Einleitung
Seit nunmehr über einem Jahrzehnt befinden sich die Staaten Ostmitteleuropas in einem andauernden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozess. Das Hauptmotiv, die damit verbundenen Anstrengungen auf sich zu nehmen, ist die Hoffnung, an das westliche Europa aufzuschließen. Der Enthusiasmus der frühen neunziger Jahre, der sich im Schlagwort von der "Rückkehr nach Europa" manifestierte, ist jedoch einer wachsenden Unzufriedenheit über die Dauer und die Folgen dieses Prozesses gewichen. Nachdem an die Stelle der Sonntagsreden zum "gemeinsamen Haus Europa" nun die konkreten Beitrittsverhandlungen getreten und die ersten Beitritte nur noch eine Frage weniger Jahre sind, ist in den Kandidatenländern der Konsens über den Beitritt zur Europäischen Union (EU) wenn auch nicht zerbrochen, so doch zumindest brüchig geworden. Mit einer EU-Mitgliedschaft verbindet man nun nicht mehr nur Hoffnungen, sondern zunehmend auch Ängste, wodurch der Prozess der Integration Ostmitteleuropas in die Europäische Union gefährdet wird.
Im November 1998 nahm die EU zunächst mit Polen, Tschechien, Ungarn, Estland, Slowenien und Zypern Beitrittsverhandlungen auf. Demgegenüber mussten die Slowakei, Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und Malta noch ein Jahr warten, bis auf dem EU-Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 beschlossen wurde, den Kreis der Beitrittskandidaten zu erweitern. Künftig sollte nach dem "Regatta-Prinzip" verfahren werden, wonach das Beitrittsdatum jedes Kandidatenlandes von seinen individuellen Fortschritten abhängig gemacht werden soll. Wahrscheinlich ist jedoch ein "Big Bang", bei dem bis zu zehn Kandidaten gleichzeitig aufgenommen werden. Auf der EU-Regierungskonferenz von Nizza wurde auf Drängen der Kandidatenländer eine erste Erweiterungsrunde noch vor den Europawahlen 2004 (wenn auch unverbindlich) in Aussicht gestellt.
Europa-Skepsis in der öffentlichen Meinung
Die Zustimmung zu einem EU-Beitritt ist in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern deutlich zurückgegangen. Besonders zurückhaltend sind die Tschechen, von denen sich schon seit Jahren in Umfragen nicht einmal mehr 50 Prozent für eine EU-Mitgliedschaft aussprechen.
Eine der Ursachen für die nachlassende Popularität einer EU-Mitgliedschaft ist die Unzufriedenheit über den bisherigen Integrationsprozess. Nach verbreiteter Auffassung in den Kandidatenländern hätten davon bisher in erster Linie die EU-Staaten profitiert, während z. B. nur 6 Prozent der Polen und 13 Prozent der Tschechen ihr eigenes Land für den bisherigen Hauptnutznießer halten.
Jedoch auch die Zeit nach dem Beitritt wird zunehmend mit Sorge gesehen. In Polen zum Beispiel hält nur eine Minderheit (13 Prozent) die polnische Landwirtschaft für den künftigen Nutznießer der Integration. Die Mehrheit ist dagegen der Ansicht, in erster Linie würde die Landwirtschaft der bisherigen Mitgliedsstaaten von der Erweiterung profitieren.
Aus dieser Skepsis sprechen Zweifel sowohl an der Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wirtschaft unter den Bedingungen des EU-Binnenmarktes wie auch an der Bereitschaft der bisherigen EU-Staaten, den Neumitgliedern volle wirtschaftliche Solidarität zuteil werden zu lassen. Die EU-Forderung nach einer Übergangsfrist bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern oder Signale, die Landwirtschaft der Beitrittsländer nicht in vollem Maße in die europäische Agrarpolitik (insbesondere in das System der direkten Einkommensbeihilfen) integrieren zu wollen, interpretiert man als Versuch der Altmitglieder, sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern und die Neumitglieder mit einer "Mitgliedschaft zweiter Klasse" abzuspeisen. Da die Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu den Hauptargumenten der Beitrittsbefürworter gehört
Polarisierung in der Europapolitik
Die wachsende Europa-Skepsis der öffentlichen Meinung wirkt sich auf die Integrationspolitik der Kandidatenländer aus. Der Argumentation der Regierungen, wonach ein rascher Beitritt die Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität verbessere, folgt die Bevölkerungsmehrheit nicht. Sie wünscht sich eher die umgekehrte Reihenfolge, bei der die Modernisierung der Wirtschaft dem Beitritt vorausgehen müsse.
Der Rückgang des Europa-Optimismus hängt auch mit der Wahrnehmung der Beitrittsverhandlungen zusammen. Statt - wie erwartet - als Verhandlungen zweier gleichrangiger Partner erwiesen sich diese als bürokratische Überprüfung der Beitrittsfähigkeit anhand von Brüssel vorgegebener Verhandlungskapitel. Mit zunehmender Dauer wird dieses Verfahren in den Kandidatenländern als erniedrigendes "Diktat aus Brüssel" kritisiert.
Die politische Rhetorik in den Kandidatenländern hat sich merklich verändert. Auf die wachsende Skepsis in der Öffentlichkeit reagieren die politisch Verantwortlichen mit Profilierungsversuchen, "hart zu verhandeln" und "nationale Interessen zu verteidigen". Kompromissbereitschaft gilt inzwischen als Schwäche und ist als "blinder Europa-Enthusiasmus" diskreditiert. Die politische Landschaft in allen Kandidatenländern polarisiert sich zunehmend entlang der Beitrittsfrage. Antieuropäische Parteien sind zwar nicht mehrheitsfähig, gewinnen aber in allen Kandidatenländern an Bedeutung. Ein positiver Ausgang der in allen ostmitteleuropäischen Kandidatenländern angesetzten Referenden ist keineswegs garantiert. Die schwindende Hoffnung, dass sich nach einem jahrelangen Transformationsprozess durch einen EU-Beitritt eine Verbesserung der Lebensbedingungen ergibt, könnte dazu führen, dass die Menschen den Referenden fernbleiben oder sogar mit "nein" stimmen.
Polen
Am deutlichsten sichtbar ist die wachsende Skepsis und Polarisierung in Polen, dem größten und wichtigsten Kandidatenland. Nachdem in den letzten Jahren zumindest oberflächlich ein Konsens in der Europapolitik bestanden hatte, sind bei den jüngsten Parlamentswahlen im September 2001 erstmals Gruppierungen in den Sejm eingezogen, die sich offen gegen einen EU-Beitritt (die nationalistische Liga der polnischen Familien) bzw. gegen einen Beitritt zu einer Union "in ihrer derzeitigen Form" (die militante Bauernvereinigung Samoobrona) aussprechen. Auch wenn die Europapolitik im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt hat, so manifestiert sich darin ein schon seit längerem spürbarer Stimmungswandel. In den vergangenen Jahren waren europaskeptische und EU-feindliche Kräfte in anderen politischen Gruppierungen gebunden. Im letzten Sejm übte der antieuropäische Flügel der damaligen Regierungspartei AWS (Wahlaktion Solidarnosc), der den EU-Beitritt als "Ausverkauf" und "Ende der staatlichen Souveränität Polens" ablehnte
Vor diesem schwierigen Hintergrund versucht die neue Regierung eine europapolitische Kurswende. Die seit den Wahlen vom September 2001 regierende Koalition aus Sozialdemokraten (SLD), Linkssozialisten (UP) und Bauernpartei (PSL) unter Ministerpräsident Leszek Miller signalisierte Kompromissbereitschaft und setzte unpopuläre Maßnahmen durch: Die ursprüngliche Forderung nach einer achtzehnjährigen Übergangsfrist beim Landerwerb durch Ausländer wurde auf zwölf Jahre verkürzt und flexibler gestaltet. Ferner signalisierte Polen sein Einverständnis mit der EU-Forderung nach einer Übergangsfrist bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit - eine unpopuläre Entscheidung, da eine Beschränkung der Freizügigkeit von einer klaren Mehrheit der Polen abgelehnt wird.
Eine schwere Bewährungsprobe kommt 2002 auf die Koalition zu, wenn die Verhandlungen über die Integration der polnischen Landwirtschaft in die EU-Agrarpolitik auf der Tagesordnung stehen. Im Koalitionsabkommen wird die "vollständige Einbeziehung der polnischen Landwirte in die Gemeinsame Agrarpolitik der EU", also auch in das System der Direktzahlungen, gefordert.
Tschechien
In Tschechien ist die Unterstützung für die Integration des Landes in die Europäische Union traditionell niedrig. Allerdings beruht diese Skepsis nicht auf einer mangelnden europäischen Identität. Im Gegenteil sieht sich Tschechien selbstbewusst als integraler Teil Europas, der allein durch die historischen Umstände von der Entwicklung Westeuropas abgeschlossen war, potenziell jedoch zu den europäischen Musternationen gehört. Die EU wird zumeist aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus als überbürokratisiert und uneffektiv kritisiert.
Die Unterstützung der Bevölkerung für den EU-Beitritt erreicht in Umfragen schon seit langem nicht mehr die 50-Prozent-Marke (im März 2001 waren es sogar nur noch 45 Prozent).
Schlagzeilen machte das "Manifest des tschechischen Eurorealismus", welches die ODS auf ihrem Parteitag im April 2001 vorstellte.
Weitaus entschiedener opponiert die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM) gegen die tschechische Europapolitik. Diese "neokommunistische Anti-System-Partei"
Nachdem die Regierung von Vaclav Klaus, dessen halbherzige Integrationspolitik die EU immer wieder kritisiert hatte, im Jahre 1998 von den Sozialdemokraten abgelöst worden war, konnten die ins Stocken geratenen Beitrittsvorbereitungen im politischen, legislativen und institutionellen Bereich wieder vorangebracht werden.
Das Hauptproblem der tschechischen Europadebatte bleibt die Diskrepanz zwischen der insgesamt erfolgreichen Beitrittspolitik, die Tschechien zu den Spitzenreitern in den Verhandlungen gehören lässt, und einer innenpolitischen Debatte, die zunehmend von euroskeptischen Stimmen geprägt wird. Zwar betreiben die maßgeblichen Parteien keine Politik gegen den EU-Beitritt des Landes, aber sie erliegen häufig der Versuchung, mit harten Worten populäre Kritik an der EU zu üben. Die proeuropäischen Eliten erweisen sich jedoch weder als entschlossen noch als kompetent genug, dieser Entwicklung argumentativ etwas entgegenzusetzen.
Ungarn
Die ungarische Europapolitik ist nicht nur von einem starken Selbstvertrauen, sondern auch von einer pragmatischen und flexiblen Verhandlungsführung gekennzeichnet. Stützen kann sie sich dabei auf eine im ostmitteleuropäischen Vergleich hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die von der guten wirtschaftlichen Lage bei einer niedrigen Arbeitslosigkeit gefördert wird.
Die Beitrittsverhandlungen verliefen bisher relativ reibungslos: In den problematischen Fragen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und des Landerwerbs durch Ausländer konnte rasch ein Kompromiss mit der EU gefunden werden. Schwierige Fragen bleiben die Landwirtschaftspolitik sowie die Neuverteilung der Strukturfonds. Alles deutet jedoch darauf hin, dass Ungarn die Verhandlungen im Jahre 2002 abschließen und 2004 der EU beitreten kann.
Es ist das Hauptziel der ungarischen Europapolitik, als erstes Land über die Ziellinie des Beitritts zu kommen. Mit dem Bewusstsein des Spitzenreiters verlangt Ungarn, allein nach seinen Leistungen beurteilt zu werden und auf keinen Fall auf Nachzügler in den Verhandlungen warten zu müssen.
Die flexible ungarische Verhandlungsführung wird von den anderen Kandidaten missmutig beäugt. Während Polen und Tschechien die von Deutschland und Österreich geforderte Übergangsfrist bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit empört als Affront zurückwiesen, machten die ungarischen Politiker gute Miene zum bösen Spiel. Man gab zu verstehen, dass man diese Forderung nicht in erster Linie gegen Ungarn gerichtet sah. Relativ schnell fand man zu einem, so Ministerpräsident Orban, "tragfähigen Kompromiss" zur Beruhigung der öffentlichen Meinung.
Ebenso rasch einigte sich Ungarn mit der Europäischen Union auf eine siebenjährige Übergangsfrist für den Erwerb von landwirtschaftlichen Nutzflächen durch EU-Ausländer.
Bei diesem Getöse handelt es sich um Vorboten des kommenden Wahlkampfes im Frühjahr 2002. Unabhängig vom Wahlausgang ist eine europapolitische Kurswende nicht zu erwarten, da sich auch die chancenreichen ungarischen Sozialisten (MSZP) unter ihrem Spitzenkandidaten Péter Medgyessy für einen raschen EU-Beitritt aussprechen. Kleineren Parteien, wie der nationalistischen MIEP oder der postkommunistischen MSZMP, werden kaum Chancen eingeräumt.
Slowakei
Während in den umliegenden Ländern zunehmend Kritik am schleppenden EU-Erweiterungsprozess laut wird, entwickelt sich die Slowakei auf den ersten Blick zum europäischen Musterknaben. Seit der Bildung einer Mehrparteienkoalition unter Führung des Christdemokraten Mikulás Dzurinda im September 1998 ist es der Slowakei gelungen, die außenpolitische Isolation, in die sie durch den autokratischen Regierungsstil Vladimír Meciars geraten war, zu überwinden. Die Regierung Dzurinda hat es geschafft, den Rückstand zu den Kandidaten der ersten Gruppe wettzumachen. Ihr Ziel, gleichzeitig mit den ostmitteleuropäischen Nachbarn der EU beizutreten, begründet die Slowakei mit der proeuropäischen Haltung ihrer Bürger, aber auch mit praktischen Erwägungen, ihre Grenzen nicht zur EU-Außengrenze werden zu lassen, was z. B. das Ende der Zollunion mit Tschechien zur Folge hätte.
Nach Erfüllung der politischen Beitrittskriterien bleibt das Hauptproblem der slowakischen Integrationspolitik die schwache wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit einer Arbeitslosigkeit von derzeit fast 18 Prozent. Immer wieder mahnte die EU Maßnahmen zur Eingliederung der Roma-Minderheit an. Mit ca. 500 000 Personen bilden sie einen Bevölkerungsanteil von rund 9 Prozent mit steigender Tendenz.
Der europapolitische Kurs der Regierung Dzurinda wird von einer breiten Bevölkerungsmehrheit unterstützt. Entgegen dem Trend in den anderen ostmitteleuropäischen Kandidatenländern wuchs die Zustimmung der Slowaken zu einem EU-Beitritt beständig, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass die Erwartungen der slowakischen Öffentlichkeit noch nicht durch einen langjährigen Verhandlungsprozess getrübt worden sind.
Die proeuropäische Haltung der Bevölkerung spiegelt sich jedoch nicht bei den politischen Eliten wider. Hier fehlt es nach wie vor an einem Konsens aller maßgeblichen politischen Kräfte in Bezug auf die außen- und reformpolitische Grundorientierung der Slowakei.
Während die Außenpolitik der Regierung von einer großen Mehrheit unterstützt wird, wird ihre Innenpolitik von einer ebenso großen Mehrheit abgelehnt.
Außenpolitische Beobachter sprechen von einem nicht gebannten Risiko einer fundamentalen außenpolitischen Neuorientierung nach einem möglichen Machtwechsel.
Gegen einen radikalen Kurswechsel spricht jedoch, dass sich populistische Kräfte angesichts der breiten proeuropäischen Bevölkerungsmehrheit nur schwer gegen einen EU-Beitritt werden aussprechen können. Trotz aller Zerstrittenheit hat die Politik in europapolitischen Fragen bisher Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Als im Sommer 2001 die Koalition an ihren fast unüberbrückbaren inneren Gegensätzen zu zerbrechen drohte und die Partei der ungarischen Minderheit aus Protest gegen eine Verwaltungsreform die Koalition verlassen wollte, hat außenpolitisches Verantwortungsbewusstsein maßgeblich dazu beigetragen, die Regierungskrise beizulegen.
Ostmitteleuropa vor dem Beitritt zur EU
Im Unterschied zum Europa-Enthusiasmus der frühen neunziger Jahre ist die ostmitteleuropäische Europadebatte von heute von einer Gemengelage aus Erwartungen und Ängsten geprägt. In der öffentlichen Meinung, aber auch bei den politischen Eliten nimmt nicht nur die Ungeduld über den langwierigen Beitrittsprozess zu, sondern es verschärft sich auch die Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Polen hat mit den Wahlen vom 23. September 2001 eine europapolitische Kurswende vollzogen. Im Jahre 2002 stehen auch in Tschechien, Ungarn und der Slowakei Wahlen bevor, die nicht ohne Auswirkungen auf den Beitrittsprozess bleiben werden. Ein Erstarken europaskeptischer Kräfte könnte den Erweiterungsfahrplan der EU ins Wanken bringen, der noch für das Jahr 2002 den Abschluss der Verhandlungsphase vorsieht, damit 2004 die ersten Beitritte vollzogen werden können.