Einleitung
Im Januar 1998 gab Zbigniew Brzezinski, in den siebziger Jahren Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, dem Nouvel Observateur ein bemerkenswertes Interview. Darin räumte er zum ersten Mal öffentlich ein, dass die Amerikaner die afghanischen Mudschahedin bereits sechs Monate vor dem Einmarsch der Sowjetunion nach Afghanistan unterstützt hatten. Ob er diesen Schritt heute bereue, fragte ihn daraufhin der Reporter. Brzezinski erwiderte: "Was soll ich bereuen? Diese geheime Operation war eine glänzende Idee. Wir haben dadurch die Russen in die afghanische Falle gelockt. Das soll ich bereuen? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, habe ich an Jimmy Carter geschrieben: Wir haben jetzt die Gelegenheit, die UdSSR in ihren eigenen Vietnamkrieg zu verwickeln. Tatsächlich musste Moskau zehn Jahre lang einen Krieg führen, den die Regierung nicht rechtfertigen konnte, einen Konflikt, der die Sowjets demoralisierte und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Reiches bedeutete."
Was aber sei mit dem islamischen Fundamentalismus, fragte der Reporter. Ob es nicht ein Fehler gewesen sei, zukünftige Terroristen militärisch beraten und mit Waffen ausgerüstet zu haben. Keinesfalls, so Brzezinski: "Was ist bedeutsamer für die Weltgeschichte: die Taliban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Reiches? Einige aufgebrachte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?"
"Einige aufgebrachte Muslime?", fragte der Reporter verdutzt. Aber es werde doch ständig davon geredet, der islamische Fundamentalismus sei eine Bedrohung für die gesamte Welt? Die Antwort Brzezinskis: "Unsinn! Es wird immer wieder gesagt, der Westen habe eine globale Strategie in Bezug auf den Islam. Das ist albern. Es gibt keinen globalen Islam. Wir müssen uns rational mit dem Islam befassen, ohne Demagogie und Emotionen. Mit 1,5 Milliarden Anhängern ist er die führende Religion der Welt. Aber was haben saudi-arabischer Fundamentalismus, das gemäßigte Marokko, pakistanischer Militarismus, das pro-westliche Ägypten oder zentralasiatischer Säkularismus gemeinsam? Nicht viel mehr, als christliche Länder miteinander verbindet."
Im Afghanistankrieg sind über 1 Million Afghanen und 15 000 Russen gestorben. Es ist eine Frage des Geschmacks, ein solches Blutbad als "glänzende Idee" zu bezeichnen. Aber Zynismus ist eine Eigenschaft, die vermutlich jeden Machtpolitiker auszeichnet. Das eigentlich Erstaunliche an dem Interview ist Brzezinskis Einschätzung über den "globalen Islam". Sie ist deswegen erstaunlich, weil sie nicht von einem Islamwissenschaftler stammt, dem man leicht Naivität, zu große Nähe zu seinem Studienobjekt oder einfach Weltfremdheit vorwerfen könnte. Ein ehemaliger amerikanischer Sicherheitsberater, der einen Krieg von den Ausmaßen wie in Afghanistan zu entfachen wusste und Gotteskrieger mit modernsten Waffen ausrüstete, kann aber schwerlich naiv oder weltfremd sein. Zynisch vielleicht, aber nicht naiv.
Und so gilt auch nach dem 11. September 2001, was diverse Islamwissenschaftler und Nahostexperten bereits seit Jahren ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen versuchen: Islam ist nicht gleich Islam. Ein Muslim in Europa muss sich mit anderen Gegebenheiten auseinandersetzen als ein Muslim in Indonesien oder im Jemen und wird sich entsprechend anders verhalten.
Der Islam, so heißt es immer wieder, sei eine zutiefst politische und darüber hinaus allumfassende Religion, die ihren Anhängern in jeder Lebenslage genaue Vorschriften mache. Das mag sein. Ob sich Muslime zu jeder Zeit und an jedem Ort genau an diese Vorschriften halten, ist aber eine ganz andere Frage. Letztlich ist es die Realität, die darüber entscheidet, wie der Islam praktiziert wird. Darüber hinaus sind die Heiligen Texte des Islams interpretierbar. So gibt es zum Beispiel, entgegen landläufiger Meinung, weder im Koran noch in der Sunna die eindeutige Bestimmung, Religion und Politik gehörten zwangsläufig zusammen. Vielmehr gibt es beispielsweise keine eindeutigen Aussagen darüber, wie ein islamischer Staat auszusehen habe.
Diesen Unterschied zu erkennen ist wichtig, um die Argumentation in diesem Beitrag nachvollziehen zu können. Er beschäftigt sich nicht mit dem Islam an sich, sondern mit einer politischen Bewegung, dem Islamismus, der gleichwohl für sich in Anspruch nimmt, den Islam an sich zu vertreten. Der Islamismus, oder der politische Islam, wie er auch genannt wird, glaubt durch den Rückgriff auf die Urquellen des Islams die Probleme der heutigen Zeit lösen zu können. Er verlangt von seinen Anhängern, aktiv auf die Errichtung eines islamischen Staates hinzuarbeiten, in dem Gott und nicht der Mensch der Souverän ist.
Wie dieser Staat genau aussehen soll, ist vielfach unklar. Klar ist jedoch, dass diese Bewegung totalitäre Ansätze hat. Grundsätzlich lehnt der politische Islam Pluralismus, Individualismus und Demokratie ab. In seiner verblendeten Form läuft er Gefahr, in den Terrorismus abzugleiten - nämlich dann, wenn seine Anhänger glauben, die Errichtung der göttlichen Ordnung verlange einen permanenten Dschihad, in dem die vermeintlichen Feinde des Islams mit allen Mitteln bekämpft werden müssten. Der 11. September war die schreckliche Manifestation dieses verblendeten Islamismus.
Dennoch lautet, in Anlehnung an das, was eingangs über den Islam gesagt wurde, die These dieses Beitrags: Islamismus ist nicht gleich Islamismus. Wenngleich sich die meisten islamistischen Bewegungen auf die gleichen Quellen berufen und die gleichen Ziele verfolgen, so unterscheiden sie sich in ihrem Verhalten teilweise erheblich voneinander. Für die Frage, wie mit diesen Bewegungen umzugehen ist, ist das von entscheidender Bedeutung. Deswegen beharren Islamwissenschaftler wie zum Beispiel die oben genannte Gudrun Krämer darauf, differenziert an dieses Phänomen heranzugehen. Besonders müsse man unterscheiden zwischen aggressiven Islamisten und denjenigen, die Gewalt nur als Verteidigung beim Angriff von Feinden befürworten.
I. Warum den Islamismus differenziert betrachten?
Kürzlich nannte der französische Philosoph Bernard-Henry Levy "den Islam in seiner fundamentalistischen Form in gewisser Weise" den dritten Faschismus, "nach dem braunen und dem roten". "In den Zuckungen des islamischen Integrismus erleben wir die letzten Höhepunkte des Totalitarismus aus dem 20. Jahrhundert."
Diese Position vertreten zum Teil auch muslimische Säkularisten, wie der 1992 von Islamisten ermordete Ägypter Farag Foda. Ihm sei es egal, "ob sie mich auf ein Kamel oder in ein Flugzeug setzen - am Ende der Reise steht immer die islamische Diktatur"
Westliche Islamwissenschaftler sind nicht unbedingt bekannt dafür, Anhänger totalitärer religiöser Bewegungen zu sein. Die meisten von ihnen würden klare Worte finden, wenn christliche Fundamentalisten in Deutschland eine Theokratie errichten wollten. Warum fällt es ihnen dann so schwer, eine eindeutige Position gegen den Islamismus zu beziehen? Diese Frage zu beantworten ist vor allem deswegen wichtig, wenn man für einen pragmatischen Umgang mit dem politischen Islam plädiert.
Drei Punkte sind dabei vor allem zu beachten: Der erste betrifft die Entstehungsgeschichte des Islamismus und die Rolle, die der Westen dabei gespielt hat. Der zweite betrifft die Möglichkeiten des Islamismus, in der Realität seine Ziele durchzusetzen. Der dritte Punkt schließlich hat mit der Wandlungsfähigkeit des Islamismus und seiner möglichen "Demokratisierung" zu tun.
Häufig wird Muslimen, insbesondere Arabern, mangelnde Selbstkritik vorgeworfen. Die arabischen Staaten hätten längst ihre Unabhängigkeit erreicht und müssten deswegen Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen. Stattdessen, so der Vorwurf, würden sie stets dem Westen die Schuld an ihrer miserablen Lage geben.
Ohne näher auf die Einzelheiten der jüngeren Nahostgeschichte einzugehen, steht eines fest: Der Nahe Osten hat die vergangenen 50 Jahre nicht in einem weltpolitischen Vakuum verbracht. Vielmehr hat der Westen, insbesondere die USA, großen finanziellen und militärischen Aufwand betrieben, um die Entwicklung in der Region in seinem Sinne zu beeinflussen. Das ist an sich nichts Verwerfliches, zumal wenn die Amerikaner sich darum bemüht hätten, überall Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu fördern - eines der oft erklärten Ziele ihrer Außenpolitik. Diesem Anspruch wurden sie nur unzureichend gerecht. Die USA unterstützen seit Jahrzehnten auch autoritäre Regime, die die Menschenrechte nicht achten. Nicht selten verhindern sie damit das Entstehen von Demokratie oder tragen mit dazu bei, dass demokratische Prozesse zum Erliegen kommen.
Saudi-Arabien ist nach wie vor das beste Beispiel. In einem Aufsatz in dem einflussreichen Magazin Foreign Affairs aus dem Jahre 1993 fragte sich der frühere amerikanische Verteidigungsminister und CIA-Chef James Schlesinger, ob die USA wirklich ein Interesse daran hätten, anderen Gesellschaften eine demokratische Regierungsform vorzuschreiben. Sein Fazit: "Das Problem zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der islamischen Welt. Wollen wir ernsthaft die Institutionen in Saudi-Arabien verändern? Die kurze Antwort ist: nein. Über die Jahre hinweg haben wir uns darum bemüht, diese Institutionen aufrecht zu erhalten, manchmal auf Kosten von eher demokratischen Kräften, die in der Region vorhanden waren."
Die USA verfolgen diese Politik nicht aus Sympathie zur saudischen Diktatur, sondern aus politisch-strategischen Überlegungen. Denn Demokratie, wie Schlesinger feststellt, ist ein "organisches Gewächs", das Zeit braucht, um sich zu entwickeln. Der Westen habe dafür Jahrhunderte gebraucht. Dieser Demokratisierungsprozess verläuft aber in den seltensten Fällen geradlinig und bringt Unsicherheit mit sich. Dazu Schlesinger: "Wollen wir wirklich eine größere Demokratisierung in Ägypten durchsetzen? Es würde wahrscheinlich weder uns noch unserem Freund und Alliierten, Präsident Mubarak, zum Vorteil gereichen. Die gleichen Überlegungen lassen sich zu Tunesien, Marokko und sogar Jordanien anstellen."
Darüber hinaus müssen sich die USA eingestehen, dass wirklich demokratische Länder im Nahen Osten kaum so amerikaorientiert sein würden wie heute Ägypten oder Jordanien - egal, ob sie von Islamisten oder Säkularisten regiert würden. Auch hier ist Saudi-Arabien ein gutes Beispiel. In dem Land herrschen Korruption, Machtmissbrauch und Missmanagement vor. Es ist hochgradig unpopulär und verdankt sein Fortbestehen nicht zuletzt amerikanischer Unterstützung. Die auf saudischem Boden stationierten amerikanischen Truppen sind u. a. dazu da, das saudische Herrscherhaus vor einem gewaltsamen Umsturz zu bewahren. Als Gegenleistung hat sich Saudi-Arabien als dankbarer Kunde amerikanischer Produkte erwiesen. In den vergangenen 50 Jahren hat die Monarchie Rüstungsgüter aus den USA für 100 Milliarden US-Dollar eingekauft, darunter häufig Material, für das es sonst keine Verwendung gab. "Saudi-Arabien hat häufig Waffen gekauft, die es nicht braucht. Manchmal waren die Aufträge groß genug, um ganze Fabriken (in den USA, A.M.) alleine am Laufen zu halten."
Es wäre kaum denkbar, dass eine demokratisch gewählte Regierung so bedenkenlos die Ressourcen des Landes verschleudern könnte. Bei der nächsten Wahl würde sie sich in der Opposition wiederfinden, wenn nicht vorher schon vor Gericht.
Doch damit nicht genug. Nicht nur haben die USA in den vergangenen 50 Jahren wenig Interesse an einer Demokratisierung ihrer Partnerländer gehabt. Vielmehr haben sie im Rahmen des Kalten Krieges antikommunistische Bewegungen wie den Islamismus unterstützt. Die Rolle der USA und Saudi-Arabiens im Afghanistankrieg ist hinlänglich bekannt. Darüber hinaus haben andere Länder wie Jordanien, Ägypten, der Jemen und selbst Israel bisweilen islamistische Bewegungen auf ihrem eigenen Territorium gefördert, als Gegengewicht zu linken und nationalistischen islamischen Gruppierungen. Dass heute in den meisten arabischen Ländern der islamistische Diskurs alle nichtreligiösen Stimmen übertönt, hat auch etwas mit vorangegangener westlicher Politik zu tun.
Darüber hinaus gibt es Beispiele, in denen der Westen bewusst mitgeholfen hat, bereits existierende demokratische Strukturen im Nahen Osten zu zerstören. Das aktuellste und schmerzlichste Beispiel ist wohl Palästina. Es ist heute längst vergessen, dass die palästinensische Gesellschaft in der Westbank und im Gazastreifen vor Beginn des Friedensprozesses weitaus demokratischer organisiert war als heute unter der Autonomiebehörde Yassir Arafats: "Tatsächlich hatte die palästinensische Führung in den besetzten Gebieten vor dem Osloer Abkommen viele Attribute einer Demokratie, oder zumindest von den Vorläufern einer Demokratie. Sie hatte eine dynamische und pluralistische Zivilgesellschaft, die als Quasi-Staat unter der militärischen Besatzung fungierte. Sie hatte eine gut ausgebildete Elite und eine Mittelklasse. Und sie fühlte sich seit langem verpflichtet durch die Ideologie der PLO, ein demokratisches Staatswesen zu errichten."
Diese demokratischen Strukturen, insbesondere die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, bedeuteten für Yassir Arafat eine Bedrohung seiner Macht, als er 1994 nach Palästina zurückkehrte. So begann die Autonomiebehörde damit, die gewachsenen demokratischen Strukturen zu zerschlagen und durch ein autoritäres Staatswesen nach dem Muster anderer arabischer Staaten zu ersetzen. Heute gibt es in Palästina auf drei Millionen Einwohner 40 000 Polizisten und Sicherheitsbedienstete - ein in der Welt kaum erreichtes Verhältnis.
Israel und die USA unterstützten den Prozess der De-Demokratisierung, indem sie von Arafat ein hartes Vorgehen gegen alle Kritiker des Friedensprozesses verlangten (die nicht nur aus Islamisten bestanden). Die Militarisierung der Autonomiebehörde fand unter den Augen und mit Hilfe von Mossad und CIA statt. Heute sind es Palästinenserführer der ersten Intifada wie Marwan Barghouti, die auch den zweiten Aufstand gegen die israelische Besatzung seit dem 29. September 2000 lenken.
Es geht nicht um Rechthaberei, wenn man auf die Mitverantwortung des Westens bei der Schaffung eines undemokratischen Klimas im Nahen Osten hinweist. Dass es in der arabischen Welt ein eklatantes Demokratiedefizit gibt, liegt mit Sicherheit nicht alleine an den USA. Problematisch ist jedoch, wenn umgekehrt die Vertreter eines "Clash of Civilizations" allein den Islam für die mangelnde Demokratie in der Region verantwortlich machen. Außerdem ist es geradezu gefährlich, eine ganze Religion, die weltweit tiefe Wurzeln geschlagen und in der Vergangenheit Hochkulturen hervorgebracht hat, pauschal als "Feind" zu brandmarken. Der "real existierende Islam" sei intolerant und missachte die Menschenrechte, so der Philosoph Siegfried Kohlhammer in einem viel beachteten Aufsatz von 1995, den die Zeitschrift Merkur nach den Anschlägen am 11. September in seiner Novemberausgabe 2001 noch einmal neu abdruckte. Das müsse Zweifel wecken an dem "unerträglich geschönten Bild, das uns die Apologeten des Islam a l'eau de rose verkaufen wollen. Und die bange Frage aufwerfen, ob der real existierende Islam nicht eigentlich ein Feind des Westens ist und in diesem Sinne ein Feindbild Islam realistisch und also wünschenswert wäre"
Wenn man glaubt, den "real existierenden Islam" nicht mit zivilen Mitteln in die Völkergemeinschaft integrieren zu können, dann ist der einzige Ausweg tatsächlich Krieg. Und der wird nie zu gewinnen sein.
II. Die Islamisten sind ein Spiegel ihrer Gesellschaft
Die Angst vor dem "real existierenden Islam" ist im Westen in der Tat real, nach dem 11. September mehr denn je. Denn die meisten Menschen assoziieren mit dem "real existierenden Islam" den Islamismus. Ein markantes Beispiel aus der Presse mag das verdeutlichen. Zwei Wochen nach dem 11. September widmete der FOCUS seine Titelgeschichte der "Weltmacht Islam". Die Fotos aber legten nahe, dass es hier gar nicht um die Religion an sich ging. Sie zeigten hauptsächlich waffenschwingende Islamisten der Hizbullah und Hamas, von Autobomben zerstörte US-Kasernen oder aufgeputschte Demonstranten, die mit dem Koran in der Hand gegen den Westen demonstrierten.
Also muss die Frage lauten: Ist der Islamismus - und hier kehren wir zum eigentlichen Thema zurück - wirklich eine Bedrohung für den Westen oder gar die gesamte Menschheit? Die Antwort ist offensichtlich: ja. Es dürfte mittlerweile kaum einen Zweifel darüber geben, dass Osama bin Laden bereit wäre, atomare oder chemische Waffen einzusetzen, wenn er über sie verfügen würde. Doch die Antwort könnte genauso gut lauten: nein. Denn bin Ladens al-Qaida steht nicht stellvertretend für den Islamismus. Sie ist vielmehr eine kleine Minderheit einer Bewegung mit vielen Facetten.
Womit wir beim zweiten Grund wären, warum Islamwissenschaftler für einen differenzierten Umgang mit dem Islamismus plädieren. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des politischen Islams ist es angebracht, einen pragmatischen Umgang mit ihm zu finden. Dabei kann man sich die Unterschiede zunutze machen, die es zwischen den einzelnen islamistischen Bewegungen gibt. Wie bereits mehrfach betont, teilen alle Islamisten die Forderung nach einem islamischen Staat. Doch sie unterscheiden sich bisweilen erheblich in den Methoden, wie sie dieses Ziel zu erreichen versuchen. Der Grund liegt in den unterschiedlichen Bedingungen, unter denen sie agieren. Grundsätzlich lässt sich sagen: Die Islamisten spiegeln in ihrem Verhalten die politischen Systeme wider, in denen sie sich bewegen. Oder in den Worten des ägyptischen Islamisten Fahmi Huwaidi: "Jedes Regime produziert die Opposition, die es verdient."
Theoretisch lehnen die Islamisten das Nationalstaatsprinzip ab. Ihr Ziel ist es, alle Muslime unter einem Dach zu vereinen. Doch das ist Utopie. In der Realität agieren sie innerhalb der Nationalstaaten, in denen sie leben. Und hier liegt die Chance, einen Umgang mit dieser politischen Bewegung zu finden, die so scheinbar unflexibel, fanatisch und intolerant ist. Ein Blick auf die einzelnen Länder lehrt, dass die Islamisten in den Ländern, in denen sie am politischen Leben teilnehmen können, am wenigsten zur Gewalt neigen. Umgekehrt gilt das Gleiche. Revolutionen lassen sich nicht planen - ob sie ausbrechen oder nicht, liegt nicht in der Hand einer einzelnen Bewegung. So passen sich die Islamisten der jeweiligen Situation an, ohne die Utopie aufzugeben, irgendwann in ferner Zukunft einen islamischen Staat zu errichten. Anhand verschiedener Beispiele (Libanon und Jordanien) soll die These im Folgenden untermauert werden.
Die Behauptung, die Islamisten würden sich den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen anpassen, heißt noch lange nicht, dass sie Pluralismus, Demokratie und Meinungsfreiheit grundsätzlich akzeptieren würden. Vielmehr haben sie es in vielen Ländern des Nahen Ostens geschafft, den gesellschaftlichen Diskurs in den vergangenen Jahrzehnten zu "islamisieren". Das ist, wenn man so will, der "heimliche Sieg" des politischen Islams.
Dennoch gibt es auch hier Hoffnung. Womit wir beim dritten Punkt angelangt wären, warum Islamwissenschaftler für einen differenzierten Umgang mit dem politischen Islam plädieren. Denn die Islamisten haben sich in den vergangenen Jahren durchaus als lernfähig erwiesen. Während sie früher Demokratie als westliches Konstrukt rundheraus ablehnten, diskutieren mittlerweile intellektuelle Islamisten darüber, wie sich ein islamischer Staat mit demokratischen Prinzipien wie Partizipation, Schutz der Menschenrechte, Verantwortlichkeit der Regierung und Rechtsstaatlichkeit verbinden lässt.
Wenn man Schlesinger folgt und Demokratie als einen "organisches Gewächs" betrachtet, das langsam wachsen muss, dann bietet die Islamische Republik Iran den größten Anlass zur Hoffnung. Es ist das erste Land, in dem der politische Islam in die Praxis umgesetzt worden ist. Nach zwanzig Jahren schwant auch früheren Unterstützern der Revolution jedoch, dass der Islam nicht die Lösung für alle Problem auf Erden ist. Sollte der Iran eine authentische Form der Demokratie entwickeln, sozusagen eine "islamische Demokratie", dann könnte dies ein Zeichen setzen für die restliche islamische Welt.
III. Libanon: Vom Terror zur Demokratie
Im Folgenden soll anhand von Fallbeispielen die These belegt werden, dass sich der politische Islam den jeweiligen Bedingungen anpasst, unter denen seine Anhänger agieren. Ein Beispiel für die Wandlungsfähigkeit ehemals revolutionärer Islamisten ist die libanesische Hizbullah.
Anfang der achtziger Jahre befand sich der Libanon inmitten eines langen Krieges. Diverse Milizen, unterstützt von Syrien, dem Irak oder Israel, bekämpften sich gegenseitig. Entführungen, politische Morde und Massaker an der Zivilbevölkerung waren an der Tagesordnung. 1982 marschierte die israelische Armee unter der Leitung des damaligen Verteidigungsministers Ariel Scharon in den Libanon ein und drang bis nach Beirut vor. Das erklärte Ziel war die Vernichtung der palästinensischen Guerillastruktur im Südlibanon. Während ihres Eroberungsfeldzugs setzten die Israelis Phosphor- und Streubomben ein, mindestens 17 000 Menschen starben, die meisten davon Zivilisten. Auch nach dem Abzug der PLO aus dem Libanon hielt die israelische Armee große Teil des südlichen Libanon besetzt. Das war das politische Klima, in dem die Hizbullah entstand. Entsprechend gewaltsam trat sie auf. Wie die anderen libanesischen Milizen auch entführte und ermordete sie ihre Gegner ohne Rücksicht auf Verluste. Ideologisch bedeutete die Hizbullah allerdings eine Neuheit auf der libanesischen Bühne.
1979 hatte im Iran die Islamische Revolution stattgefunden. Wie alle Revolutionsführer glaubte auch Ayatollah Khomeini, den Schlüssel für die Lösung der Menschheitsprobleme gefunden zu haben. Die logische Folge war der Versuch, die Islamische Revolution zu exportieren. Der Libanon mit seiner großen schiitischen Gemeinde bot sich als Brückenkopf an. Die Islamische Revolution, so Sayyid Mohammed Hussein Fadlallah, der als spiritueller Mentor der Hizbullah gilt, "lässt sich nicht auf einen bestimmten Ort begrenzen, außer auf einer zeitlich begrenzten Basis"
Für die Hizbullah war der Libanon ein Staatsgebilde ohne Legitimation. Ziel war es, auch hier eine Islamische Revolution zu entfachen - wenngleich die Schiiten nur in der Minderheit waren. Solange das Land in einem anarchischen Kriegszustand verharrte, konnte sich die Hizbullah diese Position auch leisten. Realpolitische Entscheidungen mussten nicht getroffen werden.
Das änderte sich mit dem Ende des Krieges im Herbst 1990. Der Libanon wurde wieder zu einem halbwegs souveränen Staat, 1992 fanden die ersten Parlamentswahlen seit fast zwanzig Jahren statt.
Ihren ursprünglichen Zielen folgend hätte die Hizbullah diesen Normalisierungsprozess eigentlich ablehnen müssen. Tatsächlich entbrannte in der Führungsebene eine Diskussion darüber, wie mit der neuen Situation umzugehen sei. Die Pragmatiker plädierten für eine Teilnahme an den Wahlen und die Integration der Hizbullah in das libanesische System. Die Hardliner beharrten auf den Idealen der Revolution und lehnten das "korrupte" libanesische System weiter ab. Die Pragmatiker setzten sich durch.
Seitdem hat eine "Libanonisierung" der Hizbullah stattgefunden: Die früheren islamischen Revolutionäre bemühen sich heute darum, als Partei anerkannt zu werden, die die Interessen aller Libanesen vertritt. Bewusst sucht man auch den Kontakt zum christlichen Lager. Derzeit sitzen zwölf Abgeordnete der Hizbullah im Parlament.
Was aber ist aus dem Traum der Islamischen Revolution geworden? Der mag weiter in den Hinterköpfen mancher Hizbullahis schlummern. Ein islamischer Staat aber, so die offizielle Position der Parteiführung, sei nur mit Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit zu verwirklichen. Und die sei auf absehbare Zeit im Libanon nicht in Sicht.
IV. Jordanien: Gelungene Integration
Islamisten gibt es in jedem islamischen Land. Ob sie im Westen wahr genommen werden, hängt aber meist von dem Grad ihrer Gewaltbereitschaft ab. Jeder regelmäßige Zeitungsleser wird etwas mit den Namen Hamas, Hizbullah, Gamaa Islamiya und GIA anfangen können. Sie haben sich durch ihre Terrorattentate in das Bewusstsein des Westens gebombt. Aber wer hat jemals etwas von der Islamischen Aktionsfront (IAF) gehört? Die Islamische Aktionsfront ist insofern eine "langweilige" Einrichtung, als sie noch nie versucht hat, mit Mord und Totschlag an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Dennoch ist die IAF aus einer der ältesten islamistischen Organisationen im Nahen Osten hervorgegangen. Sie ist der politische Arm der Muslimbrüder im Haschemitischen Königreich Jordanien.
Die jordanischen Muslimbrüder gibt es seit über 50 Jahren. Sie sind eine Institution ähnlich wie der König - und entsprechend moderat. Als König Hussein 1994 mit Israel Frieden schloss, schrien die Islamisten "Verrat". Ansonsten fanden sie sich mit der neuen Situation ab. Selbst als Husseins Nachfolger, König Abdallah, im Jahr 2000 auf israelischen Druck hin Führer der palästinensischen Hamas in Amman des Landes verwies, ging der Protest der Muslimbrüder über Verbalnoten nicht hinaus.
Für den moderaten Umgang zwischen Regime und Islamisten gibt es verschiedene Gründe. Jordanien ist ein kleines Land mit gerade mal fünf Millionen Einwohnern, das relativ leicht zu kontrollieren ist. Die letzten ernsthaften militärischen Auseinandersetzungen fanden 1970 während des so genannten Schwarzen Septembers statt. Damals brachten die Truppen des Königs den Guerillas der PLO eine vernichtende Niederlage bei. Die Muslimbrüder wissen also, dass sie in einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Regime untergehen würden.
Doch die beiderseitige Harmonie beruht nicht nur auf Zwang. König Hussein verstand es, die Muslimbrüder in das Regime einzubinden. Als er 1958 das Parlament auflöste und sämtliche Parteien verbot, verschonte er als einzige die Islamisten. Seitdem haben sie eine eigene Infrastruktur aufgebaut - Krankenhäuser, Schulen, Zeitungen, Wirtschaftsunternehmen -, die ihresgleichen sucht.
Ziyad Abu Ghanima, ein langjähriges Mitglied der Muslimbrüder, fasst das Verhältnis der Islamisten zur Monarchie wie folgt zusammen: "Es gibt kein arabisches Regime, in dem wir im Laufe der Jahre so viele Freiheiten genossen haben wie in Jordanien. Bislang ist noch kein Muslimbruder hingerichtet worden. Und auch als Gruppe sind wir nie verfolgt worden, wie in Ägypten oder in Syrien."
Jordanien ist wahrlich kein islamischer Staat, zumal eine Erbmonarchie in den Augen der Islamisten nicht legitim ist. Doch die jordanischen Muslimbrüder haben mittlerweile viel zu verlieren. Ein Umsturz des Regimes könnte jedenfalls auch ihre Interessen beschädigen. Durch die Umarmung seitens des Regimes haben die Islamisten jeglichen revolutionären Elan verloren - falls sie ihn jemals hatten.
Als 1989 in Jordanien ein Mehrparteiensystem eingeführt wurde, entbrannte ein Streit unter den Muslimbrüdern, ob sie sich gegebenenfalls auch als Minderheit an einer Koalitionsregierung beteiligen sollten. Persönlichkeiten wie Abu Ghanima, die dem konservativen Flügel angehören, lehnten das mit Hinweis auf das Beispiel in der Türkei ab. Dort hatte sich die islamistische Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans an einer Koalitionsregierung beteiligt, wurde dann aber von den Militärs 1997 aus der Macht gedrängt.
Das, so Abu Ghanima, sei schlechter für den Ruf des Islamismus als das Martyrium: "Die Wohlfahrtspartei wurde an die Regierung gelassen, damit sie sich vor dem Volk blamiert. Erbakan sagte z. B. im Wahlkampf, er werde den Verteidigungspakt mit Israel annullieren. Er sagte, er werde die Türkei aus der NATO holen. Er kann das aber nicht, also werden die Leute sagen: Er belügt uns. Das beeinflusst die Popularität der Islamisten. Das ist gefährlicher als Gefängnis! Gefängnis und der Galgen nützen den Islamisten sogar, denn in den Augen der Leute sind sie dann Märtyrer. Wenn sie sich aber an der Regierung beteiligen, sagen die Leute, sie sind Opportunisten."
Doch ähnlich wie im Libanon setzten sich letztlich die Pragmatiker durch. Eine ihrer Stimmen ist Abdallah Akaylah, der 1991 als Erziehungsminister an der Regierung beteiligt war. Er hält Abu Ghanima für weltfremd: "Wer erwartet denn in der Türkei, dass die Wohlfahrtspartei alles auf einmal ändern kann? Sie sind Teil eines säkularen Staates. Was sie machen ist pragmatisch und intelligent: Sie sagen: So sieht die Gesellschaft aus, so ist die Struktur der Institutionen, so ist der Staat. Wenn man immer ,entweder-oder' sagt, kann man sich leicht außerhalb des Systems wiederfinden. Wenn man aber Verantwortung übernimmt und die Menschen überzeugt, dann werden sie dich akzeptieren und du kannst deine Ideen durchsetzen. Nur Schreien bringt nichts. Leute wie Abu Ghanima sind romantisch, sie haben keine Ahnung von Politik."
Das jordanische Modell, auch wenn es nur schwer auf andere Länder übertragbar scheint, gilt manchen Beobachtern als gelungener Versuch einer Kooptation des Islamismus. Die Muslimbrüder versprechen ihren Anhängern weiter den islamischen Staat, ihre Methode ist aber allein die Reform.
V. Die Islamische Republik Iran: Wegbereiter für eine islamische Demokratie?
Die USA, so der ehemalige Verteidigungsminister James Schlesinger in seinem Aufsatz über amerikanische Außenpolitik, suchen sich ihre Partnerländer im Nahen Osten nicht nach dem Grad ihrer Demokratisierung aus. Wie erkläre sich sonst, so Schlesinger, dass ausgerechnet der Iran zu den Feinden Amerikas gehöre? Es gebe nämlich keinen anderen Staat im Nahen Osten, der erfolgreicher den "demokratischen Prozess" eingeschlagen habe als der Iran.
Diese Feststellung mag auf den ersten Blick überraschen, ist doch die Islamische Republik das einzige Beispiel für den Versuch, einen islamischen Staat systematisch in die Tat umzusetzen (der Sudan ist eine Militärdiktatur, im "Islamischen Emirat Afghanistan" der Taliban beschränkte sich das "Islamische" darauf, das Strafrecht mit äußerster Brutalität durchzusetzen). Doch wie der Name "Republik" schon nahe legt, enthält dieser islamische Staat durchaus Elemente der Volkssouveränität. So werden sowohl Parlament wie Präsident vom Volk gewählt. Allerdings entscheidet ein Gremium aus islamischen Rechstgelehrten darüber, wer als Kandidat antreten darf. Außerdem prüft das gleiche Gremium, ob die vom Parlament verabschiedeten Gesetze mit dem Islam vereinbar sind, und schickt sie gegebenenfalls zur Revision zurück. Die letzte Instanz in der Islamischen Republik bleibt aber der Revolutionsführer, ein Rechtsgelehrter, der seine Autorität direkt von Gott erhält.
Im Iran ist der Islamismus also seit über 20 Jahren nicht mehr in der Opposition, sondern an der Macht. Die Erfahrungen aus dieser Zeit lehren zwei Dinge: Auch utopische Bewegungen, die ihren Anhängern einfache Lösungen für schwierige Probleme versprechen, müssen sich den Realitäten der Gegenwart stellen, sobald sie an der Macht sind. Daraus folgt zweitens die Entmythologisierung dieser Bewegung, die sich über kurz oder lang Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen muss.
Ohne es zu wollen, hat der Islamismus im Iran damit einer Säkularisierung der Gesellschaft Vorschub geleistet. Viele Menschen verbinden mit Religion mittlerweile auch den Missbrauch von Macht, und wenn überhaupt, praktizieren sie ihren Glauben nur noch im Stillen. Es ist nicht schwer, im Iran junge Menschen zu finden, die Religion ausdrücklich als Privatsache betrachten.
Obgleich der Iran ein schiitisches Land ist, dessen islamische Aufklärer auf Persisch schreiben, findet die Diskussion um eine islamische Demokratie auch unter sunnitischen Muslimen in der arabischen Welt Widerhall. "Auf jeden Fall zeigt die iranische Debatte", so Amirpur, "dass es viele Ansätze gibt, den Islam neu zu interpretieren. Der Islam muss nicht unvereinbar sein mit der Moderne. Es ist hilfreich, die iranische Debatte zu betrachten, um dem simplizistischen Standardargument vieler Muslime und Islamkritiker entgegentreten zu können, der Koran schreibe dies und jenes nun mal so vor."
VI. Die Islamisten: Ein Grund, die Demokratie zu verhindern?
Für viele Regime im Nahen Osten sind die Islamisten mehr Segen als Fluch. Sie dienen häufig als Grund, um den Mangel an Demokratie zu rechtfertigen. Mit den Islamisten, so die Behauptung, sei keine Demokratie möglich, weil sie, sobald sie die absolute Mehrheit errängen, die Demokratie wieder abschaffen würden. Und seit dem 11. September haben die arabischen Regime mehr Freiraum denn je, um Oppositionelle - nicht nur islamistische - in ihre Schranken zu weisen. Während die USA im Kampf gegen den Terrorismus die demokratischen Rechte ihrer eigenen Bürger beschneiden, scheint es niemanden zu interessieren, wenn in Ägypten die Repressionen zunehmen.
Algerien wird oft als Beispiel bemüht, um zu zeigen, was passiert, wenn Islamisten über die Wahlurne an die Macht gelangen. Nach Jahrzehnten der Einparteienherrschaft hatte Algerien 1989 seine Verfassung geändert und ein Mehrparteiensystem eingeführt. 1990 fanden erstmals Kommunalwahlen statt, bei denen die Islamisten der Front Islamique du Salut (FIS) überraschend die Mehrheit der Stimmen gewannen. Im Dezember 1991 folgten die Parlamentswahlen. Als sich nach der ersten Runde erneut ein überwältigender Sieg der FIS abzeichnete, annullierten die Militärs die Wahlen und legten die Demokratie auf Eis.
Was folgte, war der wohl grausamste Bürgerkrieg der jüngeren arabischen Geschichte. Sein Merkmal wurde die kollektive Abschlachtung Hunderter Frauen, Kinder und Greise. Die Militärs schoben die Verantwortung für die Massaker stets der anderen Seite zu: Die Groupe Islamique Armée - kurz GIA - wurde weltweit zum Inbegriff des islamistischen Terrorismus. Wie viele durch den Terror umkamen, ist nicht genau bekannt, es dürften aber bisher etwa 100 000 Menschen sein.
Doch mittlerweile machen sich Zweifel breit. Waren die Islamisten wirklich an all den Greueltaten schuld? Im vergangenen Jahr hat ein Buch des algerischen Offiziers Habib Souaidia für Aufsehen gesorgt.
Im Westen atmete man auf, als die Militärs die Islamisten an der Machtübernahme hinderten. Schließlich hatte nach der ersten Wahlrunde ein FIS-Führer den absehbaren Triumph seiner Bewegung als "Sieg für den Islam" anstatt als Sieg für die Demokratie bezeichnet. Was wäre passiert, wenn die FIS an die Macht gekommen wäre? Hätte sie Algerien in einen islamischen Staat nach dem Muster Afghanistans verwandelt? So jedenfalls stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der immer noch nicht beendet ist.
Die Frage nach der demokratischen Glaubwürdigkeit der Islamisten ist durchaus berechtigt. Doch wenn es stimmt, dass die Demokratie ein "organisches Gewächs" ist, das seine Zeit braucht, um sich zu entfalten, muss man ihr erst einmal die Chance geben, überhaupt Wurzeln zu schlagen. Das geschieht nur, wenn man sie nicht bei der nächstbesten Gelegenheit wieder abschafft wie in Algerien. Der tunesische Islamist Rashid al-Ghannouchi hat dieses Dilemma einmal wie folgt auf den Punkt gebracht: "Sie akzeptieren die Demokratie nur, wenn sichergestellt ist, dass sie in jedem Fall die Sieger sind. Nehmen wir an, wir wären unverbesserliche Antidemokraten und unsere Widersacher wären unbescholtene Demokraten. Wenn sie es ernst meinten, könnten sie uns dazu bringen, das Spiel der Demokratie mitzuspielen. In Frankreich sind die demokratischen Überzeugungen der extremen Rechten und Linken nicht unbedingt erkennbar, aber keiner denkt darüber nach, sie aus der französischen Demokratie auszuschließen. Dank der Demokratie sind alle Parteien, die autoritäre Ideologien verfolgen, integriert oder marginalisiert worden. Wenn man uns also umerziehen will, muss man für uns einen Platz in der Demokratie finden."
Obgleich viele Beobachter den politischen Islam mittlerweile auf dem Rückzug sehen,