Einleitung
Das Jahr 1992 und der Ort Rio de Janeiro markieren einen Höhepunkt für Nicht-Regierungsorganisationen (NRO). Das Ende des Kalten Krieges befreite den Blick für die neuen globalen Herausforderungen, voran den Schutz der Umwelt und den Kampf gegen Armut. Der Zusammenbruch des Staatssozialismus und eine Hochkonjunktur für multilaterale Politik ließen manche das Ende des Nationalstaats einläuten. Für nichtstaatliche Akteure schienen sich ganz neue Spielräume zu eröffnen. Die von den politischen Bewegungen Osteuropas maßgeblich beeinflussten Systemwechsel in ihren Ländern weckten darüber hinaus euphorische Erwartungen an zivilgesellschaftliche Kräfte. Durch den Süden, befreit von Stellvertreterkriegen und blockpolitisch gestützten Despoten, wehte der wind of change. Menschenrechte, Partizipation, Demokratisierung wurden überall propagiert.
In Rio de Janeiro kulminierten diese Trends, und die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) wurde zum "Erdgifel" hochstilisiert. Über 1 400 NRO entsandten Delegationen. Zum ersten Mal versammelten sich unter den hochinteressierten Augen der Weltöffentlichkeit so viele zivilgesellschaftliche Akteure wie nie zuvor aus fast allen Ländern der Erde zu einem "Globalen Forum" und feierten sich und eine erhoffte neue Ära der Weltpolitik. Auch in Deutschland, wo das NRO-Forum "Umwelt und Entwicklung" eine sehr positive Resonanz unter entwicklungspolitischen und umweltpolitischen NRO fand, schwebten die Erwartungen in ungekannten Höhen.
Zehn Jahre nach Rio ist die Euphorie verflogen. Die NRO, auch in Deutschland, zeigen sich deutlich ernüchtert - über die Chancen zu einem umfassenden globalen Politikwandel ebenso wie über ihre eigenen Möglichkeiten, dazu einen Beitrag zu leisten. Daher an dieser Stelle eine kritische Zwischenbilanz: Welche Merkmale kennzeichnen die deutsche entwicklungspolitische NRO-Landschaft heute? Welche Trends der vergangenen zehn Jahre sind für NRO bedeutsam? Und: Vor welchen zentralen Herausforderungen stehen NRO? Der Beitrag rückt diese Fragen ins Zentrum und konzentriert sich dabei auf entwicklungspolitische NRO in Deutschland.
I. Zivilgesellschaftliche Nord-Süd-Arbeit in Deutschland
1. Organisationen: Wenige Elefanten, viele Ameisen
Die Diskussion um die Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements auch im Entwicklungsbereich verstellt den Blick für die institutionellen Realitäten: Zwar gibt es mehrere tausend Initiativen und Kleinstorganisationen, die sich in Deutschland für Entwicklungspolitik, Menschenrechte im Süden, Nord-Süd-Ausgleich usw. engagieren.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterscheidet drei Organisationstypen von NRO nach ihrer gesellschaftlichen Verortung:
- die parteinahen politischen Stiftungen;
- die kirchlichen Werke (vor allem Misereor und Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe sowie Brot für die Welt und Evangelischer Entwicklungsdienst);
- die freien Träger (darunter z. B. Deutsche Welthungerhilfe, Kindernothilfe und Terre des Hommes).
2. Funktionen: Zwischen Mutter Teresa und Robin Hood
Die großen deutschen Entwicklungs-NRO sind fast ausschließlich Ende der fünfziger bzw. in den frühen sechziger Jahren entstanden (Misereor, Brot für die Welt, Deutsche Welthungerhilfe u. a.). Nach weitgehend gelungenem Wiederaufbau in Deutschland weitete sich der Blick über die eigenen Grenzen hinaus. Nomen est omen: Die großen deutschen NRO standen zunächst ganz im Zeichen der mildtätigen, sich erbarmenden Hilfe für Menschen in Hunger und Not. Seit den späten sechziger Jahren wuchs dann die Erkenntnis einer stärker entwickelungspolitischen Arbeit. Internationale Kontakte - vor allem Begegnungen mit selbstbewusst auftretenden Vertretern der unabhängig gewordenen früheren Kolonialstaaten -, die Professionalisierung der Mitarbeiter, aber auch die seinerzeit vorherrschende entwicklungspolitische Ideologie - die Dependenztheorie hatte die Modernisierungstheorie zumindest im Denken vieler zivilgesellschaftlicher Akteure abgelöst - führten zu programmatischen Veränderungen. Nicht mehr die karitative Arbeit sollte die Aktivitäten der großen NRO allein bestimmen, sondern die strukturverändernde Arbeit im Süden (wie auch im Norden, hier durch entwicklungspolitische Bildungs- und Lobbyarbeit) gewann an Bedeutung.
40 Jahre nach der Gründungsphase der wichtigsten deutschen Entwicklungs-NRO sind deren Aufgabenfelder und Funktionen nach wie vor weit gespannt: Noch immer nimmt die Not- und Katastrophenhilfe einen weiten Raum ein. Daneben gibt es eine Reihe von NRO, die sich langfristig in "klassischen" entwicklungspolitischen Feldern engagieren: 62 Prozent der deutschen NRO finanzieren Projekte im Bildungssektor der Entwicklungsländer, 55 Prozent im Gesundheitsbereich.
Neben der Projekt- und Programmarbeit in traditionellen Feldern hat die explizit politische Dimension der NRO-Arbeit deutlich zugenommen. Die Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteuren in Demokratisierungsprozessen oder die Unterstützung für menschenrechtliche Arbeit im Süden gehören heute für viele NRO zum normalen Projektportfolio. Auch in der Inlandsarbeit ist der politische Akzent wichtiger geworden: Zum einen kann die entwicklungspolitische Bildungsarbeit auf eine lange Tradition zurückblicken; zum anderen haben politische Kampagnen an Bedeutung gewonnen (die Themen reichen von Apartheid/Rassismus über Landminen und Kinderarbeit bis hin zu Verschuldung und Welthandel). Anders als noch vor 15 oder mehr Jahren gibt es außerdem heute eine Reihe von kleinen NRO, die ihre Nord-Süd-Arbeit ausschließlich auf politische Aktivitäten in Industrieländern richten, darunter z. B. Germanwatch, WEED oder FIAN.
Zusätzlich zu den bisher erwähnten traditionellen NRO haben sich in jüngster Zeit globalisierungskritische Gruppen, die sich im Umfeld der Proteste gegen die neoliberal geprägte Globalisierung organisierten, institutionalisiert und nehmen zunehmend die Form von Nichtregierungsorganisationen an. Ein Beispiel für diesen funktional neuen NRO-Typus ist die NRO Attac. Ihr wird gegenwärtig große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Durch Mitglieder- oder gar Mitarbeiterzahlen, verfügbare finanzielle oder andere Ressourcen ist diese besondere mediale Beachtung jedoch nicht gerechtfertigt. Auch ist nicht erkennbar, dass Attac besonders ausgefeilte und praxistaugliche politische Antworten auf Probleme der Globalisierung bieten könnte. Die Aufmerksamkeit, die der Organisation zuteil wird, ist in beträchtlichem Maße darauf zurückzuführen, dass Medienvertreter händeringend nach "Sprechern einer aktionistischen globalisierungskritischen Bewegung" suchen, die ihr (bewusst?) missverständliches Namenskürzel offenbar verspricht.
3. Finanzierung: Die Spendenbereitschaft ist ungebrochen
Mit ihren bisherigen entwicklungspolitischen Strategien fahren die NRO bislang institutionell recht gut. Die Bereitschaft der Deutschen, für Entwicklungshilfe zu spenden, ist ungebrochen. So erzielten deutsche NRO im Jahre 1999 mit 1,8 Milliarden DM Einnahmen aus Spenden und sonstigen Eigenmitteln ein neues Spitzenergebnis. Seit den sechziger Jahren steigen die Einnahmen kontinuierlich.
4. Verhältnis zur Bundesregierung: langfristig entspannt, gegenwärtig wieder zunehmend distanzierter
Die umfangreichen öffentlichen Mittel für gesellschaftspolitisch bedeutsame nichtstaatliche Institutionen verdeutlichen eine enge Kooperation zwischen Regierung und großen NRO. Diese hat Tradition, wurden doch schon Anfang der sechziger Jahre staatliche Gelder insbesondere den Kirchen zugewiesen. Das Verhältnis zwischen den großen Entwicklungs-NRO und der Bundesregierung war im Grunde über die gesamte Periode seither kooperativ, auch wenn die zunehmende politische Inlandsarbeit vor allem zu außenwirtschaftlichen Themen gelegentlich zu Verstimmungen führte. Zwar gibt es dazu bis heute unterschiedliche Positionen, doch hat sich eine kooperations- und kommunikationsbereite Haltung der Bundesregierungen auch kritischen Stimmen gegenüber als kluge Taktik erwiesen. Zudem entwickelten sich in den neunziger Jahren die politischen Positionen insbesondere der großen NRO überwiegend gemäßigter und politisch ausgeglichener als in früheren Jahren. Die zunehmende Kooperation in den vergangenen zehn Jahren - zum Beispiel im Kontext der Weltkonferenzen - tat ein Übriges, um das Verhältnis zwischen Bundesregierung bzw. BMZ und den großen NRO zu entspannen. Ob dabei von der den NRO zugeschriebenen watch-dog-Funktion einiges oder gar vieles auf der Strecke blieb, wie kleinere NRO gelegentlich kritisch anmerken, ist eine spannende, aber bislang nicht untersuchte Frage.
Im vierten Jahr nach der rot-grünen Regierungsübernahme ist die langfristige Entspannung zumindest in Teilen der entwicklungspolitischen NRO-Community Rückzug und Enttäuschung gewichen. Die zuvor jahrelang auf eine künftige rot-grüne Regierung projizierte Erwartung, sie könne auch in der Entwicklungspolitik einen signifikanten Politikwechsel einleiten, wurde nach 1998 nicht realisiert. Im Gegenteil: Die NRO waren geschockt, als der BMZ-Haushalt überdurchschnittliche Kürzungen der rot-grünen Regierung hinnehmen musste. Auch NRO-Proteste gegen den als Wortbruch empfundenen Kurs konnten daran nichts ändern. Die BMZ-Leitung argumentiert, der Ressort-Etat (Einzelplan 23) könne nicht allein als Maßstab ihrer Politik gelten und verweist insbesondere auf die beim Kölner G-7-Gipfel 1999 beschlossenen Schuldenerlasse, die ihr Verdienst seien.
Auch dieses Argument führt bei NRO jedoch zu Verärgerung. Zum einen waren die Beschlüsse von Köln ganz wesentlich ein Erfolg der NRO-Kampagnen in Großbritannien und Deutschland.
II. Wichtige Trends der vergangenen zehn Jahre
1. Global Governance: NRO sammelnErfahrungen
Die Konferenz in Rio 1992 war für deutsche NRO eine wichtige Erfahrung. Schon im Vorfeld hatte es zahlreiche Veranstaltungen und Veröffentlichungen gegeben. In Rio selbst waren immerhin knapp 20 NRO bzw. NRO-Netzwerke aus Deutschland vertreten. Die Bundesregierung nahm dieses Engagement sehr wohl war. Es kam während der UN-Konferenz zu zwei Treffen zwischen deutschen NRO-VertreterInnen und der offiziellen Regierungsdelegation. Seit der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 haben VertreterInnen deutscher NRO auch als offizielle Mitglieder der deutschen Delegation an den großen Weltkonferenzen teilgenommen. Schrittweise sammelten sie Erfahrungen auf diesem neuen Parkett. Beide Seiten nehmen die Kooperation im Rahmen der Weltkonferenzen der neunziger Jahre rückschauend allerdings mit gemischten Gefühlen wahr:
2. Vernetzung: Deutsche NRO kooperieren stärker
Insgesamt hat die Vernetzung deutscher Entwicklungs-NRO in mehrfacher Hinsicht deutlich zugenommen:
- Internationale Vernetzung: Deutsche Entwicklungs-NRO sind heute wesentlich besser international vernetzt als noch vor 15 Jahren. Die Teilnahme an UN-Weltkonferenzen sowie deren mehrjährige Vor- und Nachbereitungsprozesse sind dafür ein Grund. Ferner haben sich auf europäischer Ebene mehrere Netzwerke unter Beteiligung deutscher NRO gegründet, so EUROSTEP und EURODAD, die im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bzw. im Problemfeld Verschuldung und Strukturanpassung aktiv sind und NRO aus EU-Ländern vernetzen.
- Intersektorale Vernetzung: Führten Entwicklungs-NRO über Jahrzehnte ein Eigenleben in ihrem Politikfeld, so haben auch hier wieder die Weltkonferenzen dazu geführt, dass heute Entwicklungs-NRO z. B. mit deutschen Wohlfahrtsverbänden kooperieren (und sich über Weltsozialpolitik und/oder die Auswirkungen von Globalisierung auf Arme im Süden wie im Norden austauschen) oder mit Umwelt-NRO gemeinsame Kampagnen durchführen (z. B. zur Reform der Hermes-Ausfuhrbürgschaften, die sowohl sozial wie auch ökologisch oft negative Folgen zeigen).
- Intrasektorale Vernetzung: Schließlich ist die Vernetzung der Entwicklungs-NRO untereinander ein wichtiger Trend der vergangenen Jahre. Schon seit den siebziger Jahren waren lose Netzwerke entstanden (z. B. der Bensheimer Kreis der privaten Träger). Diese alten Netze bezogen jedoch immer nur einen Teil der Entwicklungs-NRO ein. Überdies verfügten sie in keinem Fall über eine handlungsfähige und gefestigte Struktur, etwa mit hauptamtlich besetzten Büros. 1995 kam es zur Gründung des Verbandes Entwicklungspolitik deutscher NRO (VENRO), dem heute etwa 100 Organisationen angehören, darunter auch regionale NRO-Netze mit zahlreichen lokalen Initiativen.
3. Kampagnen: Einzelne Erfolge ermutigen
In ihrer politischen Inlandsarbeit haben deutsche Entwicklungs-NRO in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte im Kampagnenbereich gemacht. Schon in der Anti-Apartheid-Bewegung waren eine Reihe von NRO aktiv. Auch die Verschuldungssituation der Entwicklungsländer bot in den achtziger Jahren eine Reihe von Ansatzpunkten. Erst in den neunziger Jahren aber wurde das Kampagnen-Instrumentarium (bestehend jeweils aus einer kohärenten Strategie mit Elementen der Öffentlichkeits-, Bildungs-, Mobilisierungs- und Lobbyarbeit) konsequent angewendet, teilweise sehr erfolgreich. So hat die deutsche Kampagne gegen Landminen einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der internationalen Kampagne geleistet, die Ende der neunziger Jahre mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt wurde. Auch die bereits erwähnte Entschuldungskampagne, die 1999 zu dem bisher weitreichendsten Beschluss über Schuldenerlasse zugunsten ärmster Länder führte, war sehr erfolgreich.
4. Auslandsarbeit: Das Heiligenbild bröckelt
NRO wurden zu Beginn der neunziger Jahre auch in der konkreten Entwicklungszusammenarbeit im Süden als neue Hoffnungsträger angesehen, nachdem die staatliche Entwicklungspolitik zunehmend weniger überzeugen konnte. Allerdings gab es schon frühzeitig Stimmen, die ihre erheblichen Bedenken bei der Vorstellung anmeldeten, NRO könnten sich generell als die qualifizierteren Entwicklungsagenturen erweisen. "NRO sind anders, aber keineswegs besser!", resümierte Manfred Glagow schon vor Jahren, nachdem er komparative Vorteile der NRO aufgezeigt (z. B. ihre größere Nähe zu armen Bevölkerungsgruppen), aber auch Schwachpunkte benannt hatte.
Kritische Anfragen an die Auslandsarbeit der NRO sind seither regelmäßig öffentlich geäußert worden. Gerade in jüngster Zeit wurden auch in Deutschland eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, die die Leistungsfähigkeit von NRO-Arbeit im Süden - d. h. der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Entwicklungsländern in Kooperation mit ihren Partnerorganisationen in Deutschland - deutlich in Frage stellten.
III. Zentrale Herausforderungen
Ein Jahrzehnt nach der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung, die einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte zivilgesellschaftlicher Akteure markierte, ist die damalige Euphorie Rückzügen in die eigenen, überschaubaren Arbeitsnischen oder gar Enttäuschung gewichen. Diese Reaktionen sind jedoch gefährlich, sie könnten den Rückfall in die Irrelevanz einleiten. Wollen die deutschen Entwicklungs-NRO ihren Wirkungsgrad hingegen erhöhen, müssen zentrale Herausforderungen bedacht und gemeistert werden. Dazu im Folgenden vier Thesen:
1. Deutsche Entwicklungs-NRO sollten selbstbewusst auftreten, denn zivilgesellschaftliche Akteure sind im Politikfeld der Nord-Süd-Kooperation nötiger denn je. Nicht nur haben sich die globalen Problemlagen seit 1992 weiter konkretisiert; die Kompetenz staatlicher Akteure, diese hinreichend zu bearbeiten, wird durch kritische Töne gegenüber NRO nicht größer. Zivilgesellschaftliche Akteure können, um mit Jürgen Habermas zu argumentieren, nicht auf die formal institutionalisierte demokratische Legitimation verweisen (und auch aus anderen Gründen nicht staatliche Aufgaben übernehmen). Aber: Ihre demokratische Legitimation leitet sich daraus ab, als gesellschaftliche Sensoren und gesellschaftliche Stimmen den staatlichen Akteuren und legitimierten Machtausübenden Entscheidungsorientierungen zu geben und sie zu kontrollieren.
2. Deutsche Entwicklungs-NRO sollten Prioritäten setzen; sie sollten ihre Kräfte bündeln und zuvörderst die weltweite Armut bekämpfen. Die Entscheidung des UN-Millenniumsgipfels 2000, die absolute Armut bis zum Jahr 2015 nachdrücklich und überprüfbar bekämpfen zu wollen, könnte zu einem der großen, wegweisenden Politikwechsel der Weltgemeinschaft werden. Formal haben sich alle Staaten in Nord und Süd verpflichtet, dieses Ziel nach Kräften zu unterstützen. Tatsächlich aber hinkt die Realpolitik weit hinterher. Deutsche Entwicklungs-NRO könnten und sollten ihre Anstrengungen in den kommenden Jahren darauf richten, die Bekämpfung der absoluten Armut zu einer Priorität deutscher internationaler Politik zu machen. Eine entschiedene Lobby- und Kampagnenarbeit dafür ist nötig. Die Bundesregierung hat zwar die Millenniumsziele wortreich unterstützt, diesen Worten aber bislang keine nennenswerten Taten folgen lassen.
Ohne erhebliche zusätzliche finanzielle Ressourcen sind die 2015-Ziele nicht erreichbar. Einige Industrieländer (Skandinavien und die Niederlande) überschreiten das von der UN vorgegebene 0,7-Prozent-Ziel (Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt) seit langem. Andere (z. B. Irland und Großbritannien) haben sich verpflichtet, konkret überprüfbare Etaterhöhungen vorzunehmen. Deutsche NRO sollten die Bundesregierung massiv unter Druck setzen, deutlich mehr Mittel für die Armutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Aber NRO müssen auch ihre eigene Südpolitik unter dem Primat der Armutsbekämpfung neu ausrichten. Ein Beispiel wäre die breite Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Süden bei der gegenwärtig in vielen Ländern begonnenen Ausarbeitung von nationalen Armutsbekämpfungsstrategien.
3. Deutsche Entwicklungs-NRO sollten mutiger und professioneller Lobbyarbeit betreiben. Die Lobbyarbeit deutscher Entwicklungs-NRO gegenüber der Bundesregierung muss deutlich ausgeweitet werden. NRO verlieren ihre Glaubwürdigkeit - schlimmer noch: ihre Relevanz -, wenn die Lobbyarbeit weiter so stiefmütterlich behandelt wird wie bisher. Lediglich einige kleinere NRO wie WEED und Germanwatch sowie wenige der großen NRO (voran Misereor und Terre des Hommes) betreiben mit allerdings sehr geringen finanziellen und personellen Mitteln politisch einflussnehmende Arbeit. In kaum einer größeren Entwicklungs-NRO sind auch nur ein Prozent der Mittel und des Personals für Lobbyarbeit vorgesehen. Nicht wenige große NRO haben gerade einmal ein oder zwei MitarbeiterInnen mit dieser Aufgabe betraut.
4. Deutsche Entwicklungs-NRO sollten ihre Anstrengungen verstärken, für Solidarität und Nord-Süd-Kooperation zu werben und Menschen das Verständnis für diese Themenzusammenhänge zu erschließen. Dies aber erfordert in einer immer komplexer werdenden Welt substantielle Mittel und Maßnahmen. Deutsche NRO geben weiterhin nur Bruchteile ihrer Gelder für die Bildungsarbeit aus. Schlimmer: Dass sie zwar jährlich viele hundert Millionen staatliche Zuschüsse für ihre Entwicklungsarbeit kassieren, davon aber kaum mehr als nur ein halbes Prozent für die entwicklungspolitische Inlandsarbeit vorgesehen ist, legt die Prioritäten auf Seiten der NRO wie auf Seiten des BMZ offen - Prioritäten, die auf beiden Seiten nicht zu der Behauptung passen, die entwicklungspolitische Inlandsarbeit habe große Bedeutung.
Deutsche Entwicklungs-NRO stehen - zehn Jahre nach Rio 1992 - an einer Wegscheide: Sie können in der bequemen, aber letztlich irrelevanten Nische kleinteiliger "Projektitis" verharren. Sie könnten aber auch ihren spezifischen und potentiell äußerst wirkungsvollen Beitrag in einer zunehmend von nichtstaatlichen Akteuren mitgestalteten Welt leisten. Dieses allerdings erforderte, nach den Phasen der Euphorie und der Ernüchterung zu einer ernsthaften Erneuerung von Zielorientierungen und Strategien zu kommen.