I. Russland und die "Anti-Terror-Koalition"
Zahlreiche Stellungnahmen aus Politik, Militär, Politikberatung und Presse Russlands bedauerten und verurteilten zwar die Anschläge vom 11. September in New York und Washington, gleichzeitig wurde aber auch das ab 7. Oktober folgende militärische Vorgehen der USA gegen die Taliban in Afghanistan aus verschiedenen Gründen abgelehnt oder zumindest mehr als skeptisch kommentiert. Präsident Wladimir Putin zog wegen seiner durchaus wohlwollenden Einstellung ungeachtet einer anhaltend hohen Popularität vielfältige Kritik auf sich. So hieß es, dass er - wie auch sein Vorgänger Boris Jelzin und dessen erster Außenminister Andrej Kosyrew - gegenüber dem Westen zu kompromissbereit sei, obwohl dieser nach wie vor kein Interesse an einem starken und wohlhabenden Russland habe und alles tue, um seinen Einfluss in der Welt zu begrenzen. Putins Anschluss an die von den USA angeführte "Anti-Terror-Koalition" zeuge von der Abhängigkeit Russlands vom Westen und bestätige zudem, dass seine Prioritäten von außen bestimmt würden.
Der stellvertretende Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Staatsduma (Unterhaus des Parlaments), der "Demokrat" Alexej Arbatow, urteilte, dass die Mehrheit der russischen öffentlichen Meinung im Parlament, in den Massenmedien und im Militär Putins Kurs der passiven Unterstützung der USA gegen die Taliban nicht billige; er werde nur geduldet, und auch das könne durchaus in offene Ablehnung umschlagen. Motive dafür seien vor allem die NATO-Osterweiterung, das Vorgehen der Allianz gegen Jugoslawien 1999, die US-Absage an den Anti Ballistic Missile (ABM) Treaty und die fortdauernden Luftschläge gegen den Irak. "So lautet die allgemeine Frage: Warum sollte Russland nun den Amerikanern helfen?"
Eine vorbehaltlose Einordnung in die "Anti-Terror-Koalition" war auch für Putin keine Option; das wäre für die politischen und militärischen Eliten wie auch für die Öffentlichkeit Russlands gänzlich inakzeptabel gewesen. Eine Öffnung des russischen Luftraums für US-Militärmaschinen in Kampfeinsätzen oder eine Zurverfügungstellung von russischen Basen inner- oder außerhalb Russlands standen nie zur Diskussion, von aktivem militärischem Beistand für die USA ganz abgesehen. Manche Beobachter gewannen sogar den Eindruck, dass sich Russland von der "Anti-Terror-Koalition" lediglich deshalb nicht explizit distanziert, weil sie ein gutes Mittel sei, die eigene Intervention im nordkaukasischen Tschetschenien zu rechtfertigen.
Dagegen erscheinen der Irak und der Iran in Russland kaum jemals als Terror unterstützende und Massenvernichtungswaffen herstellende Staaten. Stattdessen heißt es, dass sie vom Westen (und vor allem den USA) zu Unrecht ausgegrenzt würden. Der Irak sei, so die allgemeine russische Lesart, ein Opfer der vom Westen initiierten und aufrechterhaltenen Sanktionen und anhaltender amerikanischer und britischer Luftangriffe. Gleichzeitig halten auch hochrangige Moskauer Repräsentanten den Irak für einen potenziell wichtigen politischen und wirtschaftlichen Partner Russlands, und zwar auch und gerade im Hinblick auf Rüstungszusammenarbeit und Waffengeschäfte. Folgerichtig lehnt Russland jede Ausdehnung des amerikanischen "Krieges gegen den Terror" auf den Irak, der als einziges Land die Anschläge vom 11. September offen begrüßt hatte, "scharf" ab.
Geheimdienste des Iran wurden im Westen immer wieder dringend verdächtigt, an Terroranschlägen beteiligt gewesen zu sein und fundamentalistische Terrororganisationen vor allem im Nahen Osten finanziell und logistisch zu unterstützen. Das ist allerdings in Russland kein Thema: Während es sich gegenüber dem Westen für eine Bekämpfung des Terrorismus aussprach, kam Anfang Oktober 2001 der iranische Verteidigungsminister Admiral Ali Schamchani nach Moskau, um über umfangreiche russische Waffenverkäufe und Militärkooperation zu verhandeln. Zudem ist Teheran ein guter Kunde der russischen Atomindustrie. Die engen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kontakte zum Iran werden in Moskau ungeachtet einer erheblichen antiislamischen Stimmung in den slawischen Teilen der Gesellschaft Russlands und beständiger Hinweise auf eine angebliche islamistische "Bedrohung aus dem Süden"
Ein Kurswechsel gegenüber Iran und Irak zeichnet sich nicht in Ansätzen ab, auch wenn (oder weil) die USA Russland einen solchen immer wieder nahe gelegt haben. Washington weist vergeblich darauf hin, dass seinen Erkenntnissen zufolge die beiden Staaten an atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen und entsprechenden Trägermitteln arbeiten. Russland beunruhigt eine solche Perspektive offenkundig wenig, und tatsächlich wäre es von einem allfälligen derartigen Potenzial der beiden Golfstaaten zuletzt bedroht: Zunächst hätten zweifellos Israel und der Westen (und vor allem die USA) ein Problem.
Negative Auswirkungen der Terroranschläge in den USA - die nicht nur in Moskauer Militärkreisen gerne "potenzieller Gegner" genannt werden und auf die sich zahlreiche Szenarien von Manövern der russischen Streitkräfte beziehen - auf Russland waren nicht erkennbar. Im Gegenteil ließen diverse Wortmeldungen Moskauer Politiker im September die Hoffnung auf eine Erweiterung des internationalen Einflusses Russlands auf Kosten der durch die Attentate vermeintlich geschwächten USA erkennen. Auch angesichts des Umstandes, dass sich der Westen sichtlich um eine Einbeziehung Moskaus in die "Anti-Terror-Koalition" bemühte, drängten zahlreiche russische Stimmen den Kreml, sich die weltpolitische Lage nach dem 11. September so weit wie möglich zunutze zu machen und eindeutige Forderungen zu erheben. An erster Stelle stand vielfach die Erlassung eines möglichst großen Teils der seinerzeit von Russland übernommenen Altschulden der UdSSR im Ausmaß von ca. 100 Mrd. US-Dollar oder wenigstens die Erstreckung der Rückzahlung auf einen sehr langen Zeitraum. Zudem fanden sich auf der russischen Wunschliste: Verzicht auf die zweite Welle der NATO-Osterweiterung oder, wenn das nicht erreichbar sein sollte, ihre Verzögerung und Begrenzung auf möglichst wenige Länder; Ende jeglicher westlicher Kritik am Vorgehen der russischen Streitkräfte gegen die Rebellen in Tschetschenien; möglichst intensive Einbindung Russlands in sicherheitspolitische Abläufe in NATO und EU - wenn möglich mit einem Vetorecht; Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO); Verzicht auf die US-Pläne für eine Raketenabwehr. Letzteres ist, wie erwähnt, bereits gescheitert, da Präsident George W. Bush im Dezember die Absicht bekannt gab, aus dem ABM-Vertrag aussteigen zu wollen. Dafür konnte Moskau andere Erfolge verbuchen: Washington sagte Unterstützung für eine russische WTO-Mitgliedschaft und eine Aufhebung des Jackson-Vanik-Amendments von 1974 zu; die EU verzichtete bei einem Gipfeltreffen mit Putin Anfang Oktober in Brüssel darauf, allgemein bekannte russische Verletzungen des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) zu thematisieren; und der Tschetschenienkrieg ist offiziell derzeit kein Thema mehr.
II. Usbekistan: Zweckbündnis mit den USA
Usbekistan ist mit ca. 25 Mio. Einwohnern die bevölkerungsreichste und militärisch relativ stärkste frühere Sowjetrepublik Mittelasiens.
Die Usbekische Sowjetrepublik war ein wichtiges - und mit einer entsprechenden Infrastruktur ausgestattetes - Hinterland für die schließlich gescheiterte sowjetische Militärintervention in Afghanistan (1979 - 1989) gewesen. Gegen Ende September 2001 verdichteten sich die Hinweise auf den Aufbau einer US-Militärpräsenz in Usbekistan. Schließlich wurde bekannt, dass zunächst ca. 1 000 US-Soldaten, Angehörige der 10. Mountain Division aus Fort Drum (Bundesstaat New York) sowie Spezialeinheiten, auf der Basis Chanabad stationiert sind.
Usbekische Offizielle waren nach dem 11. September in den internationalen Medien zunächst mit widersprüchlichen Aussagen zu der Frage zitiert worden, ob den USA vom Territorium Usbekistans aus ein militärisches Vorgehen gegen die Taliban gestattet werden könnte. Gegenüber US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der am 5. Oktober Taschkent besuchte, stellte Karimow dann klar, dass nur humanitäre Operationen sowie Such- und Rettungsaktionen zulässig sind.
Von der IBU, die eine "islamische Ordnung" in Mittelasien anstrebte, fühlte sich das offizielle Usbekistan massiv bedroht. Als Bombenanschläge am 16. Februar 1999 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent 16 Tote und über 100 Verletzte forderten, sprachen die usbekischen Behörden von Anschlägen auf Karimow und machten dafür die IBU verantwortlich. Karimow hatte zwar seit der Unabhängigkeit Ende 1991 die reiche islamische Kultur und Tradition Usbekistans für seine Politik des "state-building" nutzbar zu machen versucht, dabei aber eine strenge Kontrolle über die islamische Geistlichkeit ausgeübt und (angebliche oder tatsächliche) fundamentalistische Regungen mit harter Hand verfolgt. Solche machen vor allem im dicht besiedelten Fergana-Tal, an das auch Kirgisien und Tadschikistan angrenzen und das zweifellos eine Schlüsselregion für die Stabilität ganz Mittelasiens ist, immer wieder von sich reden.
Die IBU dürfte zur Zeit der Taliban-Herrschaft über Lager in den nordafghanischen Städten Mazar-i-Sharif und Kunduz verfügt haben; sehr wahrscheinlich bestanden auch Kontakte zu Usama bin Ladens Terrororganisation "al-Qaida". Die Angaben und Schätzungen über die personelle Stärke der IBU schwankten zwischen 300 und 3 000 Mann, wobei eine Nähe zur letztgenannten Zahl wahrscheinlich war.
Die Bevölkerung Usbekistans wie auch der anderen früheren Sowjetrepubliken Mittelasiens reagierte - im Unterschied zu den Prognosen zahlreicher Beobachter unter anderem in Russland - gelassen auf den Aufbau westlicher Militärkapazitäten in der Region; öffentliche Proteste oder gar gewaltsame Ausschreitungen wurden nicht bekannt.
Allerdings ist von außen nicht zu erkennen, ob das auf die Gleichgültigkeit bzw. Zustimmung der Bevölkerung zu Karimows Politik oder eher auf den omnipräsenten Polizei- und Geheimdienstapparat Usbekistans zurückgeht. Usbekistan hatte unmittelbar nach den ersten Nachrichten über eine sich intensivierende Militärkooperation mit den USA den Unwillen der Taliban auf sich gezogen, doch diese erwiesen sich als entschieden zu schwach, um mit mehr als nur Worten zu drohen.
III. Tadschikistan: Außenposten Russlands
Tadschikistan hatte von 1992 bis 1997 einen blutigen Bürgerkrieg erlebt, der durch eine Integration der früheren bewaffneten Opposition in die bestehenden staatlichen Strukturen beendet werden konnte. Das seit 1992 in der Hauptstadt Duschanbe etablierte Regime von Präsident Emomali Rachmonow hätte sich ohne militärische, politische und wirtschaftliche Unterstützung Russlands kaum behaupten können. Die kleine Armee der Regierung gilt als undiszipliniert und wenig effektiv, und manche Regionen des Landes befinden sich bis heute unter der Kontrolle von Warlords.
Das bettelarme Tadschikistan ist die einzige (über eine Strecke von 1 200 Kilometern) an Afghanistan angrenzende ehemalige Sowjetrepublik, die dem "Vertrag über kollektive Sicherheit" angehört; zudem unterhält Russland hier mit der 201. motorisierten Schützendivision sowie Grenztruppen an der Grenze zu Afghanistan seine letzte umfangreiche Militärpräsenz in Mittelasien. Die 201. Division wurde kurz nach den Anschlägen in den USA in Alarmbereitschaft versetzt und dann auch personell aufgestockt: Putin zufolge verfügte sie Anfang Dezember über 12 500 Mann, wozu noch 10 000 Grenzsoldaten kamen.
Nach dem 11. September kamen widersprüchliche Aussagen und Dementis angeblich oder tatsächlich gemachter Stellungnahmen tadschikischer Politiker und hoher Funktionäre zu der Frage, ob das Land sein Territorium für US-Militäreinsätze gegen Afghanistan zur Verfügung stellen könnte. Am 8. Oktober verlautbarte die Regierung in Duschanbe, dass sie den USA ihre Bereitschaft mitgeteilt habe, den Luftraum und "wenn das nötig sein sollte" auch Flughäfen zum Kampf gegen die Taliban zur Verfügung zu stellen.
IV. Kirgisien: Zwischen Moskau und Peking
Die kleine und wenig kampfstarke Armee der Regierung hatte erhebliche Schwierigkeiten, mit den Einfällen von IBU-Kämpfern nach Südkirgisien in den Sommern der Jahre 1999 und 2000 fertig zu werden. Präsident Askar Akajew, der in den letzten Jahren zunehmend autoritäre Züge an den Tag legte, lehnt sich außen-, sicherheits- und militärpolitisch stark an Moskau an; so ist Kirgisien Mitglied des "Vertrages über kollektive Sicherheit". Es war daher nicht überraschend, dass die Regierung in Bischkek vor einer Entscheidung über eine westliche Militärpräsenz Konsultationen mit Russland, aber auch mit China abhielt.
Am 6. Dezember 2001 stimmte das Unterhaus des kirgisischen Parlaments (ungeachtet der Ablehnung der prorussischen Kommunistischen Partei) der Nutzung des internationalen Flughafens Manas bei Bishkek, der als einziger des Landes größere Transportflugzeuge aufnehmen kann, durch westliches Militär für vorerst ein Jahr zu. Neben den USA hatten auch Kanada, Frankreich, Italien, Australien und Südkorea entsprechende Ansuchen gestellt. Keine geringe Rolle bei der kirgisischen Entscheidung dürfte der Umstand gespielt haben, dass - wie der Verkehrsminister bekanntgab - das Land 7 000 US-Dollar für jeden Start und jede Landung eines großen Flugzeuges erhalten wird. Am 18. Dezember trafen die ersten US-Transportmaschinen ein. Bis zum Ende der ersten Januarwoche waren über 200 amerikanische und andere westliche Soldaten in Manas einquartiert.
V. Kasachstans Angebote und Turkmeniens Zurückhaltung
Präsident Nursultan Nasarbajew verfolgt - nicht zuletzt aufgrund des großen russischen Bevölkerungsteils im Land (nach der letzten Volkszählung von 1999 30 Prozent) - eine unübersehbar "prorussische" Politik. Kasachstan nimmt daher an den meisten Initiativen Moskaus zur Intensivierung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen "Integration" in der GUS teil; es ist auch Teilnehmer des "Vertrages über kollektive Sicherheit". Nasarbajew bot sein Land wiederholt für Stationierungen von Militär der "Anti-Terror-Koalition" an. Bis Mitte Dezember 2001 wurden solche jedoch nicht bekannt.
Turkmenien, das eine über 740 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan teilt, hatte als einzige frühere mittelasiatische Sowjetrepublik relativ gute Beziehungen (wenngleich nicht auf diplomatischer Ebene) mit dem Talibanregime unterhalten. Der Wüstenstaat, der im Ausland in erster Linie durch die fünftgrößten Erdgaslagerstätten der Welt und einen bizarren Personenkult um den autoritären Präsidenten Saparmurad Nijasow auf sich aufmerksam macht, verweigerte den USA unter Hinweis auf seine von der UNO anerkannte Neutralität (dank der er auch zu Moskau Distanz halten kann) jegliche militärisch verwertbare Unterstützung. Aus der Hauptstadt Ashgabat hieß es, dass allfällige turkmenische Luft- und Landkorridore nur humanitärer Hilfe für die afghanische Bevölkerung dienen dürften.
VI. Russland und die westliche Militärpräsenz in Zentralasien
Moskau beansprucht die gesamte GUS - und daher auch das ehemals sowjetische Mittelasien - als sein ausschließliches "Interessengebiet", aus dem dritte Mächte so weit wie möglich fernzuhalten sind. Russland kritisiert daher traditionell heftig jeden Schritt der USA und anderer westlicher Länder, den es als Versuch ansieht, seinen Einfluss in der GUS zu relativieren oder die von ihm forcierte "Integration" der GUS-Staaten in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Militär, aber auch Kultur und Medien zu behindern.
Besonders sensibel reagiert Moskau traditionell auf militärpolitisch relevante Kontakte von GUS-Mitgliedern mit dem Westen, und in sicherheitspolitischen Grunddokumenten wie der "Konzeption für nationale Sicherheit" (Januar 2000) und der Militärdoktrin (April 2000) werden Militärbasen und -kontingente anderer Staaten nahe der Grenzen Russlands oder seiner Verbündeten offen als Bedrohung eingestuft.
Usbekistan (wo es kein russisches Militärpersonal gibt, obwohl Moskauer Stimmen seit Jahren keinen Zweifel daran lassen, dass man gerne "zurückkehren" würde) hatte vor diesem Hintergrund naturgemäß eine schlechte Presse in Russland. Ein bekanntes Moskauer Blatt beklagte, dass der dortige russische Einfluss "mit jedem landenden amerikanischen Flugzeug sinkt"
Putin ging Anfang Dezember nach eigenen Angaben aufgrund von Gesprächen mit Bush davon aus, dass die USA keine langfristigen Militäreinsätze in Mittelasien planen. Entsprechende Zusagen Washingtons an Moskau sind tatsächlich wahrscheinlich; das zeigt bereits der Umstand, dass sich die Führung Russlands mit Kritik an den USA in dieser Frage auffällig zurückhielt.
VII. Russland und die afghanischen Bürgerkriegsfraktionen
Russland betrachtete die Nordallianz als Puffer zwischen den Taliban und seinem Klienten Tadschikistan, d. h. seiner "Interessensphäre" in der GUS. Moskau hat seit 1996 - wie auch der Iran und Indien - die Nordallianz, die im September 2001 nur noch weniger als ca. 10 Prozent des Territoriums Afghanistans kontrollierte, mit über Tadschikistan laufenden Waffen- und Munitionslieferungen gegen die Taliban unterstützt. Felgenhauer wusste zu berichten, dass die russische Luftwaffe in der Vergangenheit Taliban-Stellungen zeitweise bombardiert hat
Noch wenige Tage vor dem militärischen Durchbruch der Nordallianz ab der zweiten Novemberwoche wollte kaum ein russischer Beobachter den USA einen Erfolg bei der Bekämpfung des Talibanregimes voraussagen. Stattdessen dominierte auch und gerade unter Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Krieges die Einschätzung, dass Washington große Verluste erleiden werde und "zwangsläufig" scheitern müsse. Die Ereignisse gingen über solche Expertisen allerdings rasch hinweg: Zwei Monate nach dem Beginn der US-Luftangriffe war das Talibanregime Geschichte. Angesichts dieses Erfolges der "Anti-Terror-Koalition" betonte man in Russland naturgemäß die Rolle seiner Waffenlieferungen, auch wenn diese fünf Jahre lang nicht hatten verhindern können, dass die Nordallianz auf ein immer kleineres Gebiet im Nordosten Afghanistans zusammengedrängt worden war. Dennoch kann kaum ein Zweifel bestehen, dass Moskau auch mit Hinweisen auf seine Waffenhilfe an die Nordallianz im Post-Taliban-Afghanistan versuchen wird, seinen Einfluss geltend zu machen. So meldete Außenminister Igor Iwanow einen klaren russischen Anspruch auf "aktive Teilnahme an der politischen Krisenregelung" in Afghanistan an.
Die Außenministerien Russlands und Tadschikistans sowie Verteidigungsminister Sergej Iwanow begrüßten die Ergebnisse der im November bei Bonn abgehaltenen Afghanistan-Konferenz, auch wenn der von Moskau favorisierte Anführer der Nordallianz, Burhanuddin Rabbani, abtreten musste: Er übergab seine Vollmachten am 22. De-zember an den neuen Ministerpräsidenten Hamid Karzai, einen als eher proamerikanisch geltenden Paschtunen. In dessen Übergangsregierung kommen von 29 Ministern 19 aus der Nordallianz (jetzt "Vereinigte Front"), in der die etwa ein Viertel der Bevölkerung Afghanistans stellenden ethnischen Tadschiken dominieren. Moskau setzt nun innerhalb der Nordallianz offenkundig auf die Tadschiken, da sie - zu Recht oder zu Unrecht - als eher skeptisch gegenüber den USA gelten. In Russland verbindet man vor allem mit dem Umstand, dass die für Sicherheit verantwortlichen Ressorts der Übergangsregierung von Tadschiken geführt werden, einige Hoffnungen: Yunis Kanuni wurde Innenminister, Abdullah Abdullah ist Außenminister, und General Muhammad Fahim, Nachfolger des kurz vor dem 11. September - sehr wahrscheinlich von "al-Qaida" - ermordeten Ahmed Shah Massud (ebenfalls ein Tadschike) als Militärkommandant der Nordallianz, fungiert als Verteidigungsminister. Fahim hat aus seiner Zeit als Mitarbeiter des Geheimdienstes KHAD des (1992 gestürzten) kommunistischen Regimes in Kabul bis heute gute Kontakte zu Militär und Geheimdiensten Russlands.
Auch General Abdul Rashid Dostum war ursprünglich für den KHAD, einen Ableger des sowjetischen KGB, tätig gewesen und erfreute sich nach dem Zerfall der UdSSR (Ende 1991) der Unterstützung Russlands und Karimows, auch wenn dieser - wenig glaubwürdig - noch Anfang Oktober 2001 eine Unterstützung für die Nordallianz in Abrede stellte. Seit September 2001 klingt jedoch in zahlreichen russischen Kommentaren unüberhörbare Skepsis gegenüber dem im Dezember zum stellvertretenden Verteidigungsminister Afghanistans ernannten Dostum durch, die sich aus dem russischen Eindruck erklärt, dass die USA innerhalb der Nordallianz die Usbeken (ca. 5 Prozent der Bevölkerung Afghanistans) begünstigen. Damit würden sich die zu den nordöstlich angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken bestehenden Bündnisbeziehungen (USA/Usbekistan und Russland/Tadschikistan) in die ethnischen Gruppen Afghanistans hinein fortsetzen.
VIII. Die Geopolitik des Pipelinebaus
Der amerikanische Konzern Unocal plante bereits zur Zeit der Taliban-Herrschaft eine Ölpipeline, die vom Süden Usbekistans über Turkmenien und Afghanistan bis zu einem Terminal an der pakistanischen Küste führen sollte, sowie eine Gasleitung von Chardschou (Turkmenien) über Afghanistan nach Multan (Zentralpakistan) und eventuell weiter nach Indien. Unocal musste diese Projekte Ende 1998 ad acta legen. Gründe waren die Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 (300 Tote und ca. 5 000 Verletzte), hinter denen die Regierung in Washington sofort den in Afghanistan ansässigen bin Laden vermutete, und die zunehmenden Proteste amerikanischer Frauenorganisationen gegen die Diskriminierung von Frauen durch die Taliban. Die heftige russische Kritik dürfte dagegen - wenn überhaupt - nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben: Moskau unterstellte Unocal und den USA generell, mit den Taliban zu kokettieren und Russland auch durch die Pipelineprojekte aus seinem "Interessenbereich" in Zentralasien verdrängen zu wollen.
Das "New Great Game" um Ressourcen und Einflusszonen in Zentralasien und im Kaspischen Becken hatte damit eine neue Dimension gewonnen. Russland will möglichst viele Öl- und Gaspipelines über sein Staatsgebiet leiten und initiiert politische und propagandistische Kampagnen gegen alle Pläne für Pipelinerouten, die es umgehen würden. Das zeigt sich auch am Beispiel des am Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul im November 1999 vertraglich fixierten Projekts einer ca. 3 Mrd. US-Dollar teuren und 1 750 Kilometer langen Erdölleitung von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über die georgische Kapitale Tiflis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, die Russland wie auch seine Verbündeten in der Kaspischen Region (Armenien, Iran) umgehen und die westliche Abhängigkeit von den OPEC-Staaten etwas reduzieren würde: Moskau hat alles getan, um diese Pipeline als völlig unrentabel erscheinen zu lassen sowie das ohnedies von einer tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, interethnischen und politischen Krise betroffene Georgien weiter instabil zu halten, um sicherzustellen, dass es für an der Pipeline potenziell interessierte westliche Investoren so unattraktiv wie möglich bleibt.
In Russland ist die Vorstellung, dass es den USA bei ihrer Intervention gegen die Taliban und dem Aufbau einer Militärpräsenz in Zentralasien auch oder gerade darum ging, künftige Pipelinestrecken zu kontrollieren, sehr verbreitet. Anlässlich des Sturzes des Talibanregimes wurden in Russland denn auch sofort Befürchtungen laut, dass westliche (und vor allem amerikanische) Konzerne die alten Pläne aus der Schublade holen könnten. Afghanistan dürfte allerdings auf Jahre hinaus labil bleiben, sodass sich nach den Erfahrungen der neunziger Jahre die Frage stellt, ob sich westliche Investoren finden werden, die bereit sind, Milliarden Dollar für Projekte mit fraglichen Perspektiven zu riskieren.
IX. Die "tschetschenische Tangente"
Obwohl Moskau zehn Jahre in Afghanistan gekämpft und dort für mindestens eine Million Tote und fünf Millionen Flüchtlinge verantwortlich ist, dann die Nordallianz gegen die Taliban unterstützte und seit September 1999 bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts Krieg in Tschetschenien führt, hat es keineswegs den anhaltenden Zorn und Hass islamischer Fundamentalisten auf sich gezogen. Bin Laden hatte an der Seite des islamischen Widerstandes am Krieg gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan teilgenommen, dann aber nicht der UdSSR bzw. Russland, sondern explizit den USA den "Heiligen Krieg" erklärt und dazu aufgerufen, in der ganzen Welt Amerikaner und Juden (und nicht etwa Russen) zu töten. Er oder andere international aktive Fundamentalisten haben nie mit Terrordrohungen verbundene Forderungen an Russland - etwa Beendigung des Krieges in Tschetschenien oder sogar dessen Entlassung in die Unabhängigkeit - gestellt; sie konzentrieren sich auf die "Befreiung Palästinas", die US-Truppen auf der Arabischen Halbinsel, den Kaschmir-Konflikt usw. Tschetschenien ist klar eine Nebenfront. Die internationale Agenda des islamischen Fundamentalismus ist vorwiegend gegen den Westen gerichtet,
Russland versuchte, aus den Terroranschlägen in den USA im Hinblick auf seinen Krieg in Tschetschenien Kapital zu schlagen. Es bemüht sich seitdem im Rahmen seiner innen- und außenpolitischen Öffentlichkeitsarbeit, erstens seine Militärintervention in Tschetschenien dem US-Kampf gegen die Taliban und bin Laden gleichzustellen bzw. als "Beitrag Russlands zum Kampf gegen den internationalen und religiösen Extremismus"
Der Anfang 1997 gewählte (und damals auch vom Kreml anerkannte) tschetschenische Präsident Aslan Maschadow, der den bewaffneten Widerstand gegen die russische Intervention bis heute aus dem Untergrund anführt, verurteilte die Anschläge in den USA und zeigte sich "empört" über alle russischen Versuche, Tschetschenien damit in Verbindung zu bringen.
Es ist auch allgemein bekannt, dass sich unter den aus vielen Ländern stammenden Moslems, die in den afghanischen Lagern der "al-Qaida" ausgebildet wurden, auch Tschetschenen befanden. Nach russischen Schätzungen kämpften "einige hundert" von ihnen gegen die Nordallianz
X. Fazit und Perspektiven
Der bekannte außen- und sicherheitspolitische Analytiker Andrej Piontkowskij, der sich vom nationalistischen Mainstream in Politik und Politikwissenschaft Russlands fernzuhalten pflegt, konstatierte: "American aviation has done the job for Russia. Russia has already won its Afghan war."
Es existiert keine wirklich gemeinsame Auffassung von "Terrorismus", welche Russland und die westlichen Staaten mit den USA an der Spitze teilen würden. Das unterschiedliche Verständnis dieser Erscheinung stimmte lediglich im Falle der Taliban bzw. der "al-Qaida" überein, sodass eine (intern durchaus umstrittene) passive Teilnahme Russlands an der "Anti-Terror-Koalition" möglich war. Moskau hat aber auch nach dem 11. September keinen Zweifel daran gelassen, dass für seine Politik die Liste von Staaten, die den USA zufolge Terror unterstützen (darunter Iran, Irak und Libyen), keinerlei Bedeutung hat und dass es jede Ausdehnung des "Krieges gegen den Terror" etwa auf den Irak vehement ablehnt. Russische Stimmen ließen zudem bei allen verbalen Bekenntnissen zum gemeinsamen "Kampf gegen den Terror" die andauernden Probleme in den Beziehungen zum Westen (NATO-Osterweiterung, Schuldenproblematik, geplante US-Raketenabwehr usw.) nicht vergessen. "Die ,große Wende" in Russlands Außenpolitik seit dem 11. September ist empirisch nicht zu belegen ... Stattdessen versucht Moskau seinen in Kriegszeiten gestiegenen ,Marktwert" in den internationalen Beziehungen als Faustpfand in anderen Politikfeldern einzusetzen."
Die Partie auf dem "eurasischen Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird"