Einleitung
Die meisten Publikationen über Afghanistan seit 1978 erwecken den Eindruck, als ob die Völker Afghanistans streng religiöse Islamisten
Es ist eine historische Tatsache, dass der Islamismus in Afghanistan keine Tradition hat. Alle Antikolonialkriege des 19. und 20. Jahrhunderts gegen den britischen Imperialismus wurden nicht unter islamischer, sondern unter nationaler Flagge geführt. Der Islamismus in Afghanistan ist ein historisch neues Phänomen, unmittelbar beeinflusst von der ägyptischen Moslembrüderschaft, die 1928 von dem Lehrer Hasan Al Banna gegründet worden war und mit der kulturellen und religiösen Tradition sowie dem Leben des afghanischen Volkes nicht viel gemein hat. Er ist eine nach Kabul exportierte Ideologie des ägyptischen Kleinbürgertums.
I. Islamische Bewegungen in Afghanistan bis 1978
Um die "Talibanisierung" Afghanistans besser einordnen zu können, ist es sinnvoll, auf die Geschichte des Islamismus seit Anfang der sechziger Jahre in Afghanistan einzugehen. Die Gründung islamistischer Gruppen in Afghanistan stand im Zusammenhang mit der Einleitung innenpolitischer Reformen, als deren Folge am 1. Oktober 1964 die absolutistische in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt wurde. Obwohl das von beiden Häusern des Parlaments verabschiedete Parteiengesetz von König Saher Schah nie in Kraft gesetzt wurde,
Während des Parlamentswahlkampfes 1965 ermordeten die Islamisten Mitglieder der DVPA.
Infolge der Politisierung der innerafghanischen Verhältnisse schloß sich die führende Geistlichkeit des Landes, die in den Provinzen gleichzeitig zu den einflussreichen Großgrundbesitzern gehörte, den Islamisten an. Im Sommer 1970 wurde unter der Führung von Großmullah Faisanulhaq Faisan nach einer großen Demonstration in der Kabuler Zentral-Moschee eine mehrwöchige Kundgebung durchgeführt. Sowohl die Demonstration als auch die Kundgebung waren zunächst gegen die Linken gerichtet. Als mehrere Redner die Regierung zu kritisieren begannen, wurde die Kundgebung mitten in der Nacht von der Polizei aufgelöst. Diese Aktion der Islamisten kann als erste Politisierungsmaßnahme mit weit ausstrahlender Wirkung bezeichnet werden. Nach der Ausrufung der Republik am 17. Juli 1973 wurden bald Pläne zur Unterwanderung der Armee durch die Islamisten ausgearbeitet, um mittels eines Militärputsches einen islamischen Staat zu errichten.
Nach der Ausrufung der Republik Afghanistan und der Hinrichtung Faisans wurde die Lage für die Islamisten prekär. Ihre Führung verließ das Land, ihre Zentrale wurde nach Peschawar verlagert. Dort wurden sie von den pakistanischen Islamisten, vor allem der "Jamiat Ulema Islam" unterstützt. Ihre geheimen Operationen, die einen Aufstand in Afghanistan herbeiführen sollten, wurden mit tatkräftiger Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes durchgeführt. Als diese Aktivitäten erfolglos blieben, griffen die Islamisten Polizeigarnisonen an oder terrorisierten Repräsentanten des Daud-Regimes wie im Falle Chorams. Nach dem April-Aufstand 1978 durch in der UdSSR ausgebildete Offiziere und dem Sturz des Daud-Regimes stießen weitere, später als Modjahedin bekannt gewordene Gruppierungen zu den bereits von Pakistan aus operierenden Islamisten.
II. Von der Republik zum Islamischen Staat
Die prosowjetische Regierung begann 1978 mit der Realisierung von ersten Reformmaßnahmen wie der Bodenreform, der Regelung von Ehe- und Scheidungsangelegenheiten und der Alphabetisierung.
In der Summe führten diese Maßnahmen zu einer Distanzierung der Bevölkerung gegenüber der Regierung, die von den Führern der Modjahedin geschickt ausgenutzt wurde, um den aktiven Widerstand auszulösen. Hier ergab sich für die Islamisten ein optimaler Ansatzpunkt, sie konnten die Unzufriedenheit der Bevölkerung sowie die vermeintliche Bedrohung ihrer Religion für die eigenen Ziele instrumentalisieren. Großgrundbesitzer, Stammesführer und Geistlichkeit, die sich auch als Händler und Spekulanten betätigten, waren von den Reformmaßnahmen der Regierung unmittelbar betroffen. Sie gingen ins Exil und führten von Pakistan und Iran aus den organisierten Widerstand, wobei sie als Führer der verschiedenen Modjahedingruppen sowohl aus ideologischen als auch aus ökonomischen Gründen gegen die linksorientierte Regierung kämpften. Nicht nur die Bodenreform, sondern auch die Alphabetisierung von Männern und Frauen sowie die Verbesserung der Rechtsstellung der Frauen wollten sie mit allen Mitteln verhindern. Sowohl Mitglieder der Kommission zur Durchführung der Bodenreform als auch viele Lehrerinnen und Lehrer der Alphabetisierungskurse wurden in der Folge ermordet. Ende Dezember 1979 führte die prekäre Lage der Regierung zur sowjetischen Intervention in Afghanistan.
Seit Ende des Kalten Krieges ist bekannt geworden, dass die afghanische Regierung die UdSSR insgesamt 21 Mal um Hilfe gebeten hat.
Die sieben erwähnten Widerstandsgruppen erzielten neben massiver materieller und personeller Unterstützung vor allem seitens der USA und Saudi-Arabiens ihre riesigen Einnahmen u. a. aus dem Anbau von und dem Handel mit Drogen. "Der Glanz der Freiheitskämpfer ist längst verblasst. In zwölf Jahren Exil sind ihre politischen Führer erfolgreiche Unternehmer geworden, sie gelten heute als die reichsten Afghanen überhaupt. Einigen wird nachgesagt, sie hätten Rauschgifthandel in großem Stil betrieben. Denn die Modjaheddingebiete Afghanistans sind ein Paradies für den Anbau von Mohn und die Weiterverarbeitung zu Heroin. In Peschawar ist es nicht schwer, zu erfahren, wo die einzelnen ihr Geld angelegt haben sollen: Gulbudin Hekmatyar hat Häuser und Geschäfte in Karatschi und Malaysia. Mohammed Junes Khalis hat viele Busse, Motorrikschas und Geschäfte in ganz Pakistan. Gailani hat Häuser und Geschäfte in London und den USA. Modjadiddi hat Häuser in den USA und Australien, Rabbani hat Häuser in Frankreich und den USA, Sayaff hat Immobilien in Kuwait und Australien, Maulavi Mohammadi hat angeblich alles in bar und schläft auf seinem Geld."
Die Modjahedin errichteten in den Flüchtlingslagern Pakistans entlang der Grenze zu Afghanistan ein streng islamistisches Regiment. Lange bevor sie ihre rückständige Frauenpolitik auch innerhalb Afghanistans durchsetzen konnten, war diese den afghanischen Frauen in den Flüchtlingslagern, besonders in Pakistan, aufgezwungen worden.
Groß angelegte Offensiven der Modjahedin zur Eroberung der ostafghanischen Provinzhauptstadt Djalal Abad im März 1989, an denen mindestens 20 000 Mann teilnahmen, "mit Panzern, schwerer Artillerie und Raketenwerfern" ausgerüstet und "unterstützt von arabischen Freiwilligen, angeleitet vom pakistanischen Geheimdienst"
Nachdem die Modjahedin die Herrschaft in Kabul übernommen hatten, war eine ihrer ersten Maßnahmen die Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Das Oberste Gericht Afghanistans hatte eine Verordnung über Frauenkleidung "Ordinance on Women's Veil" erlassen, wonach Frauen gezwungen wurden, ihren ganzen Körper mit einem langen Schleier, einem "Tschaderi", auch "Buqrah" genannt, zu verhüllen.
Mit der Machtübertragung an die Islamisten kehrte der vom Volk erhoffte Frieden jedenfalls nicht zurück. Wegen der Priorität eigener politischer und ökonomischer Interessen gelang es diesen nicht, das Land gemeinsam zu regieren. Im Gegenteil, der Krieg wurde nun unter ihnen selbst mit äußerster Brutalität fortgesetzt. Die Weltöffentlichkeit hat dies kaum wahrgenommen, aber "die letzten Nachrichten aus der afghanischen Hauptstadt Kabul lassen selbst den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina beinahe als harmlosen Konflikt erscheinen: 3 000 bis 4 000 Tote, 200 000 Flüchtlinge, eine Stadt ohne Wasser, Strom und Lebensmittel"
Die Islamisten registrierten dies. Da sie befürchteten, Einfluss und Autorität bei der Bevölkerung ganz zu verlieren, ersetzten sie die "islamische" erstmals durch die "Nationalitäten-Karte". Der Krieg wurde nun unter der Flagge des jeweiligen Stammes bzw. der Volksgruppe unvermindert fortgeführt. Das Ziel, die völlige Kontrolle des Landes, die eine Öffnung der Handelswege von Pakistan nach Mittelasien ermöglicht hätte, war auch nach über zwei Jahren Machtkampf der Islamisten nicht erreicht und schien weiter entfernt denn je. Deren Versagen stand im Widerspruch zu den politisch-ökonomischen Interessen ihrer ausländischen Verbündeten. Denn diese wünschten ein mit den USA und Pakistan eng kooperierendes Regime in Afghanistan, das stabile politische Verhältnisse schafft, um die Interessen der US- und der pakistanischen Wirtschaft in der Region des Mittleren Ostens - insbesondere in den mittelasiatischen Republiken - durchzusetzen. Damit war die Geburtsstunde für die Taliban als eigenständige Kampfeinheit auf dem Kriegsschauplatz Afghanistan gekommen.
III. Die Talibanisierung Afghanistans
Obwohl die Taliban erst im September 1994 öffentlich in Erscheinung traten, wurden sie nach Angaben von General Aslam Beg, dem ehemaligen Generalstabschef Pakistans, schon 1985 im Nordosten Afghanistans als kleinere Kampftruppe aufgestellt. Sie waren zunächst dort an den "Madrassa" (Koranschulen) religiös-fundamentalistisch und militärisch ausgebildet worden. Der Afghanistanexperte Olivier Roy beobachtete schon im Sommer 1984 die Aktivitäten an den Fronten der Taliban in den südlichen Regionen Afghanistans: Orusgan, Sabul und Qandahar. Dort "handelte (es) sich im Prinzip um die Umwandlung einer ländlichen Madrassa in eine militärische Front"
Nicht die Beendigung unhaltbarer bzw. anarchischer Zustände innerhalb Afghanistans, wie vielfach behauptet worden ist, war der Hintergrund für die Entscheidung, die Taliban als selbstständige militärische Formation im afghanischen Bürgerkrieg einzusetzen; ausschlaggebend war vielmehr Folgendes:
1. Im Frühjahr 1994 wurden die Führer der rivalisierenden Modjahedin vom Auswärtigen Ausschuss des US-Kongresses nach Washington zitiert. Ihnen wurde ein Plan vorgelegt zur Durchführung eines Pipelineprojektes von den in der Welt drittgrößten Reserven an Öl und Gas in Mittelasien durch Afghanistan zum Indischen Ozean. Das ihnen abgenommene Versprechen, sich so bald wie möglich zu verständigen und den Afghanistan-Konflikt friedlich zu beenden, wurde nie eingelöst. Daraufhin überfielen scheinbar aus dem Nichts entstandene, gut organisierte militärische Einheiten, nun als Taliban bekannt, von Pakistan aus im September 1994 die afghanische Stadt Qandahar. Dies war der erneute Versuch einer militärischen Lösung des Afghanistan-Konfliktes. Die historische Mission der Taliban wurde darin gesehen, ganz Afghanistan zu besetzen, um die Bedingungen für die Realisierung der ökonomischen, politischen und ideologischen Projekte der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens zu schaffen. Ein pakistanischer Stratege definierte Pakistans Interesse am Nachbarland wie folgt: "Am liebsten wäre uns eine Marionettenregierung in Kabul, die das ganze Land kontrolliert und gegenüber Pakistan freundlich eingestellt ist."
2. Hekmatjar, der "Super-Modjahed" der USA im Afghanistan-Konflikt, fiel durch seine antiamerikanischen Äußerungen und seine verbale Unterstützung Saddam Husseins während des Golfkrieges 1991 in Ungnade. Außerdem weigerte er sich kategorisch, die noch in seinem Besitz befindlichen Stinger-Raketen, die er während des Kampfes gegen afghanische und sowjetische Verbände erhalten hatte, an die USA zurückzugeben. Er nahm sogar einen direkten Affront gegen die USA in Kauf, indem er einige an den Iran verkaufte. Außerdem wollten die USA und Saudi-Arabien den ideologischen Einfluss Irans in Afghanistan eindämmen.
Die Errichtung eines Terrorregimes in Afghanistan durch die Taliban in einem bis dahin nie gekannten Ausmaß zeichnete sich insbesondere durch die weitere Verschärfung der von ihren Vorgängern eingeführten Einschränkungen für Frauen aus. Die Frauenverfolgung erreichte eine in der afghanischen Geschichte nie dagewesene Dimension und Brutalität. Sie wurde regelrecht zur Staatsdoktrin erhoben. Das Berufs- und Arbeitsverbot für Frauen, das Schulbesuchsverbot für Mädchen bedeuteten die vollständige Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben und den Ausschluss von jeglichem kulturellen Zugang. Dem gesamten afghanischen Volk beschnitt das Verbot u. a. von Musik, von Drachensteigen lassen, oder von Schachspielen, die Schließung der Badehäuser, die Einführung eines Bart- und Turbanzwanges für Männer, die Vernichtung von Kulturgütern die noch - wenn auch minimale - verbliebene Lebensfreude. Die Missachtung elementarster Menschenrechte, eine nie dagewesene Unterdrückung und Verfolgung ethnischer und religiöser Minderheiten, die Verhängung und Vollstreckung grausamster, mittelalterlich anmutender Strafen wie Handabhacken, Aufhängen, Steinigung etc. waren abschreckende Merkmale ihrer Herrschaft. Hinzu kam ihre völlige Unfähigkeit, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und im Gesundheitsbereich zu gewährleisten. Nur die Tätigkeit der anwesenden NGOs hat das Leben in Afghanistan vor dem Kollaps bewahrt. Dieses den Afghanen von außen aufgezwungene Regime hing am finanziellen Tropf Pakistans und Saudi-Arabiens. Ohne deren massive Unterstützung wäre es in relativ kurzer Zeit zusammengebrochen.
Obwohl die USA jeglichen Kontakt zu den Taliban geleugnet haben,
Wie die "Washington Post" meldete, haben sich Vertreter der USA und des Talibanregimes seit 1998 mindestens 20 Mal geheim getroffen. Das letzte Treffen fand nur wenige Tage vor dem 11. September 2001 statt.
IV. Fazit
Da die Taliban die in sie gesetzten Hoffnungen offensichtlich nicht erfüllen konnten, hatte das State Department Afghanistan schon seit Anfang des Jahres "als weltweit wichtigsten Terroristen-Sumpf"
Der damalige pakistanische Außenminister Naiz Naik, der an den geheimen Treffen 2000 und Anfang 2001 in einem Berliner Hotel teilgenommen hatte, erklärte in einem Interview, dass die USA im Juli 2001 angekündigt hätten, Afghanistan militärisch anzugreifen.
Hätten die USA das Angebot des sudanesischen Geheimdienstes vom Februar 1998 angenommen und ein Dossier von 300 Seiten über die Aktivitäten von Al Qaidah nicht ignoriert, wären möglicherweise sowohl die Attentate gegen die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam als auch die Anschläge von Washington und New York zu verhindern gewesen.
Obwohl die Taliban am 6. Dezember 2001 in ihrer Hochburg Qandahar kapitulierten und während die Bombardierung der von der CIA selbst gebauten Falle von Tora Bora im Osten Afghanistans weiterging, organisierten sich schon "gemäßigte" Taliban in Islamabad mit Unterstützung der verschiedenen pakistanischen Islamisten und der ISI zu einer "normalen" Partei. Diese stehe allen Taliban offen, verkündete ihr Vorsitzender Amin Modjadedi.
Afghanistan war immer wieder Opfer seiner geostrategischen Lage. Im 19. Jahrhundert war es Zankapfel der rivalisierenden Mächte Großbritannien und Russland, als es um die Vorherrschaft in dieser Region ging. Heute geht es in Afghanistan um mehr als um die von CIA und ISI unterstützten und ausgerüsteten Taliban, Ben Laden oder Al Qaidah. Der am 23. Juli 1997 in Islamabad unter der Ägide der US-Regierung unterzeichnete Vertrag über das 1 500 Kilometer lange Pipeline-Projekt von Daulatabad (Turkmenistan) nach Quetta und Multan (Pakistan) und weiter nach Neu-Delhi, die Grundlage für das Vorhaben der US-Firma Unocal und der saudischen Deltaoil durch Afghanistan, kann wahrscheinlich demnächst umgesetzt werden. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hatte Afghanistan kurzfristig seine brisante geostrategische Bedeutung verloren. Nach der Entdeckung der mittelasiatischen Rohstoffe bekommt das Land diese wieder zurück. Das lange vergessene Afghanistan wird wieder einmal zu einem Mittelpunkt der Weltpolitik.