter. Hier kommt eine weitere Analogie zwischen Politik und Lachen zum Tragen: So wie Letzteres ein historisch-situatives Phänomen ist, das je nach orts- und zeitspezifischem Profil der heterogenen Strukturen sein Gesicht verändert, kennt auch Politik aufgrund des Widerspiels konservativer und progressiver Kräfte die grundsätzliche Vorläufigkeit jeglicher Ordnung und die ländereigene Verschiedenartigkeit der politischen Systeme, Kulturen und Lachkulturen.

Insofern stellt Politik ein weites Feld an Lachgelegenheiten dar. Konstatiert wird indes gemeinhin der Rückgang politischen Humors und der "Niedergang des Humors in der Politik". Die Gründe hierfür sind scheinbar schnell gefunden. Vielfach heißt es, die Deutschen, ohnehin ein "Volk ohne Witz", lebten in einem gut funktionierenden politischen System mit freier Meinungsäußerung und einer Gesellschaft der Mitte ohne tief greifende Spaltung, so dass sich dem politisch motivierten Lachen nicht genügend Angriffsfläche biete. Einer Demokratie, in der jener Leidensdruck fehle, der in Diktaturen vorherrsche und dort Lachen zur Herstellung von Öffentlichkeit und zum Angst- und Frustrationsabbau benötige, stünden andere Formen der Bewältigung politischer Probleme und Missstände zur Verfügung. Joyce O. Hertzler hingegen meint, dass politischer Humor der Freiheit als dessen unabdingbarem Nährboden wegen gerade in Demokratien am besten gedeihe, und Charles E. Schutz behauptet gar, "democratic politics is a kind of comedy". Einen dritten Standpunkt vertritt Hans Speier. Er zieht aus der Tatsache, dass politische Witze einer gewissen Zeitlosigkeit unterliegen und ungeachtet der Herrschaftsverhältnisse von Generation zu Generation in nur leicht geändertem Gewande fortbestehen, den Schluss: "Für die Lachenden spielte offenbar der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie keine Rolle."

Die unterschiedlichen Ansichten resultieren aus den paradoxen Bedingungen des Lachens. Denn das Komische, die elementare Materie des Lachens, verflüchtigt sich in der Tat aus der gewohnten Lebenswelt des Einzelnen. Es entschwindet jedoch, indem es sich partialisiert und grenzüberschreitend ausweitet. Geht man davon aus, dass Lachen durch Inkongruenz und den Aufprall entgegengesetzter, strikt getrennter Sphären, Normen, Meinungen oder Weltanschauungen entsteht, dass es jedoch im Zuge des Zivilisationsprozesses einerseits zu einer Ausdifferenzierung und Ausdehnung von Lebensräumen, andererseits zu einer Überlappung der Grenzzonen und Verminderung der Kontraste zwischen diesen Segmenten kam, so nehmen zwar im Laufe der Zeit die Inkongruenzen und Kollisionen zu, gleichzeitig verringern sich aber das Ausmaß der Nichtübereinstimmung sowie die Heftigkeit des Zusammenpralls. Mit anderen Worten: In einer pluralistischen Demokratie erzeugt die Vielzahl der Berührungs- und Schnittpunkte mannigfaltige Konflikte, Spannungen und Normverstöße, doch diese sind im Regelfall weder total noch radikal, wie sie es in repressiven oder streng regulierten Systemen fast zwangsläufig sein müssen. Lachen büßt in einer Demokratie an funktionaler Bedeutung ein. Es ist mithin weniger aggressiv, wirkt aber auch weniger befreiend, seine Gruppenbildung ist unverbindlicher, seine Botschaft weniger eindeutig.

Man kann daher nicht pauschal von einem Rückgang politischen Humors sprechen. Vielmehr verteilen sich dessen Ziele auf eine Fülle von variablen Objekten, wodurch er beständig seine Gestalt verändert. Lachen unter totalitären Verhältnissen fokussiert hingegen eine gleichbleibend knappe Sujetmenge, etwa wenige zentrale Personen, und gründet auf dem Reiz des Verbotenen und Gefährlichen, der Lachlust wie Aufmerksamkeit steigert. In der Enge einer Diktatur treffen politische Witze, während sie in der Weite einer Demokratie, in der politischer Humor den Status des Selbstverständlichen besitzt, so dass Lachenden und ihrem Lachanlass zwangsläufig weniger Augenmerk zuteil wird, an Schärfe verlieren. Ein demokratisch geprägtes, an Normenvielfalt gewöhntes Bewusstsein baut eine erhöhte Erwartungshaltung gegenüber Phänomenen des Extremen auf. Abweichende Denk- und Verhaltensweisen integriert die demokratische Gesellschaft durch die allmähliche Ausweitung ihrer Toleranzgrenzen, so dass sie regressiven, anarchischen oder avantgardistischen Bewegungen die Spitze nimmt. Die Eingliederung ebnet die Gegensätze bis zu einem Grad ein, an dem sich Lachen nur noch stark entfunktionalisiert entzündet.

Da Politik zudem ihrer Natur gemäß eng mit anderen Segmenten der Gesellschaft verflochten ist, vermengen sich die Anlässe politischen Lachens häufig mit anderen Lebenswelten des Menschen, mit Familie, Medizin, Sport, Sexualität, Kunst, Technik und Wirtschaft. Diese Tendenz zur ubiquitären Ausdehnung der Wirk- und Einflusssphären begründet neben dem kommunitären und kommunikativen Wesenszug sowie der strukturellen Polarität und Heterogenität als Entstehungsquellen und Antriebsmotoren eine dritte Gemeinsamkeit von Lachen und Politik. Wie das Politische durchdringt das Komische alle Daseinsbereiche des Menschen, so dass Lachen einerseits kaum noch Tabuschranken kennt und andererseits in erster Linie kulturell geformt sowie ob der Vielfalt der Wechselbeziehungen in zunehmend unterschiedlicher Gestalt auftritt. Auf diese Weise wird die Welt zum einen beständig komischer respektive politischer, zum anderen erschwert aber die übergreifende Politisierung die Markierung des spezifisch Politischen. Folglich mangelt es weniger an politischem Humor als an der Unterscheidbarkeit des politischen Gehalts. Hier zeigt sich letztendlich die Raffinesse politisch motivierten Lachens: Wir lachen vordergründig über Allzumenschliches, dahinter aber verbirgt sich eine politische Botschaft, die wir lachend akzeptieren. Durch diese Doppelbödigkeit lassen sich unangenehme Wahrheiten verdeckt aussprechen, umgekehrt schließt selbst das simple Lächerlichmachen von Politikern einen kritischen Sinngehalt mit ein.

So reduziert der Lachende etwa mit dem Fingerzeig auf Eigenarten oder Defizite moralischer, geistiger und körperlicher Art die Fallhöhe des "Opfers", über dessen Schwächen und Fehler er sich erhebt. Durch die "vermenschlichende Verkürzung des Abstandes von Regierenden und Regierten" gelingt eine dem realen Machtgefüge nicht entsprechende Egalisierung für den Augenblick des Lachens. In einer modernen demokratischen Gesellschaft sinken indes aufgrund des fortschreitenden Verlustes des Numinosen in der Politik ohnehin Respekt und Furcht vor der politischen Elite. Lachen verstärkt diese Tendenz. Idealiter kommt so auf informellem Weg eine Rückbindung des politischen Systems an die Gesellschaft, das Wachhalten der Öffentlichkeit und eine Steigerung des Engagements zustande. Wer aber mittels Auslachen die Größe der Mächtigen zu schmälern sucht, dokumentiert zugleich seine eigene Ohnmacht. Realiter werden deshalb bestehende Verhältnisse akzeptiert, gar zementiert. Indizien hierfür sind der schleichende Schwund des politischen Kabaretts, der mit der Festigung des politischen Systems der Bundesrepublik einhergeht, aber auch die der These eines Niedergangs politischen Humors widersprechende Unzahl von Witzen und Karikaturen, die Altkanzler Helmut Kohl zum Gegenstand haben.

Über kaum einen Politiker der Bundesrepublik wurde so viel gelacht wie über Helmut Kohl, in Sonderheit zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler. Die Dissonanzen zwischen einem sich volksnah gebenden "Kanzler aller Deutschen" und einem geschickten Parteitaktiker, zwischen provinzieller Ausstrahlung und staatsmännischer Amtseignung sowie zwischen der avisierten geistig-moralischen Wende und handfesten Skandalen sorgten - und sorgen - für ausreichend Lachgelegenheiten. Doch je mehr gelacht wurde, desto gefestigter präsentierte sich trotz realer Stimmverluste die Regierung Kohl. Denn die Volkstümlichkeit entschärfte die Lachattacken, indem sie einerseits die Anlässe des Lachens vermehrte, andererseits aber die Fallhöhe zum lachenden Bürger verminderte: So viel Heiterkeit war nie, wenn auch selten so flach und unverbindlich.

Die Gemeinsamkeiten von Karneval und Politik

Gruppenbildung, kommunikativer Charakter, strukturelle Polarität und Heterogenität sowie Ubiquität stellen nicht nur die Eckpunkte der Wesensgleichheit von Lachen und Politik dar, sie schaffen zudem die Voraussetzung dafür, dass Karneval im 19. Jahrhundert zu einem Vehikel für die Verbreitung politischer Inhalte werden konnte (Politisierung des Karnevals) und das politische Geschehen heute bisweilen karnevaleske Züge annimmt (Karnevalisierung der Politik). Entstehung und Verlauf dieser Entwicklungslinien basieren auf grundlegenden Gemeinsamkeiten von Karneval und Politik, die ihrerseits aus der Geistesverwandtschaft des Lachens und der Politik hervorgehen: Das sind

die für eine aktive Teilnahme am Geschehen keineswegs zwingende, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl festigende, Eliten herausbildende und die Vergabe von Machtpositionen regelnde Mitgliedschaft in Karnevalsvereinen respektive Parteien und Verbänden;

das auf Unterhaltung, Überzeugung und Zustimmung abzielende Sprechen coram publico in der Bütt oder am Rednerpult; der politische Aschermittwoch, an dem derbe Sprüche nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwartet werden, ist gewissermaßen eine Verlängerung des Karnevals in den politischen Alltag hinein;

das Denken in polaren Schemata (hoch-niedrig, Leben-Tod, Geist-Körper respektive links-rechts, progressiv-konservativ, arm-reich, Regierung-Opposition, Freund-Feind);

das Überschreiten von Grenzen und die Tabulosigkeit bei der Themenwahl; idealiter werden in der Politik auch randständige Problemfelder angesprochen, und marginalisierten Personen und Gruppen, die in der öffentlichen Diskussion keine Stimme haben, wird repräsentativ eine Stimme verliehen.

Karneval ist die spielerische Gefährdung der rationalen Ordnung, die reglementierte Störung des öffentlichen Lebens. Sein subversives, anarchisches Potential erinnert stets an die mögliche Katastrophe, zeigt die Brüchigkeit des soziokulturellen und politischen Systems auf und ermahnt damit zu Disziplin im Alltag. Zum Wesen des Karnevals gehört daher das Bewusstsein von Veränderung, Erneuerung und Vergänglichkeit. Analog wird Politik von der Relativität jeder Herrschaft bestimmt. Vor allem in einer Demokratie ist nichts von Dauer, konstitutiv sind hingegen Wechsel und Ablösung. Andererseits bilden beide Gesetzmäßigkeiten und Konventionen heraus, um Kontinuität im Wandel zu gewährleisten. Vornehmlich Institutionen und Akteure (Elferrat, Karnevalsprinz, Funkenmariechen respektive Parlament, Abgeordnete, Kanzler, Präsident), Zeitpunkte und -räume (11.11., 11.11 Uhr und Rosenmontag respektive Legislaturperiode, Neujahrsansprache) und ritualisierte Abläufe (Ordensverleihung, Zeremonien, Bräuche respektive Amtseid, Haushaltsdebatten, Wahlen) geben Karneval und Politik eine feste Struktur und formen den Erwartungshorizont des Publikums.

Zudem finden beide in der Öffentlichkeit, in Sälen und auf Plätzen, statt und bedürfen daher neben verbaler Artikulation insbesondere der Visualisierung, Symbolisierung und theatralischen Inszenierung (Kostüme, Masken, Narrengericht respektive Flaggen, Parteifarben, Wahlkämpfe). Auf der karnevalistischen und politischen Bühne verbinden sich Präsentation und Repräsentation auf ganz spezifische Weise: Die Sündenbockfunktion des Narren spiegelt sich in der Stellvertreterrolle des Politikers wider, die ihn für alle Missstände in der Gesellschaft verantwortlich und - ob zu Recht oder Unrecht - a priori des Lügens, der Faulheit, der Bereicherung, der Bestechlichkeit und der Inkompetenz verdächtig macht. Überdies verkörpern Politiker das öffentliche Gewissen, das sie durch echte oder inszenierte Empörung und Betroffenheit entlasten: "Unsere Politiker tragen den Ernst als Maske, um uns den Ernst der Lage zu ersparen." Ihr Engagement für das Gemeinwesen befreit den Einzelnen von Eigeninitiative und einer über punktuelle Ad-hoc-Aktivitäten hinausgehenden Mitwirkung sowie von konstantem Entscheidungs- und Handlungsdruck, indem sie im Auftrag des Wählers stellvertretend Probleme angehen und - wie dies auch Komödianten, Komiker und Kabarettisten für ihr Publikum tun - Konflikte bewältigen. Damit vermag der Bürger quasi per Stimmabgabe die eigene Unvollkommenheit, seine Ängste und Hoffnungen auf den Repräsentanten zu projizieren und sich zumindest eines Teils seiner Verantwortung für die Gesellschaft zu entledigen.

Wird die Leistung der politischen Repräsentanten als defizitär wahrgenommen, äußern sich Unzufriedenheit und Protest unter anderem in politischen Demonstrationen. Diese ähneln in gewisser Weise Karnevalsumzügen: Beide stellen stabilisierende Faktoren dar, indem sie als Großveranstaltungen zur Kanalisierung einer Massenhandlung beitragen und sich als Ventil für emotional aufgeladene Stimmungen eignen. Fahnen, Parolen, Schlagwörter, Symbole und Kleidung sind gleichsam Masken, die den Einzelnen in eine Gruppe Gleichgesinnter einbetten und seine Rolle auf der politischen Bühne festschreiben. Durch das Anlegen solcher Masken repräsentiert der Träger die Gemeinschaft, für deren Ziele er kämpft.

Die Politisierung des Karnevals und die Karnevalisierung der Politik

Die Politisierung des Karnevals vollzog sich im Gefolge der Säkularisierung, Ideologisierung, Liberalisierung und Pluralisierung um 1830, als der organisierte Karneval zum Sammelbecken für revolutionär-demokratische Strömungen im Kampf gegen die obrigkeitsstaatliche Ordnung, gegen Zensur und politische Repressionen wurde. Unter dem Deckmantel vorgeblicher Brauchtumspflege und harmlos-fröhlicher Heiterkeit bot er eine Plattform für den Ruf nach Freiheit, Gleichheit und nationaler Einheit. Da sich hinter der Maske des Narren die weithin unterdrückte Rede- und Meinungsfreiheit entfalten konnte, wirkte die Errichtung einer temporären Gegenwelt während des Karnevals, in der utopische Zukunftsmodelle und Als-ob-Fiktionen ihren Platz fanden, als Ventil für verwehrte politische Forderungen. Karnevalistische Zusammenschlüsse umgingen die Restriktionen hinsichtlich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und galten als parlamentarische Schule, die den Bürger für öffentliche Angelegenheiten sensibilisieren sollte.

Mit den Errungenschaften im Zuge der Demokratisierung nach 1848 und der Vereinnahmung des Karnevals für die nationale Begeisterung und Militarisierung der Gesellschaft nach der Reichsgründung 1870/71 verflachte der revolutionäre Impetus. Einen weiteren Entpolitisierungsschub brachte die Gründung der Bundesrepublik mit sich, da Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht mehr erstritten werden mussten, sondern als Grundrechte fortan verfassungsmäßig garantiert waren. Gezähmt und gemäßigt durch die Integration in die bürgerliche Gesellschaft dient der artifizierte, inszenierte und kommerzialisierte Karneval heute eher der Unterhaltung und Zerstreuung, der Flucht aus dem Alltag und der Bestätigung gegebener Verhältnisse. Infolge der Orientierung an den kleinen menschlichen Schwächen, der Verspottung spießbürgerlichen Gebarens und der Hinwendung zum Klamaukhaften geriet das Politische zusehends aus dem Blickfeld.

Obwohl (oder gerade weil) dem politischen Karneval allmählich der Nährboden seiner Konflikt- und Kritikfähigkeit entzogen worden ist, markiert er einen der Eckpunkte im Identitätsgefüge der Bundesrepublik: "Der rheinische Karneval ((...)) gehörte zur Bonner Republik wie die erfolgreiche Westbindung, die soziale Marktwirtschaft und die Römischen Verträge." Daran vermochten auch der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin nichts zu ändern: "Die fünfte Jahreszeit gehört längst zum politischen Alltag - und ist damit auch Teil der Berliner Republik."

Diese Einschätzung korrespondiert mit einem Prozess, den man in Anlehnung an den Literaturwissenschaftler Michail Bachtin als Karnevalisierung der Politik bezeichnen kann. Bachtin gründete seine Romantheorie auf vier "Kategorien des Karnevals", die "im Verlauf von Jahrtausenden in die Literatur transponiert" wurden und sukzessive zu einer "Karnevalisierung der Literatur" geführt haben: Familiarisierung (Außerkraftsetzung von Gesetzen, Verboten und Beschränkungen, Abbau sozialer Schranken und Hierarchien, Aufhebung der Distanz zwischen den Menschen); Exzentrizität (Einnahme eines Standpunktes jenseits der Logik des gewöhnlichen Lebens, konkret-sinnliches Ausleben der unterschwelligen Seiten der menschlichen Natur); Mesalliance (Vereinigung von Gegensätzen, Vermengung des Geheiligten mit dem Profanen, des Hohen mit dem Niedrigen, des Großen mit dem Winzigen); Profanation (Erhöhung und anschließende Erniedrigung von Personen, Parodisierung, Unverblümtheit sowie Obszönität von Sprache und Gestik).

Diese Kategorien markieren aber nicht allein den Bereich der Literatur, sie beschreiben vielmehr die Entwicklungslinien einer generellen Karnevalisierung des öffentlichen Lebens, die gewissermaßen als Perpetuum mobile die Spaßgesellschaft antreibt und die politische Kultur beeinflusst. So spiegeln Enthierarchisierung und die Beseitigung von Intimitätsschwellen als Momente der karnevalistischen Familiarisierung beispielsweise die zunehmende Überlappung der öffentlichen und der privaten Sphären wider. Ihre politische Dimension zeigt sich einerseits darin, dass das Private immer öfter politisch wird: Seit die politischen Lager erodieren, die Parteibindungen schwinden und sich die programmatischen Profile der Parteien annähern, richtet sich das Augenmerk der Öffentlichkeit mehr und mehr auf die individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Politikern. Da die Einschätzung von Personen ohnehin grundsätzlich einfacher und alltagsnäher ist als das Studium komplexer Parteiprogramme und das Abwägen von Sachargumenten, bezieht der Bürger bei der Beurteilung politischer Sachverhalte die einem Politiker zugeschriebenen Charakteristika mit ein und greift letztendlich auch bei Wahlentscheidungen auf diese zurück.

Andererseits wird das Persönliche und Private von Politikern selbst immer häufiger zur Eigendarstellung akzentuiert. Personengebundene Informationen lassen sich nicht nur leichter vermitteln als abstrakte politische Prozesse, sie stützen zudem die Vorstellung, Politik werde nicht von Zwängen regiert (Demographiefaktor, Globalisierung), sondern von Menschen gemacht und sei in all ihren Folgen jederzeit beherrschbar. Personalisierung verschleiert zudem die Tatsache, dass Politik vielfach in nichtöffentlichen Gremien, von Experten besetzten Kommissionen und vertraulichen Kamingesprächen "hergestellt" wird. Wahlkampfplakate, die etwa Edmund Stoiber und seine Familie zeigen, schaffen durch die Abbildung von Intimität Vertrauen. Sie erhöhen die Sympathiewerte eines Politikers und erleichtern den Aufbau emotionaler Bindungen. Auf diese Weise kann von Problemen, die möglicherweise Stimmenverluste bedeuten, weil sie Unsicherheit und Angst erzeugen, abgelenkt, die schwindende Zahl fester Parteibindungen überbrückt und das Desinteresse des Bürgers an einer Auseinandersetzung mit politischen Themen und Programmen kompensiert werden. Doch ob Adenauers Boccia-Spiel, Kohls Saumagen oder Schröders Cousinen, die Suggestion, Politiker seien Menschen "wie du und ich", trübt den Blick für die realen Einfluss- und Gestaltungschancen, indem sie bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Hierarchien und Privilegien für den Moment außer Kraft zu setzen und egalitäre Beziehungen herzustellen scheint.

Mehr noch als das Bemühen, sich mit dem Bürger auf eine Stufe zu stellen, erregt exzentrisches Verhalten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Richtig platziert können dadurch Bekanntheitsgrad und Popularität gesteigert und die politische Karriere vorangetrieben werden. Im Wissen um die Bedeutung der Medienpräsenz, die ein begehrtes Gut im Wettbewerb um Beachtung und Anerkennung durch die Allgemeinheit darstellt und noch immer einen Hauch von Exklusivität vermittelt, versuchen sich Politiker, Parteien und Institutionen zu profilieren und politisch zu positionieren. Wer indes um jeden Preis auffallen will, geht stets das Risiko ein, sich lächerlich und zum Politclown zu machen, indem er den Einsatz der Mittel übertreibt, einen ungünstigen Zeitpunkt wählt oder die Reaktionen auf sein Verhalten falsch einschätzt. In diesem Sinne tragen Oskar Lafontaines Abgang als Finanzminister im Frühjahr 1999, Rudolf Scharpings für ein Massenblatt inszenierter Badespaß auf Mallorca und Gerhard Schröders Italienurlaubsboykott ebenso karnevaleske Züge wie das illusorische "Projekt 18", die Ausrufung Guido Westerwelles zum Kanzlerkandidaten der FDP und dessen Rundreise quer durch die Republik im "Guidomobil" anlässlich der Bundestagswahl 2002.

Der exaltiert-verzweifelte Versuch mancher Politiker, ihr Image als hölzern-langweilige Biedermänner abzustreifen, indem sie vor laufenden TV-Kameras über Jugenderinnerungen plaudern (Friedrich Merz als Mofa-Rowdy, Hans Eichel als Konsument leichter Drogen), ist der wachsenden Medienfixierung der Politik geschuldet. Diese führt, dem Diktat der Medien gehorchend, zu einer Verknüpfung und Vermischung politikrelevanter und politikferner Nachrichten - eine Mesalliance von Inhalt (Information) und Form (Unterhaltung), die gegenwärtig als "Boulevardisierung", "Theatralisierung", "Infotainment" und "Politainment" diskutiert wird: "Durch die Interpenetration von Comedy und Politik (...) erscheint das politische Geschäft weitgehend als das, was es in der Medienkultur tatsächlich zumindest in Teilen auch geworden ist: als eine Unterhaltungsshow." Überschreitet die "Entertainisierung" die Grenze zum Karnevalesken, finden die Betonung des Körperlichen, die Koppelung an das Sichtbare und die Schaulust, die dem karnevalistischen Wesen eignen, ihre Entsprechung unter anderem in Spottbildern, die Äußerlichkeiten gleichsam wie Markenzeichen hervorheben (Helmut Kohl als "Birne"), und im öffentlichen Interesse an Rudolf Scharpings Bart, Angela Merkels Frisur oder Gerhard Schröders Haarfarbe ("Echthaar-Kanzler").

Die am Körperlichen orientierte Komponente des Karnevals korrespondiert mit der allgemeinen Sexualisierung des öffentlichen Raums. Nicht nur in der Werbung, in Filmen und im TV ist die Zurschaustellung von Nacktheit nahezu allgegenwärtig, am Trend zum Voyeurismus beteiligt sich auch die Politik. So versuchen Parteien, vor allem Jungwähler mit mehr oder weniger unverhohlenen sexuellen Anspielungen für sich einzunehmen: etwa die Grüne Jugend Baden-Württemberg mit einer für den Landtagswahlkampf 2001 lancierten Postkartenaktion ("Grün fickt besser. Untersuchung zeigt: Hausfrauen und Grüne haben am häufigsten Sex.") oder die Jungen Liberalen ("Steck ihn rein"), die Jusos ("Das ist erst das Vorspiel, der Höhepunkt kommt noch"), die PDS ("Heute popp' ich, morgen kiff' ich, übermorgen wähl' ich PDS") und die Bündnisgrünen ("Wir machen's gleich") mit zweideutigen Slogans im Bundestagswahlkampf 2002. Auch eine Anzeigen- und Plakataktion des Bundesumweltministeriums zur Imageverbesserung der Ökosteuer warb mit dem Text: "Mehr Sex. Und wer öfter mal das Licht ausmacht, wird belohnt. So oder so." Die - wenngleich späte - Selbstbeschränkung der Medien bei der angeblichen Affäre des "Vier-Ehen-Kanzlers" Gerhard Schröder mit einer TV-Moderatorin macht hingegen die Grenzen der Indiskretion deutlich: Sie verlaufen - anders als in den USA - in der Bundesrepublik offenbar noch überall dort, wo die Gefahr eines Imageverlustes, der nicht allein die Person, sondern ebenso das Amt selbst beschädigen kann, gegeben ist.

Gerade weil Gerhard Schröder als Bundeskanzler eine singuläre Rolle im Regierungssystem spielt, unterliegt er besonderer Beobachtung. Zunehmend sieht er sich jedoch allgemeiner Volksbelustigung ausgesetzt: vermarktet auf CD ("Der Bierkanzler", "Die Gerd-Show"), verunglimpft als"Schwachmaten-Kanzler" oder verhöhnt als "Krötenwanderungs-Kanzler", der, um Haushaltslöcher zu stopfen, die "Kröten" aus den Portemonnaies der Bürger in die seines Finanzministers wandern lässt, wird der einstige "Spaßkanzler" zu einem unterhaltsamen und erheiternden Bestandteil der Spaßgesellschaft. Die Enttäuschung der hoch gesteckten Erwartungen und Hoffnungen, die man nach der als Stillstand empfundenen letzten Phase der Regierungszeit Helmut Kohls in die rot-grüne Koalition gesetzt hatte, äußert sich heute in der Verspottung von Gerhard Schröder: erst als Held gefeiert, dann als Witzfigur vom Sockel gestoßen und verlacht - nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen. Eine solche Profanation erinnert an den Brauch, den Karnevalskönig kurz nach seiner Inthronisierung wieder vom Thron zu stürzen.

Fazit

"Sind wir hier im Karneval?" In Debatten verwenden Abgeordnete des Deutschen Bundestages vielfach Begriffe aus dem sprachlichen Umfeld des Lachens, um die Seriosität der Argumentation eines politischen Gegners in Zweifel zu ziehen oder dessen Glaubwürdigkeit zu untergraben. Gleichzeitig greifen sie mit demselben Wortschatz Kolleginnen und Kollegen an und werfen ihnen vor, durch ihre Rede- und Verhaltensweisen im Plenum die Würde des Hohen Hauses zu verletzen. Diese verbale Gratwanderung kann gelingen, da die Grenzen zwischen Ernst und Unernst auch in der Politik fließend sind. Komisches und Ernstes treten immer gemeinsam in Erscheinung, das eine ist vom anderen nicht zu trennen: "We might say that the greater the potential for conflict, the greater the comic veil."

Das ändert nichts an der Tatsache, dass Politik - ebenso wie der vereinsmäßig betriebene Karneval - grundsätzlich eine ernste Angelegenheit ist. Der Verlust an Politikfähigkeit jedoch ist evident: Ausweitung der Handlungssphären, aber Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten; steigende Erwartungshaltungen, aber Verringerung der Gestaltungskraft; steigender Problemlösungsdruck, aber Verkürzung der Halbwertzeit politischer Projekte und Maßnahmen. Lachen vermag zeitweise vom Druck zu befreien, Defizite auszugleichen und Freiräume zu schaffen. Es stärkt den Gemeinsinn, fördert Kreativität und Reformbereitschaft und baut Frustpotentiale ab. Seine therapeutische Wirkung entfaltet sich vor allem bei der Verarbeitung von Schreckensnachrichten, die auf andere Weise nicht kompensiert werden können: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Wer sich indes über alles und jeden lustig macht, alles irgendwie witzig findet, schwächt die Funktionen, die das Lachen für die Politik haben kann, und stärkt die Tendenz zur Karnevalisierung als Impulsgeberin der indifferent-unverbindlichen Spaßgesellschaft. Das Fortschreiten des Karnevalisierungsprozesses ist ein soziokulturelles Phänomen, das als Begleiterscheinung des öffentlichen Lebens das politische Geschehen zwar keineswegs dominiert, aber einen gut Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht, da es das alltägliche Routinegeschäft der Politik punktuell und situationsgebunden überlagert. Das Ausmaß der Karnevalisierung nimmt jedoch auch deshalb zu, weil das dem Politischen artverwandte karnevalistische Element seinerseits auf eine sich beständig verändernde "politische Kultur, in der medial inszenierte Emotionen, Privates und Unterhaltung immer mehr Bestandteil der Politik selbst werden", reagiert. So stellt der Karneval - wie auch das Lachen - einen nicht unbedeutenden Mosaikstein dar, ohne den das aktuelle Bild der Politik unvollständig wäre.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 11./12.5. 2002, S. 4.

  2. Zit. nach: Die Zeit vom 3.5. 2002, S. 5.

  3. Zit. nach: Der Spiegel, Nr. 18 vom 29.4. 2002, S. 28.

  4. Zit. nach: SZ vom 23.4. 2002, S. 3.

  5. Dem Frohsinn deutscher Politiker auf der Spur ist etwa die Sammlung humorvoller Zitate aus den ersten sechs Legislaturperioden des Deutschen Bundestages: Lachen links, Heiterkeit rechts. Vergnügliches aus dem Bundestag, hrsg. von Peter Wienand und Manfred Wirbelauer, Düsseldorf 1974; zum Lachen im Deutschen Bundestag vgl. auch Marcus Hoinle, "Heiterkeit im ganzen Hause" - Über parlamentarisches Lachen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32 (2001) 2, S. 441 - 453.

  6. So in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ordens "Wider den tierischen Ernst" in Aachen im Jahre 1958. Zit. nach: Anton M. Keim, 11 Mal politischer Karneval. Weltgeschichte aus der Bütt. Geschichte der demokratischen Narrentradition vom Rhein, Mainz 19812, S. 222.

  7. Zit. nach: SZ vom 10.5. 2002, S. 3.

  8. Charles E. Schutz, Political Humor. From Aristophanes to Sam Ervin, Cranbury, N. J. 1977, S. 45. Humor ist die Gemütsverfassung des Trotzdem, die ungeachtet aller Widrigkeiten und Erschütterungen dem Dasein komische Seiten abgewinnen kann und der Ernsthaftigkeit von Politik mit einem Lachen begegnet.

  9. Vgl. Joyce O. Hertzler, Laughter. A Socio-scientific Analysis, Jericho, N.Y. 1970, S. 213.

  10. Christian de Nuys-Henkelmann, "Ach, Schnucki (...)" Humor in der Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/1985, S. 3 - 15, hier S. 3 (Hervorhebung im Original).

  11. Otto F. Best, Volk ohne Witz. Über ein deutsches Defizit, Frankfurt/M. 1993.

  12. Vgl. Klaus Hansen, Das kleine Nein im großen Ja. Witz und Politik in der Bundesrepublik, Opladen 1990, S. 137.

  13. Vgl. ebd., S. 137ff.; vgl. auch Lutz Röhrich, Der Witz. Figuren, Formen, Funktionen, Stuttgart 1977, S. 216; Eike Christian Hirsch, Der Witzableiter oder Schule des Gelächters, Hamburg 1985, S. 252f.; Gregor Benton, The Origins of the Political Joke, in: Chris Powell/George E.C. Paton (Hrsg.), Humour in Society. Resistance and Control, London 1988, S. 33 - 55, hier S. 34; Hans-Jochen Gamm, Der Flüsterwitz im Dritten Reich. Mündliche Dokumente zur Lage der Deutschen während des Nationalsozialismus, München 1990(2), S. 190.

  14. Vgl. J. O. Hertzler (Anm. 9), S. 145. Allerdings schwinde aufgrund des wachsenden Konformismus und des sich beschleunigenden soziokulturellen Wandels, der das Gespür für die Veränderungen zerstöre, auch in Demokratien allmählich das Lachen.

  15. Ch. E. Schutz (Anm. 8), S. 37.

  16. Hans Speier, Witz und Politik. Essay über die Macht und das Lachen, Zürich 1975, S. 55. Als Beispiel führt er Witze an, die sowohl gegen Hitler und Stalin als auch gegen Willy Brandt im Umlauf waren.

  17. Infolgedessen wächst mit dem Verlangen nach Lachgelegenheiten auch der Bedarf an professionellen Spaßmachern und Possenreißern. So öffneten 1999 in Köln und Hannover Comedy-Schulen ihre Pforten, um vor allem TV-Sender mit jungen Unterhaltungstalenten zu versorgen. Bundesweit entstanden ferner so genannte "Lachclubs", in denen unter Anleitung in Gruppen gelacht werden kann. Ähnlich britischen Patienten, die eine "Humortherapie" auf Rezept erhalten, um durch Lachen den Heilungsprozess ihrer Krankheit in Gang zu setzen oder zu beschleunigen, kommt auch in der Bundesrepublik Lachen seit den späten achtziger Jahren als Mittel in der Psychotherapie zur Anwendung. Diese unterschiedlichen Beispiele machen die Bedeutung des Lachens im Alltag deutlich. Zugleich sind sie Indizien seiner Kultivierung und Artifizierung und damit des Verlustes seiner Natürlichkeit.

  18. Ein überwiegender Teil der neuzeitlichen Theorien über das Komische lässt sich mutatis mutandis auf diese Kernaussage zurückführen. Zum Beispiel Friedrich Georg Jünger, Über das Komische, Frankfurt/M. 1948 (Orig. 1898), S. 13: "Alles Komische geht aus einem Konflikt hervor"; Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Frankfurt/M. 1988 (Orig. 1900), S. 32ff.: "Etwas Mechanisches überdeckt etwas Lebendiges"; Joachim Ritter, Über das Lachen, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974 (Orig. 1940), S. 62 - 92, S. 78: Es gehe darum, "im Komischen die Identität eines Entgegenstehenden und Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden herzustellen"; Helmut Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt/M. 1970, S. 93: Das Komische demonstriere "Gegensinnigkeit als Einheit"; Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin-New York 1998, S. 7: "Das Komische erscheint als Antithese zu den ernsten Angelegenheiten."

  19. Zum Zivilisationsprozess vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, zwei Bände, Frankfurt/M. 199720 (Orig. 1939).

  20. Vgl. Heinz Otto Luthe, Komik als Passage, München 1992, S. 189. Neue Ausdrucksformen des Lachens entstanden im 20. Jahrhundert beispielsweise durch Kino und Fernsehen (slapstick, screwball, sitcom).

  21. Dass es in politischen Witzen oft mehr um Privates denn um die große Politik geht, konstatiert beispielsweise L. Röhrich (Anm. 13), S. 209.

  22. Der Spott über Rudolf Scharpings bedächtige Sprechweise oder seine Stürze vom Fahrrad ist über die allgemein-menschliche Schadenfreude hinaus erst in zweiter Linie in seiner politischen Relevanz erkennbar, etwa als subkutaner Hinweis auf die vermutete Nicht-Befähigung, hohe Partei- oder Staatsämter zu bekleiden. Ebenso wenig deutlich ist folgender Witz, in dem zunächst die zwischenmenschliche Komponente einer ehelichen Beziehung im Vordergrund steht: Hannelore Kohl zu ihrer Freundin: "Ich habe eine alte Hölderlin-Ausgabe für meinen Mann bekommen." Darauf die Freundin: "Guter Tausch!" Unterschwellig klang vor der Bundestagswahl 1998 zudem der Aufruf zur vermeintlich überfälligen Abwahl eines verbrauchten Kanzlers ("alte Hölderlin-Ausgabe") durch Veränderung der Mehrheiten an. Auf einer weiteren Ebene erscheint Kohl kontrapunktisch zu Hölderlin als wenig intelligent und ungebildet.

  23. Das Sich-lustig-Machen über die Defizite anderer Menschen ermöglicht es uns, das Bild, das wir von uns selbst haben, zu filtern und uns selbst als gesunde und schöne Menschen zu sehen. Wir übertragen die potenziellen Absonderlichkeiten unseres Körpers und Geistes auf den Verlachten, vgl. Maurice Lever, Zepter und Narrenkappe. Geschichte des Hofnarren, München 1983, S. 86.

  24. Chr. de Nuys-Henkelmann (Anm. 10), S. 4.

  25. So auch K. Hansen (Anm. 12), S. 88; ähnlich H. Speier (Anm. 16), S. 38, und Ch. E. Schutz (Anm. 8), S. 44.

  26. Die zahllosen Kohl-Witze erzeugten ihrerseits Meta-Witze, also Witze über Kohl-Witze: Als sich Kneipenbesucher Zahlen zurufen - "100", "120", "180", "200" -, fragt einer am Tresen: "Was ist denn mit denen los? Streiten die über's Tempolimit?" - "Nö, die streiten, wer von ihnen die meisten Kohl-Witze erzählen kann!". Zit. in: Andreas Schmidt, Politische Autorität im Witz. Zur Grundlage der Prävalenz als Agens des politischen Witzes in der Bundesrepublik Deutschland inklusive eines Forschungsberichts, Darmstadt 1988, S. 161.

  27. Norbert Bolz, Schock des Weltterrors. Wider die Pathosformel der Neuen Ernsthaftigkeit, in: Frankfurter Rundschau vom 6.11. 2001, S.17.

  28. Zum politischen Karneval vgl. u.a. A. M. Keim (Anm. 6) sowie Michael Müller, Karneval und Politik. Zum Verhältnis zwischen Narren und Obrigkeit am Rhein im 19. Jahrhundert, Koblenz 1993.

  29. Zum politischen Karneval nach 1848 vgl. A. M. Keim (Anm. 6), S. 77ff., und M. Müller (Anm. 28), S. 28ff.

  30. Zum politischen Karneval nach 1870/71 vgl. A. M. Keim (Anm. 6), S. 101ff., und M. Müller (Anm. 28), S. 31ff.

  31. Zum politischen Karneval nach 1945 vgl. A. M. Keim (Anm. 6), S. 216ff.

  32. Hildegard Stausberg, Die jecke rheinische Republik - Geschichte und Gegenwart zugleich, in: Die Welt vom 26.2. 2001, S. 2.

  33. Ebd.

  34. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/M. 1996(2) (Orig. 1963/65), S. 47ff.

  35. Vgl. hierzu den Sammelband von Kurt Imhof/Peter Schulz (Hrsg.), Die Veröffentlichung des Privaten - Die Privatisierung des Öffentlichen, Opladen-Wiesbaden 1998.

  36. Vgl. Werner Wirth/Ronald Voigt, Der Aufschwung ist meiner! Personalisierung von Spitzenkandidaten im Fernsehen zur Bundestagswahl 1998, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wahlkampf in den Medien - Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Opladen-Wiesbaden 1999, S. 133 - 158, hier S. 134.

  37. Vgl. hierzu Christina Holtz-Bacha, Wohl überlegtes Kalkül. Über den Einsatz des Privaten im Wahlkampf, in: Frankfurter Rundschau vom 21.1. 2003, S. 2.

  38. Vgl. Torben Lütjen/Franz Walter, Medienkarrieren in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und Jürgen W. Möllemann, in: Ulrich von Alemann/Stefan Marschall (Hrsg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 390 - 419. Den Bogen überspannen allerdings auch die Medien durch ihren unstillbaren Hunger nach Sensationen und das - nicht selten von Politikern initiierte und forcierte - Aufbauschen von Affären und Skandalen. So entsteht der Eindruck eines empirisch nicht belegbaren, da realiter nicht gegebenen politischen Sittenverfalls. Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger, Die Kunst der Skandalierung und die Illusion der Wahrheit, München 2001.

  39. Vgl. hierzu Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001.

  40. Ebd., S. 152.

  41. Vgl. hierzu Christina Holtz-Bacha, Entertainisierung der Politik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 31 (2000) 1, S. 156 - 166.

  42. Zit. nach: Focus, Nr. 36 vom 2.9. 2002, S. 27.

  43. Zit. in: ebd. Nr. 8 vom 18.2. 2002, S. 34.

  44. Zum Zusammenhang von Sexualität und Lachkultur vgl. Hans-Dieter Gelfert, Max und Monty. Kleine Geschichte des deutschen und englischen Humors, München 1998, S. 146ff.

  45. Zit. nach: Der Spiegel, Nr. 47 vom 18.11. 2002, S. 32.

  46. Zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.11. 2002, S. 13.

  47. Vgl. hierzu Wolfgang Büscher, Kennen Sie den?, in: Die Welt vom 25.11. 2002, S. 10.

  48. Vgl. M. M. Bachtin (Anm. 34), S. 50.

  49. So Leyla Onur (SPD) im Deutschen Bundestag, 14/133/12812 (14. Legislaturperiode/133. Sitzung/S. 12812 des Sitzungsprotokolls).

  50. "Die sogenannte ökologische Steuerreform erweist sich immer mehr als eine Lachnummer." (Peter Rauen, CDU/CSU, 14/11/659); "Sie halten hier ja eine Büttenrede! Das hat mit seriöser Auseinandersetzung nichts zu tun!" (Steffen Kampeter, CDU/CSU, 14/138/13484); "Sie vertreten hier nebulöse Konzepte und halten das sogar noch für Finanzpolitik. Da kann ich ja nur lachen!" (Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen, 14/252/25492).

  51. "Ach, Herr Poß, Sie sind ein Witzbold!" (Peter Rauen, CDU/CSU, 14/88/8138); "Herr Bosbach, Sie machen sich schon wieder lächerlich!" (Wilhelm Schmidt, SPD, 14/142/13903).

  52. "Hör mal, wir sind doch nicht im Kasperltheater!" (Wilhelm Schmidt, SPD, 14/45/3764); "Sind wir hier im Kabarett?" (Hans-Joachim Fuchtel, CDU/CSU, 14/123/11821); "Das Parlament ist keine Karnevalsveranstaltung!" (Klaus Brandner, SPD, 14/144/14139).

  53. Charles E. Schutz, Cryptic humor: the subversive message of political jokes, in: Humor. International Journal of Humor Research, 8 (1995) 1, S. 51 - 64, hier S. 54.

  54. So das Motto des Erzählbandes "Die Yankeedoodlefahrt und andere Reisegeschichten" von Otto Julius Bierbaum (1909).

  55. Hermann Strasser/Achim Graf, Schmidteinander ins 21.Jahrhundert. Auf dem Weg in die Spaß- und Spottgesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/2000, S. 7 - 16, hier S. 13.

Dr. rer. soc., geb. 1968; Politikwissenschaftler.
Anschrift: Max-Stromeyer-Straße 9, 78467 Konstanz.
E-Mail: E-Mail Link: mhoinle@web.de

Veröffentlichungen u.a.: Metaphern in der politischen Kommunikation. Eine Untersuchung der Weltbilder und Bilderwelten von CDU und SPD, Konstanz 1999; "Heiterkeit im ganzen Hause" - Über parlamentarisches Lachen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32 (2001) 2; Was ist eigentlich politischer Stil?, in: Zeitschrift für Politik, 49 (2002)2.