I. Der Ausgangspunkt: Entwicklungsunterschiede und das Ziel der Kohäsion
Die Frage der Erweiterung der Europäischen Union (EU) um neue Mitglieder ist nur noch eine Frage des Wann, nicht mehr des Ob. Dreizehn Länder haben derzeit den Bewerberstatus: die zehn früheren Ostblockländer Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn sowie die Mittelmeerländer Malta, Türkei und Zypern. Mit Ausnahme der Türkei verhandeln die Länder derzeit mit Brüssel den Beitritt. Mit der Mitgliedschaft in der EU verbinden Politiker wie Bürger in den Beitrittsländern die Hoffnung auf ein Aufholen gegenüber den wohlhabenden westeuropäischen Gesellschaften, nachdem die Systemtransformation, also der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft, diese Erwartungen nur zum Teil erfüllt hat.
Die Kernfragen sind: Können die Erweiterungsländer nach dem Beitritt den wirtschaftlichen und sozialen Rückstand zu den westeuropäischen Gesellschaften verringern? Und ist die EU-Mitgliedschaft dabei hilfreich? Optimistische Stimmen gehen davon aus, dass hohes Wirtschaftswachstum zunächst die fortgeschrittenen Bewerberländer, später dann die Nachzügler an das Niveau der derzeit schwächsten EU-Länder heranführen wird.
"Aufzuholen" ist nicht nur Wunsch der Bewerberstaaten, sondern auch offizielles Ziel der EU. Seit ihrer Gründung gehören der Gemeinschaft Länder mit sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen an. Insbesondere die Aufnahme ärmerer, peripherer Länder wie Irland 1973, Griechenland 1981 sowie Portugal und Spanien 1986 hat die Gemeinschaft heterogener gemacht, und die Frage, wie die Entwicklungsunterschiede und Wohlfahrtsdisparitäten verringert werden können, hat einen festen Platz auf der Agenda der EU.
Mit der Osterweiterung wird die Verpflichtung zur Kohäsion noch mehr Brisanz bekommen, hauptsächlich wegen des niedrigen Einkommens- und Wohlstandsniveaus in einigen Bewerberländern. Gegenwärtig liegt deren Pro-Kopf-Einkommen (Bruttoinlandsprodukt [BIP] nach Kaufkraftstandards) zwischen 81 Prozent (Zypern) und 22 Prozent (Bulgarien) des EU-Durchschnitts.
Ist die Integration in die EU hilfreich für eine aufholende Modernisierung? Das ist das Thema dieses Artikels. Die Suche nach der Antwort erfolgt in drei Schritten: Zunächst wird anhand eines Modells geklärt, wie die EU-Politik die Lebensqualität in schwächeren Mitgliedstaaten beeinflusst. Dann wird ein Blick auf die bisherige Bilanz der Süderweiterung und die Entwicklung Irlands geworfen, die gute Vergleichsfälle für die anstehende Erweiterung sind. Es folgt ein Ausblick auf die Chancen und Risiken für die Bewerberländer der Osterweiterung.
II. EU-Mitgliedschaft und Lebensqualität
Da die EU-Politik nicht nur auf die Wirtschaftsentwicklung, sondern letztlich auch auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in einem weiteren Sinne zielt, ist es sinnvoll, mit Konzepten der Lebensqualität zu arbeiten.
Die EU-Politik beeinflusst die Lebensqualität in den Mitgliedstaaten hauptsächlich durch die drei folgenden Mechanismen: die Regionalpolitik, institutionelle Anpassungen und wirtschaftliche Integration.
1. Regionalpolitik
Der stärkste, intentionalste und unmittelbarste Impuls kommt von der Regionalpolitik (auch Struktur- oder Kohäsionspolitik genannt). Dieses Politikfeld hat in Brüssel stetig an Bedeutung gewonnen.
Für die Mitglieder stehen mit den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds zwei Fördertöpfe zur Verfügung (s. Übersicht 1). Bei den Strukturfonds werden Grade der Bedürftigkeit ("Ziele") unterschieden, wobei die stärkste Unterstützung, nämlich zwei Drittel der Gelder, den "Ziel 1"-Regionen vorbehalten ist.
Beim Kohäsionsfonds erfolgt die Bedürftigkeitsprüfung dagegen auf nationaler Ebene, mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 90 Prozent des Durchschnittswertes als Schwelle. Im Haushaltsplan 2000 bis 2006 stehen 275 Milliarden Euro (in Preisen von 1997) für die Regionalpolitik zur Verfügung, nach 200 Milliarden in der vorherigen Planungsperiode. Leistungsschwächere Länder profitieren also von der EU-Mitgliedschaft, weil sie mehr Unterstützung bekommen, als sie zum Gemeinschaftshaushalt beitragen. Die EU-Hilfen stärken die Wirtschaft und verbessern dadurch die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung.
Für die kommenden Mitgliedstaaten sind für die Jahre 2000-2006 in drei Programmen Vorbereitungshilfen für den Beitritt und Infrastrukturhilfen in Höhe von sieben Milliarden Euro eingeplant (s. Übersicht 1). Doch der Mitgliedstatus ist finanziell um einiges attraktiver als der Bewerberstatus, da für denselben Zeitraum im Rahmen der Struktur- und Kohäsionsfonds 45 Milliarden Euro für neue Mitglieder reserviert sind. Da die Erweiterung (oder besser: die zu erwartenden verschiedenen Stufen der Erweiterung) das statistische Durchschnittseinkommen in der EU senken wird, hat sie weitreichende Folgen für die zukünftige Verteilung der Regionalförderung. Einige der gegenwärtig geförderten Regionen und Länder werden auf dem Papier wohlhabender - eine Art statistischer Fahrstuhleffekt - und verlieren im Extremfall ihren Anspruch auf Förderung.
2. Institutionelle Anpassungen
Ein insgesamt positiver, aber weniger sichtbarer Impuls geht von den institutionellen Anpassungen aus, die für den Beitritt zur EU nötig sind. Neue Mitglieder müssen gewisse demokratische und marktwirtschaftliche Standards erfüllen sowie über effektive Verwaltungen und einen funktionierenden Rechtsstaat verfügen. Darüber hinaus müssen sie alle Rechte und Pflichten eines Mitglieds tragen können, was insbesondere heißt, dass sie das EU-Gemeinschaftsrecht mit allen Normen und Regulierungen ("aquis") übernehmen und anwenden. Diese institutionellen Anforderungen wurden implizit auch bei früheren Erweiterungen angewandt, bei der Osterweiterung aber als sog. "Kopenhagen-Kriterien" explizit formuliert (s. Übersicht 2). Weil geringer modernisierte Länder häufig auch "schwächere" demokratische, marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Institutionen haben, bedeuten die Anpassungen im Laufe der Beitrittsvorbereitungen signifikante institutionelle Verbesserungen für die Kandidaten und damit eine Verbesserung der Qualität der Gesellschaft.
In internationalen Vergleichen wird die Institutionenqualität der meisten EU-Staaten als hoch eingestuft. Der Internationale Währungsfonds hat 170 Staaten der Erde nach ihrer institutionellen Qualität untersucht. Mit Ausnahme Griechenlands rangieren alle derzeitigen EU-Mitglieder unter den 30 Staaten mit der höchsten Bewertung (also im obersten Fünftel). Von den Beitrittskandidaten wird nur Ungarn im obersten Fünftel geführt. Die Mehrzahl der Kandidaten ist im zweiten Fünftel angesiedelt, Bulgarien und Rumänien im dritten Fünftel, die Türkei im vierten Fünftel.
3. Wirtschaftliche Integration
Laut Theorien des Außenhandels führt wirtschaftliche Integration über den Transfer von Kapital, Technologie und Management-Know-how schrittweise zu einer Verringerung der ökonomischen Entwicklungsunterschiede der beteiligten Länder.
Die Chancen einer vollen Integration in den Binnenmarkt liegen in einem stärkeren Wirtschaftswachstum. Allerdings werden Gewinne und Verluste nicht gleichmäßig über Länder, Regionen und wirtschaftliche Sektoren verteilt sein. Die Gefahren liegen im Konkurrenzdruck. Je besser die Reformökonomien auf den Wettbewerb vorbereitet sind, um so geringer fallen die Nachteile der vollständigen wirtschaftlichen Integration aus. Die EU-Mitgliedschaft wird die wirtschaftliche Einbindung also weiter vorantreiben - ob mit eher positivem oder negativem Ergebnis bleibt abzuwarten.
III. Der Vorteil der Mitgliedschaft: Die Erfahrungen der Kohäsionsländer
Die Kohäsionsländer Irland, Griechenland, Portugal und Spanien (s. Abbildung) profitieren derzeit am stärksten von der Strukturpolitik der Gemeinschaft.
Aber haben diese Länder seit ihrem Beitritt aufgeholt? Gemessen an bewährten ökonomischen und sozialen Indikatoren fällt die Antwort überwiegend positiv aus. Auch wenn sich die Länder unterschiedlich entwickelt haben, hat sich die Lücke zwischen ihnen und dem EU-Durchschnitt zumeist verkleinert. Dies soll an drei Beispielen gezeigt werden.
1. Lebensstandard
In wirtschaftlicher Hinsicht (materielle Lebensbedingungen) haben bis auf Griechenland alle Kohäsionsländer nach dem Beitritt aufgeholt (s. Abb., jüngste berücksichtigte Daten von 1998).
Berücksichtigt man die unterschiedliche Dauer der Mitgliedschaften, so war Portugal in den ersten zwölf Jahren nach dem Beitritt erfolgreicher als Irland. Allerdings wird es schwierig für Portugal, weiterhin schneller zu wachsen, als dies Irland in den letzten Jahren tat. Die Gründe für den geringen Erfolg der Griechen mögen - unter anderem - die ungünstige Wirtschaftsstruktur (immer noch arbeiten 17 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft), der technologische Rückstand und die Randlage sein. Immerhin: Nachdem Griechenland in den achtziger Jahren sogar weiter zurückgefallen war, konnte dieser Trend in den neunziger Jahren umgekehrt werden, nicht zuletzt aufgrund einer aktiveren Strukturpolitik der Gemeinschaft. Den Nutzen der Kohäsionspolitik zeigen auch ökonometrische Berechnungen der Europäischen Kommission. Demnach war die griechische Wirtschaftsleistung im Jahr 2000 zwischen 1,2 Prozent und 5,1 Prozent höher, als sie ohne die EU-Förderung ausgefallen wäre. Auch für die anderen Kohäsionsländer ist der geschätzte Effekt beachtlich, wobei die Schätzungen für Portugal die größte Spanne (zwischen 0,8 Prozent und 6,4 Prozent) aufweisen, die für Irland die kleinste (zwischen 0,6 Prozent und 1,2 Prozent).
2. Soziale Sicherung
Bei der sozialen Sicherung ihrer Bürger (Qualität der Gesellschaft) haben die Kohäsionsländer große Fortschritte gemacht und sich den wohlfahrtsstaatlichen Niveaus in den EU-Kernländern angenähert (jüngste verfügbare Daten von 1997). Vor dem Beitritt (und auch noch einige Jahre danach) galten die Länder Südeuropas entweder einfach als rückständige Sozialstaaten oder als Vertreter eines eigenen, gleichwohl unzureichenden "südlichen Modells" der sozialstaatlichen Organisation.
3. Lebenszufriedenheit
In der Lebenszufriedenheit (subjektives Wohlbefinden) kommt eine summarische Bewertung der persönlichen Lebensverhältnisse zum Ausdruck, die natürlich von den Lebensumständen abhängig ist, aber auch von Anspruchshaltungen, Präferenzen und Vergleichen. Die Frage: "Alles in allem, sind Sie sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, weniger zufrieden oder ganz und gar nicht zufrieden mit dem Leben, das sie führen?" ist fester Bestandteil der seit 1973 in den Mitgliedstaaten durchgeführten Eurobarometer-Umfragen (EB) der Europäischen Kommission.
Hat sich die Lebenszufriedenheit im Verlauf der Mitgliedschaft verändert? "Nicht dramatisch", lautet die Antwort. 1999 waren die Bürger dieser Länder im Mittel etwas zufriedener als vor dem EU-Beitritt. In den meisten Ländern folgte auf einen deutlichen Anstieg der Lebenszufriedenheit unmittelbar nach der Aufnahme eine Rückkehr zum ursprünglichen Zufriedenheitsniveau, im Falle Griechenlands sogar ein Unterschreiten dieser Marke. Zuletzt hat sich parallel zu den wirtschaftlichen Aufholprozessen die Zufriedenheit überall wieder erhöht. Die Position der Länder in der europäischen Zufriedenheits-Rangliste hat sich, bei einer leichten Aufwärtstendenz, insgesamt kaum verändert. Griechenland und Portugal sind nach wie vor die Schlusslichter mit einem Anteil zufriedener Bürger zwischen 60 und 70 Prozent (unterste von vier Ländergruppen innerhalb der EU). Spanien zählt zu den Ländern, in denen die Bevölkerung "traditionell" eine höhere, aber im EU-Maßstab immer noch leicht unterdurchschnittliche Zufriedenheit äußert (Ländergruppe 3). Irland hat seit dem Beginn der Umfragen zu den Ländern mit überdurchschnittlicher Zufriedenheit (Ländergruppe 2) gehört, schickt sich aber gerade an, ins Lager der zufriedensten Nationen vorzustoßen - also zu den skandinavischen Ländern, den Niederlanden und Luxemburg (Ländergruppe 1). Hier zählen sich konstant mehr als 90 Prozent der Bevölkerung zu den Zufriedenen.
4. Unterschiedliche Bilanzen der Mitgliedschaft
Aus den Erfahrungen früherer Erweiterungen können die folgenden Lehren gezogen werden:
(1) Die Aufnahme in die EU garantiert kein Aufholen, erleichtert es aber. Dafür gibt es mehr positive als negative Hinweise.
(2) Konvergenz mit den EU-Kernländern ist ein langfristiges Ziel. Selbst Irland benötigte 25 Jahre für seinen wirtschaftlichen Aufstieg, und die Länder der Süderweiterung haben noch immer einen deutlichen Abstand zu überwinden.
(3) Konvergenzprozesse verlaufen nicht notwendigerweise kontinuierlich. Es gibt Perioden der Stagnation und sogar der Rückschläge und nicht immer gelingt das Aufholen.
(4) Wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu schwach ist, kann die wirtschaftliche Integration dazu führen, dass das betreffende Land noch weiter zurückfällt. Aus den Erfahrungen Griechenlands kann die Lehre gezogen werden, dass ein vorzeitiger Beitritt wirtschaftlich riskant ist.
(5) Obwohl die EU erhebliche Mittel für die Struktur- und Kohäsionsfonds aufwendet, hängt der Erfolg stark vom internen Potenzial der geförderten Länder ab. Die gleichen Rahmenbedingungen der Regulierung und Hilfe durch die Gemeinschaft können zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führen, wobei Irland und Griechenland in den bisherigen Erweiterungsrunden das positive und das negative Beispiel sind.
(6) Auch wenn die Kohäsionsländer überwiegend Beispiele erfolgreicher gesellschaftlicher Modernisierung sind, haben die südlichen Länder immer noch einen wirtschaftlichen und technologischen Rückstand. Es ist deshalb fraglich, ob die Strukturpolitik in ihrer jetzigen Form für ein Aufschließen zu den EU-Kernländern geeignet ist.
IV. Aussichten für die kommenden Mitgliedstaaten
Auch wenn die Umstände der nächsten Erweiterung von den früheren abweichen: Vieles spricht dafür, dass sich die Aufnahme in die EU auch für die jetzigen Erweiterungsländer langfristig auszahlen wird.
Nach dem jetzigen Regelwerk wird sich in einer EU der 26 (Zypern und die Türkei sind in dieser Rechnung nicht berücksichtigt) die Bevölkerung in "Ziel-1"-Gebieten mehr als verdoppeln, verglichen mit der gegenwärtigen EU 15.
Wie schnell ein Aufholen gelingt, hängt vor allem von den endogenen Potenzialen für eine selbsttragende Modernisierung ab: Eine wettbewerbsfähige Industrie, eine kleine, aber produktive Landwirtschaft, eine gut ausgebildete Bevölkerung, makroökonomische Stabilität, ein effektiver Wohlfahrtsstaat, Erfolg im "Anlocken" von ausländischen Direktinvestitionen - all dies sind Erfolgsfaktoren.
Eine der wichtigsten Lehren aus früheren Erweiterungen ist, dass ein teilweises Aufholen häufig gelingt, ein Aufrücken in die erste Liga der reichen, postindustriellen europäischen Gesellschaften aber schwierig ist. Der EU-Beitritt wird die neuen Mitglieder voranbringen. Dennoch müssen sie darauf vorbereitet sein, für eine oder zwei weitere Generationen zur Semiperipherie zu zählen.