Einleitung
Abgesehen von Afghanistan ist bisher kein islamisches Land von den Folgen der Terroranschläge des 11. September so stark betroffen wie Pakistan. Während jedoch das afghanische Talibanregime nach Jahren hinhaltender Ausflüchte den vollen Preis für seine Unterstützung des extremistischen Netzwerks von Bin Laden bezahlt hat, schwenkte die pakistanische Führung rechtzeitig auf einen Kurs "voller Unterstützung der Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" ein. General Pervez Musharraf, seit Oktober 1999 Militärmachthaber ("Chief Executive") und seit Juni 2001 selbst ernannter Präsident Pakistans, ist dafür ein hohes politisches und persönliches Risiko eingegangen. Er hat sich nicht nur den Zorn der zahlenstarken und größtenteils gewaltbereiten islamistischen Szene seines Landes zugezogen, die sich schon seit Jahren immer stärker mit den Taliban und Bin Laden solidarisiert hatte, sondern er hat sich auch gegen den Strom eines auch unter den gemäßigten Pakistanern und den großen säkularistischen Parteien verbreiteten Antiamerikanismus gestellt. Zwar wurde sein Kurswechsel von den USA und ihren Verbündeten mit diplomatischer Aufwertung Pakistans und Zusagen für großzügige neue Kredite und sonstige finanzielle Hilfen honoriert, aber der amerikanische Bombenkrieg in Afghanistan wurde zu einer schweren innenpolitischen Belastung. Mit dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes und dem Vormarsch der Nordallianz hat Pakistan zudem einen - zumindest vorübergehenden - erheblichen Verlust an Einfluss und Prestige in seinem Nachbarland hinnehmen müssen und ist als Bündnispartner des Westens scheinbar weniger wichtig geworden.
Für eine nachhaltige Befriedung Afghanistans wird Pakistans Kooperationsbereitschaft dennoch unerlässlich bleiben. Menschen, Waffen und Waren aller Art passieren seit den achtziger Jahren fast ungehindert die 2 200 Kilometer lange gemeinsame Grenze, woran sich in absehbarer Zeit wenig ändern wird. Es gibt mehr paschtunische Staatsbürger in Pakistan (15-20 Millionen, ohne afghanische Flüchtlinge) als in Afghanistan (geschätzte 10-12 Millionen), und zwischen ihnen besteht ein enges Netzwerk verwandtschaftlicher Beziehungen, kommerzieller Verbindungen (sowohl Schmuggel als auch legaler Handel) und politisch-religiöser Solidarität. Auch nach dem Scheitern des Taliban-Projekts wird Pakistan sein Gewicht im Sinne paschtunischer Interessen in Afghanistan in die Waagschale werfen können.
Im Übrigen hat Pakistan durch eine Befriedung Afghanistans und das in Aussicht gestellte internationale Engagement für den Wiederaufbau sehr viel zu gewinnen: Es bleibt unverzichtbares Transitland für die meisten Hilfs- und Investitionsgüter, und diese Rolle würde noch bedeutender, wenn die Verkehrswege nach Zentralasien über Afghanistan geöffnet und ausgebaut würden. Auch für eine seit 1995 geplante Gas-Pipeline von Turkmenistan nach Pakistan könnten die Arbeiten aufgenommen werden. Die Flüchtlinge in pakistanischen Lagern, deren Zahl in den letzten Monaten wieder auf über zwei Millionen angewachsenen war, könnten größtenteils zurückkehren, und mit wachsender Kaufkraft könnte Afghanistan ein wichtiger Absatzmarkt für pakistanische Waren werden.
Eine Konsolidierung des neuen Kurses von Musharraf, der eine sieben Jahre alte verfehlte Afghanistanpolitik aufgegeben hat, dürfte darüber hinaus auch erhebliche positive Folgen für die pakistanische Innen- und Kaschmirpolitik haben. Unter dem Druck indischer Kriegsdrohungen hat Musharraf Ende 2001 begonnen, die Macht und die Freiräume der islamistischen Parteien einzuschränken, die in den letzten zwei Jahrzehnten fast zu einem Staat im Staate geworden sind. Dies bedeutet eine Abkehr vom bisherigen Konfrontationskurs in Kaschmir nach sich ziehen, wo Pakistans Militär seit 1989 denselben religiösen Parteien und Gruppen eine zentrale Rolle zugewiesen hatte.
I. Die islamistische Szene in Pakistan
In keinem mehrheitlich muslimischen Land genießen religiöse Parteien bis heute so viele Freiheiten wie in Pakistan - und dies schon seit Jahrzehnten. Zwar ist das Land bisher in 26 von den 54 Jahren seit seiner Unabhängigkeit von Militärs regiert worden,
Schon in den fünfziger Jahren konnte die Geistlichkeit ihren Einfluss unter anderem während der sich acht Jahre lang hinziehenden Auseinandersetzungen bis zur Verabschiedung der ersten Verfassung des Landes geltend machen.
Bhutto, der mit Slogans vom "Islamischen Sozialismus" die Wahlen in Westpakistan gewonnen hatte und nach der Sezession von Ostpakistan die Macht übernahm, war ein Gegner der islamistischen Parteien, bediente sich aber in seinem Streben nach einer Führungsrolle in der Drittwelt-Bewegung mit Vorliebe (pan)islamischer Rhetorik.
Unter dem elf Jahre währenden Regiment Zia ul-Haqs beschleunigte sich der Machtzuwachs islamistischer Parteien und Gruppen. Er förderte die religiöse Lobby zur Stärkung seiner eigenen Legitimität und als Gegengewicht zur Pakistan People's Party (PPP) des 1979 hingerichteten Bhutto.
Ein wesentlicher Faktor war ferner der als Jihad titulierte Widerstandskampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan (1979-1989), an dessen Erfolg Pakistan entscheidenden Anteil hatte. Pakistan diente nicht nur als Rückzugs- und Versorgungsraum für die afghanischen Mujahidin und deren arabische und sonstige islamische Hilfstruppen, sondern auch die pakistanischen religiösen Parteien und madrasas entsandten Tausende von Freiwilligen zur Beteiligung an diesem Kampf. Zusammen mit der massiven Zufuhr von Waffen an die Mujahidin über pakistanisches Staatsgebiet
Nach dem Tod Zia ul-Haqs und der Rückkehr zu freien Wahlen Ende 1988 schlossen sich JI, JUI, JUP und andere islamistische Gruppen zunächst mit der Pakistan Muslim League (PML) von Nawaz Sharif zu einer so genannten Islamisch-Demokratischen Allianz (IDA) zusammen. Die IDA gewann 1988 die Provinzwahlen im Pand-schab und 1990, nach der vorzeitigen Amtsenthebung Benazir Bhuttos, auch landesweit. Sie zerfiel aber schon 1991/92 wegen Unzufriedenheit der religiösen Parteien mit Sharifs halbherzigem "Shariat Bill"
Trotz ihres schlechten Abschneidens bei Wahlen gewannen die islamistischen Parteien Pakistans in den neunziger Jahren weiterhin an Macht, vor allem durch ihre Fähigkeit, sukzessive Regierungen mit Agitation auf den Straßen unter Druck zu setzen. Die JI bediente sich dabei zusehends populistischer Propaganda gegen die "Ausbeuter" und "Feudalisten" der herrschenden politischen Klasse, während die JUI in den madrasa-Studenten eine ständig wachsende, ideologisch indoktrinierte Gefolgschaft fand. Tausende solcher Studenten und andere pakistanische Anhänger der JUI beteiligten sich seit Anfang 1995 auch alljährlich an den Feldzügen der Taliban im afghanischen Bürgerkrieg. Der schnelle Aufstieg der Taliban zur Vormacht in Afghanistan erweckte Begehrlichkeiten bei ihren pakistanischen Gesinnungsgenossen, die sogar gleichnamige Nachahmerorganisationen in Teilen der North West Frontier Province (NWFP) bildeten.
Ein wichtiges Thema für politische Agitation fanden Pakistans Islamisten in den neunziger Jahren auch im so genannten Kaschmir-Jihad, der Ende 1989, ein halbes Jahr nach dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan, eingesetzt hatte. In dem zwischen Pakistan und Indien seit der Unabhängigkeit umstrittenen Kaschmir war es trotz zweier Kriege um dessen Zughörigkeit (1947/48 und 1965) bis dahin relativ ruhig geblieben. Die erste Organisation, die 1989 mit Anschlägen im indisch kontrollierten Srinagar begann, war die säkularistische Jammu and Kashmir Liberation Front (JKLF),
Eine weitere negative Folge der "Jihad-Kultur" in Pakistan war der rasante Anstieg religiös motivierter Gewalt, besonders zwischen Sunniten und Schiiten, in den neunziger Jahren.
II. Pakistans Entfremdungvon den USA 1990-2000
Die jahrzehntelange Allianz Pakistans mit den USA (anfangs im Rahmen des Baghdad-Pakts und später der CENTO)
Während des Kriegs der von den USA geführten internationalen Allianz gegen den Irak Anfang 1991 erlebte Pakistan eine bis dahin beispiellose Welle von antiamerikanischen Demonstrationen, die von den islamistischen Parteien organisiert wurden. Zwar hatte die Regierung Sharif Truppen nach Saudi-Arabien entsandt und hielt loyal zur antiirakischen Koalition, aber selbst der damalige Generalstabschef Mirza Aslam Beg beschuldigte die USA, "die Tragödie von Karbala erneut zu inszenieren"
Während die USA an Rückhalt in der pakistanischen Öffentlichkeit verloren, blieben die Führer der PPP und PML, die zwischen 1988 und 1999 jeweils zweimal die Regierung stellten, unter starkem amerikanischem Einfluss, nicht zuletzt wegen ihrer Abhängigkeit von alljährlichen neuen Krediten des Internationalen Währungsfonds. Benazir Bhutto zeigte sich während ihrer zweiten Amtszeit als Ministerpräsidentin (1993-1996) besonders kooperativ, konnte aber etliche von den USA gewünschte Maßnahmen nicht durchsetzen. So scheiterten eine Reform des Blasphemiegesetzes
Seit die nukleare Bewaffnung der Rivalen Indien und Pakistan zur vollendeten Tatsache geworden ist, haben die USA ein großes Interesse, deren Konflikt um Kaschmir zu entschärfen. Ein ermutigender Schritt in diesem Sinn war der Besuch des indischen Ministerpräsidenten Vajpayee in Lahore und die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung mit Sharif im Februar 1999. Er wurde jedoch von Pakistans Militärführung konterkariert, die wenig später Dutzende von der indischen Armee im Winter geräumte Stellungen in den Bergen entlang der Line of Control im Kargil-Distrikt besetzen ließ. Sie konnten von Indien auch in wochenlangen schweren Kämpfen ab Mai 1999 nicht zurückerobert werden. Angesichts einer drohenden Eskalation des Grenzkriegs zitierte Clinton Anfang Juli 1999 Nawaz Sharif nach Washington, wo ihm eine Erklärung abgenötigt wurde, dass Pakistan auf einen Abzug der "kaschmirischen Mujahidin" (tatsächlich handelte es sich um reguläre pakistanische Gebirgstruppen) aus den strategischen Stellungen hinwirken werde.
Das Scheitern der so genannten "Operation Kargil" wurde Sharif von den Islamisten als Verrat und "Kuschen vor den USA" angelastet, und gegenseitige Schuldzuweisungen zerrütteten seine Beziehungen zur Militärführung. Einen sich abzeichnenden Putsch suchte Sharif noch durch weitere Zugeständnisse an die USA abzuwenden, unter anderem mit grünem Licht für ein Kommando-Unternehmen gegen Bin Laden in Afghanistan und mit scharfen Stellungnahmen gegen das Taliban-Regime.
Nach dem Putsch vom 12. Oktober 1999 gab es in der US-Administration unterschiedliche Meinungen über die angemessene Haltung zum neuen Machthaber Musharraf, aber Clinton blieb auf Distanz. Im März 2000 war er nahe daran, Pakistan bei seiner seit langem geplanten Südasienreise zu schneiden. Der Besuch wurde dann auf wenige Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit reduziert, und anstelle einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Musharraf bestand Clinton auf einer Live-Ansprache im pakistanischen Fernsehen, die fast den Charakter einer Standpauke hatte. Clinton warnte Pakistan eindringlich vor einem selbstzerstörerischen Konfrontationskurs in Kaschmir und machte keinerlei Hoffnungen auf eine amerikanische Vermittlerrolle zwischen Pakistan und Indien, solange nicht beide Staaten dies wünschten. Zuvor hatte er einen einwöchigen Staatsbesuch in Indien in betont herzlicher Atmosphäre absolviert.
Die Annäherung zwischen den USA und Indien seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hat sich in den späten neunziger Jahren beschleunigt. Beide Staaten entdeckten eine Reihe von Gemeinsamkeiten, allen voran die Sorge vor einem wachsenden islamischen Extremismus. Als dessen neues Zentrum identifizierte der Annual Report on International Terrorism des US-Außenministeriums im Mai 2000 Südasien bzw. speziell Afghanistan und Kaschmir. Einzig politische Opportunität verhinderte, dass auch Pakistan auf die Liste der "Förderstaaten des Terrorismus" gesetzt wurde. Pakistans Versuche, dem afghanischen Taliban-Regime internationale Anerkennung zu verschaffen, wurden jedoch immer aussichtsloser, je mehr seit den Anschlägen in Ostafrika vom August 1998 das Problem Bin Laden die amerikanische Afghanistanpolitik dominierte. So setzten die USA Ende 1999 UNO-Sanktionen gegen die Taliban durch, die Ende 2000 noch wesentlich verschärft wurden. Gleichzeitig erhöhten sie den Druck auf Pakistan, seinen Einfluss bei den Taliban für eine Auslieferung Bin Ladens geltend zu machen.
III. Musharraf und die Islamisten,Oktober 1999 - August 2001
Nach seiner Machtübernahme im Oktober 1999 rechtfertigte Musharraf diese in erster Linie mit einem drohenden wirtschaftlichen Kollaps Pakistans und der Korrumpierung seiner staatlichen Institutionen, die Sharif zu verantworten habe. Anders als Zia ul-Haq verzichtete er auf jede Anbiederung an die religiöse Lobby, vielmehr beunruhigte er diese frühzeitig, indem er Kemal Atatürk, der für Pakistans Islamisten geradezu ein rotes Tuch darstellt, als eines seiner Vorbilder nannte. Im April 2000 verkündete Musharraf einige liberale Leitlinien zur Menschenrechtspolitik, unter anderem eine Reform des Blasphemiegesetzes, die höhere Hürden für Anklagen wegen Blasphemie setzen sollte.
Indem die Regierung gleichzeitig erstmals energische Schritte gegen Steuerhinterziehung und den Warenschmuggel über die afghanische Grenze ergriff, provozierte sie gemeinsame Gegenreaktionen der islamistischen Parteien und der mit diesen liierten Händler- und Schmugglerlobby, ein Bündnis, das schon 1977 Bhutto zu Fall gebracht hatte.
Die beiden erstgenannten Forderungen des MYC wurden in den folgenden Monaten erfüllt. Im Übrigen war Musharrafs Regierung zwar nicht bereit, gegen Hunderte überwiegend vom westlichen Ausland finanzierte NGOs vorzugehen, die von den Islamisten einer "Verschwörung gegen den Islam" bezichtigt wurden, weil sie sich z. B. für die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten einsetzten, aber auch ihre ersten Schritte zur Reform und Kontrolle der madrasas und Entwaffnung der Bevölkerung zeigten nur bescheidene Resultate. So verweigerten die Direktoren der meisten madrasas bereits das Ausfüllen von Fragebögen über ihre Finanzierungsquellen, die im Herbst 2000 verteilt wurden. Die geplante Einsammlung von Handfeuerwaffen kam in der paschtunisch besiedelten NWFP nicht über ein paar eher symbolische Erfolge hinaus, und die Jihadi-Gruppen konnten ungebremst Freiwillige für den Kampf in Kaschmir rekrutieren und militärisch ausbilden.
Die Führer aller maßgeblichen islamistischen Parteien verweigerten auch die Zustimmung zu Musharrafs innenpolitischem Vorzeigeprojekt, dem so genannten Devolution of Power Plan.
Während Musharraf solche Ausfälle seitens der Islamisten ungeahndet ließ, konsolidierte er seine innenpolitische Position mit den Kommunal- und Distriktwahlen, die ab Januar 2001 nach dem neuen System des Devolution of Power Plan durchgeführt wurden. In einem Interview Ende März 2001 legte er ausführlich seine politischen Ambitionen für die Zeit nach dem Oktober 2002, der vom Supreme Court im Mai 2000 festgesetzten Frist für die Rückkehr zu einer gewählten Zivilregierung in Pakistan, dar.
Schon vor diesen Ereignissen redete Musharraf den religiösen Parteien in einer Weise ins Gewissen, wie es seit Ayub Khan kein pakistanischer führender Politiker mehr gewagt hatte. Bei der jährlichen "National Seerat Conference" anlässlich des Prophetengeburtstags (5. Juni 2001) überraschte er die anwesenden Würdenträger mit beißender Selbstkritik anstelle salbungsvoller Worte. So stellte er dem eigenen Bild vom Islam als perfektem Gesellschaftsmodell und Religion der Toleranz die tatsächliche Rückständigkeit und wirtschaftliche Schwäche Pakistans und die in seiner Gesellschaft grassierende Korruption, Heuchelei und Gewalttätigkeit gegenüber. Pakistan solle sich zuerst bemühen, mit dem Rest der Welt Schritt zu halten, bevor es "anderen seinen Willen aufzwingen" könne; bloße militärische Macht ohne wirtschaftliche Basis könne nichts erreichen. Musharraf griff auch direkt die islamistischen Hardliner an, die mit ihren großspurigen antiindischen Parolen nur die Situation der indischen Muslime verschlechtern würden, und beschuldigte sie, für den "Kaschmir-Jihad" gesammelte Spenden in die eigenen Taschen zu stecken.
IV. Der 11. Septemberals Chance für Musharraf
Unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington machte die amerikanische der pakistanischen Regierung unmissverständlich klar, dass in Sachen Bin Laden und Afghanistan fortan "andere Spielregeln gelten" würden. Die seit Jahren vorgebrachten Ausflüchte, Afghanistan sei ein souveränes Land und Pakistan habe nur begrenzten Einfluss auf das Talibanregime, würden nicht länger hingenommen. Vielmehr müsse Pakistan sich schnell entscheiden, ob es in dem angekündigten weltweiten Kampf gegen den Terrorismus auf der Seite der USA stehen wolle oder auf der Gegenseite. Konkret verlangten die USA Zustimmung zur Nutzung des pakistanischen Luftraums, logistische Hilfe und Geheimdienstinformationen über das Netzwerk Bin Ladens in Afghanistan.
Musharraf fand auf diese Herausforderung überraschend schnell eine Antwort. Schon am 13. September versicherte er der US-Botschafterin Chamberlain "volle Unterstützung", die bei einer Sitzung seines Kabinetts und des Nationalen Sicherheitsrats am 15. September bekräftigt wurde. Mit der Entsendung einer vom ISI-Chef General Mahmud Ahmad geführten Delegation nach Qandahar (17.-18. September) wurde noch ein letzter Versuch unternommen, das Talibanregime zum Einlenken zu bewegen und so vor einem amerikanischen Angriff zu bewahren, aber nach dessen Scheitern waren für Musharraf die Würfel gefallen. In einer Fernsehansprache vom 19. September rechtfertigte er seine Entscheidung, die Taliban ihrem Schicksal zu überlassen, mit einer "drohenden Katastrophe für Pakistan", dessen nationale Interessen Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müssten. Indien, das den USA sofort jegliche Hilfe angeboten hatte, suche von der Situation zu profitieren, und selbst Angriffe auf Pakistans "strategische Einrichtungen" seien nicht auszuschließen. Andererseits habe Pakistan jetzt eine Chance, "wieder als verantwortliche und ehrenhafte Nation dazustehen und seine Probleme zu verringern". Die Mehrheit der Bevölkerung würde einen rationalen Kurs unterstützen, während nur eine Minderheit "emotional reagieren" würde oder die Situation missbrauchen wolle.
Die Entscheidung Musharrafs war vor allem ein Zeichen von großem persönlichen Mut, aber auch von einer realistischen Einschätzung der Chancen und Risiken. Noch im Mai 2000 hatte er erklärt, die Anerkennung des Talibanregimes (seit 1997) sei im Interesse der nationalen Sicherheit Pakistans, das "die Paschtunen auf seiner Seite haben müsse"
Wie sich inzwischen gezeigt hat, fielen die Reaktionen der pakistanischen Islamisten schwächer aus als befürchtet. Sie konnten zwar einige Tausend zusätzliche Freiwillige für den bewaffneten Kampf auf Seiten der Taliban mobilisieren, waren aber nicht in der Lage, Musharrafs Regime ernstlich herauszufordern. Zu Protest- und Solidaritätsdemonstrationen brachten sie selbst nach Beginn des amerikanischen Bombenkriegs nie mehr als 25 000 Menschen in einer Stadt auf die Straße (davon viele Halbwüchsige), und einige ihrer Führer konnten ohne große Komplikationen unter Hausarrest gestellt werden. Musharraf brauchte nicht einmal die Streitkräfte einzusetzen, um die Lage unter Kontrolle zu halten, sondern konnte sich mit einem für pakistanische Verhältnisse mäßigen Polizeiaufgebot begnügen.
Tatsächlich hat Musharraf genau das getan, was die liberale Presse in Pakistan seit einem Jahrzehnt gefordert hat, nämlich "den Bluff der Kleriker auffliegen lassen". Die radikalen Islamisten haben durch den unrühmlichen Zusammenbruch der Taliban nicht nur ihre größte "Inspiration" der letzten Jahre verloren, sondern sich selbst als "Papiertiger" entlarvt. Dies wird nicht ohne Konsequenzen für ihre Freiräume und für die politische Kultur in Pakistan bleiben. So brachte die Regierung schon Anfang Dezember ihre seit langem geplanten Maßnahmen zur Modernisierung und Kontrolle der madrasas erneut auf die Tagesordnung. Mit der Verhaftung der Führer und Hunderter von Mitglieder der "Jihadi-Gruppen" Lashkar-i Tayyiba und Jaish-i Muhammad seit Ende Dezember sind weitere Schritte zur Bekämpfung des radikalen Islamismus vollzogen worden. Sie erfolgten zwar unter starkem Druck Indiens, sind aber schon vor dem Anschlag vom 13. Dezember in New Delhi erwartet worden.