Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter. Jedes Gesicht steht für eine individuelle Biografie, Lebenssituation und eigensinnige Wünsche und Träume. Zu Adressat_innen der Sozialen Arbeit werden wohnungslose Menschen, wenn sie in ihrer Lebenslage Hilfe suchen und Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen. Als Gegenstand Sozialer Arbeit wird Wohnungslosigkeit als ein soziales Problem angesehen, das aus sozialstrukturell verankerter Ungleichheit entsteht und weitreichende, vielfach existenziell bedrohliche Folgen für die Betreffenden mit sich bringt. Obwohl unumstritten ist, dass Wohnen die Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe ist, steht nicht allen Menschen Wohnraum zur Verfügung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) verweist in diesem Zusammenhang auf den in den vergangenen Jahren anhaltenden Anstieg der Menschen ohne Wohnung und benennt als Gründe Versäumnisse in der Wohnungs- und Sozialpolitik.
Wohnungslos zu sein bedeutet, nicht über einen eigenen privaten Rückzugsraum zu verfügen. Tage wie Nächte werden im öffentlichen Raum, in Parkanlagen, leerstehenden Häusern, bei Freund_innen oder Bekannten, in Notunterkünften oder auch in öffentlichen Verkehrsmitteln verbracht; das eigene Hab und Gut wird immer bei sich getragen oder auf Schließfächer oder Freund_innen verteilt, die hygienische Versorgung und das Auskurieren von Krankheiten werden zu einem kaum lösbaren Problem. Menschen, die sich in der Not im öffentlichen Raum unter Brücken, in Parks oder am Straßenrand mit Schlafsäcken oder Zelten einrichten, müssen zudem häufig mit Gewalt und Vertreibung rechnen, letzteres auch von staatlicher Seite.
Dilemma der Kategorisierung
Um den unterschiedlichen Adressat_innen der Sozialen Arbeit adäquate Unterstützung anbieten zu können, ist es dennoch wenig hilfreich, sie als weitgehend homogene Gruppe zu betrachten. Denn Biografie, Lebenswelt und soziale Teilhabemöglichkeiten werden nicht nur durch die Wohnungslosigkeit maßgeblich geprägt, sondern auch durch andere soziale Kategorien und Ungleichheitsverhältnisse wie unter anderem Geschlecht, Alter, Nationalität und Rassismus. Wohnungslosigkeit als heterogenes Phänomen wahrzunehmen, eröffnet hingegen eine Perspektive, durch die es möglich wird, die Lebenslagen der Adressat_innen in ihrer Komplexität zu verstehen.
In der Sozialen Arbeit bildet sich diese Heterogenität ab durch die Differenzierung in "den Wohnungslosen" als Normalfall und davon unterscheidbaren Sonderfällen. Dass mit "dem Wohnungslosen" implizit eine Vorstellung vom alleinstehenden mittelalten, weißen wohnungslosen Mann mit deutschem Pass verknüpft ist, wird dann deutlich, wenn Frauen, junge Erwachsene, Migrant_innen, Geflüchtete und LSBTQ
Die Benennung von Sonderfällen geschieht in dem Versuch, der Komplexität der Lebenslagen wohnungsloser Menschen durch die Kategorisierung der Adressat_innen in einzelne homogene Gruppen gerecht zu werden. Dies ist sicherlich notwendig, um eine übersichtliche Struktur mit adäquaten Hilfsangeboten für spezifische Lebenslagen in der Wohnungslosenhilfe entwickeln und etablieren zu können. Die Nachteile liegen jedoch auf der Hand. Wenn in der Wohnungslosenhilfe Geschlecht zum Thema wird, ist meist von Frauen die Rede, während die Zumutungen, die die Geschlechtszugehörigkeit für wohnungslose Männer mit sich bringt, und die Auswirkungen, die diese auf ihre Lebenslage haben, kaum reflektiert werden.
Daraus ergibt sich ein Dilemma in der Sozialen Arbeit. Die Kategorisierung von Adressat_innen und Bedarfen ist einerseits für ein strukturiertes Hilfeangebot unerlässlich, während andererseits mit dieser Kategorisierung Zuschreibungen und Ausschlüsse einhergehen. Dieses Dilemma lässt sich nicht lösen, sondern nur durch eine reflektierte Praxis und Forschung abwägen.
In diesem Sinn wird im Folgenden nicht in verschiedene Personengruppen in der Wohnungslosenhilfe unterschieden. Die Heterogenität von Wohnungslosigkeit wird entlang verschiedener Ungleichheitsverhältnisse und Differenzkategorien und deren Relevanz in der Verschränkung mit der Lebenslage Wohnungslosigkeit ausgeführt.
Geschlecht als soziale Kategorie: Ungleichheiten und Zumutungen
Trotz aller emanzipatorischen Fortschritte seit den 1970er Jahren bildet sich die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nach wie vor ab in der Entlohnung auf dem Arbeitsmarkt, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und dem unterschiedlichen Zugang zu einflussreichen Positionen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Weil Frauen durch ihre nach wie vor stärkere Zuständigkeit für Kinder und Haushalt vielfach nicht oder nur in Teilzeit erwerbstätig sind, fehlt ihnen häufig die eigenständige materielle Absicherung. Diese geschlechtshierarchische Ungleichheit führt unter anderem auch dazu, dass Frauen in privaten wie öffentlichen Bereichen von Männern abhängig sind, eine Abhängigkeit, die wiederum sexistische Übergriffe und häusliche Gewalt begünstigt. Häusliche Gewalt, verbunden mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Partner, ist bei Frauen, die aus dem gemeinsamen Haushalt flüchten müssen, daher auch eine Ursache für Wohnungslosigkeit.
Wenn umgangssprachlich von wohnungslosen Menschen mit Begriffen wie "Penner", "Clochard" oder "Berber" die Rede ist, ist eine weibliche Form nicht vorgesehen: Im öffentlichen Diskurs gibt es keine wohnungslosen Frauen. Während Wohnungslosigkeit für beide Geschlechter mit dem Stigma des Scheiterns verknüpft ist, haben Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung zudem die für sie vorgesehene private Sphäre verlassen und in ihrer Zuständigkeit für Familie und Kinder versagt. Bei Frauen wird vielfach von verdeckter Wohnungslosigkeit gesprochen,
Geschlecht als soziale Kategorie mit ihren normativen Vorgaben stellt zudem eine Zumutung und Bewältigungsaufgabe für alle Menschen dar. Der Zwang, im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit eindeutig als "richtiger" Mann oder als "richtige" Frau leben zu müssen, ist verknüpft mit einer Vielzahl von unerfüllbaren Ansprüchen und Widersprüchen, bei denen bislang wenig erforscht wurde, welche Auswirkungen sie für Männer haben.
Heteronormativität und sozialer Ausschluss
In Deutschland wird Wohnungslosigkeit nur sehr marginal im Zusammenhang mit homophober und transphober Ausgrenzung betrachtet. Während im englischsprachigen Raum zahlreiche Forschungen wie auch spezifische Hilfsangebote für LSBTQ, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, zu finden sind,
In konflikthaften Familiensituationen, die zum Ausschluss junger Menschen aus der familiären Wohnung führen können, wirkt das Coming-Out als lesbisch, schwul oder trans* konfliktverschärfend.
Alter und Lebensphasen
Wohnungslosigkeit kann jede_n treffen, unabhängig vom Alter. Kinder und Jugendliche sind in der Regel dann von Wohnungslosigkeit betroffen, wenn ihre Eltern die Wohnung verlieren. Es gibt aber auch junge Menschen im Alter ab zwölf Jahren, die wohnungslos werden, weil sie ihr Elternhaus verlassen (müssen) oder weil sie den Regeln und Anforderungen der stationären Jugendhilfe nicht entsprechen (können). Auch Menschen im Senior_innenalter können in Wohnungsnot geraten, vor allem dann, wenn die Rente nicht mehr ausreicht, um steigende Mieten zu bezahlen, oder wenn Mietwohnungen in Eigentumswohnungen verwandelt werden.
Jugendliche auf der Straße
Das Alter eines Menschen wird mit bestimmten Lebensphasen in Verbindung gebracht, an die spezifische gesellschaftliche Erwartungen und gesetzliche Bestimmungen geknüpft sind. Minderjährige Jugendliche, die jenseits pädagogischer Obhut auf der Straße leben und selbstständig für ihren Schlafplatz, Kleidung und Ernährung sorgen, die nicht mehr die Schule besuchen oder eine Ausbildung abgebrochen haben, erfüllen diese Erwartungen und Bestimmungen auf mehrfache Weise nicht. Junge Wohnungslose leben selten dauerhaft im öffentlichen Raum, vielmehr ist ein Pendeln zwischen Einrichtungen der Jugendhilfe, dem Mitwohnen bei Freund_innen, dem Leben auf der Straße und (sofern sie willkommen sind) Phasen des Aufenthalts in der Herkunftsfamilie typisch.
Krisen im Erwachsenenleben
Auch andere Lebensphasen sind mit gesellschaftlichen und sozialen Erwartungen verknüpft. Als Indizien für ein gelingendes Erwachsenenleben werden vor allem die Familiengründung und Teilhabe an Erwerbsarbeit angesehen, in geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Ausprägung. Dieses Gelingen ist jedoch nicht unwesentlich abhängig von strukturellen Bedingungen wie dem Arbeitsmarkt und familien-, sozial- und wohnungspolitischen Entscheidungen. Dabei ist zu fragen, ob krisenhafte Entwicklungen und Phasen im Lebensverlauf, von denen alle Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen betroffen sein können, durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen aufgefangen werden, sodass eine Verstetigung und Erweiterung der Krise verhindert werden kann. Ob eine chronische Erkrankung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Trennung in Familie und Partnerschaft auch die Gefahr des Wohnungsverlusts nach sich ziehen, hängt neben den individuellen biografischen Voraussetzungen davon ab, ob die finanzielle Grundsicherung inklusive der Mietübernahme auch weiterhin gesichert ist und ob ausreichend bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. "Niemand leidet unter Obdachlosigkeit, wenn es kein gesellschaftliches Versagen gibt, ein Scheitern an der Aufgabe, Wohnungen und Unterkünfte so zu organisieren, dass sie jedem Menschen zugänglich sind."
Altern und Gesundheit
Für wohnungslose Menschen ist es von existenzieller Bedeutung, dass ihr Körper "funktioniert". Was für Menschen mit Wohnung ein unbedeutender akuter grippaler Infekt ist, der durch Bettruhe auskuriert wird, kann zu einem bedrohlichen Hindernis für das Überleben werden, wenn man kein Bett zur Verfügung hat. Das Leben auf der Straße beruht auf Mobilität. Die unterschiedlichen Versorgungsstellen, die zumeist im städtischen Raum verteilt sind, müssen zu eng festgelegten Zeiten aufgesucht werden, um Zugang zu Ernährung und Hygiene zu haben, und Schlafplätze müssen täglich organisiert werden. Dabei muss man in der Lage sein, den gesamten eigenen Besitz mit sich zu tragen. Der Aufenthalt im Freien bei jeglichen Witterungsbedingungen setzt eine körperliche Robustheit voraus, um nicht chronisch zu erkranken.
Im Alter nehmen Mobilität, körperliche Kraft und gesundheitliche Robustheit ab. Was für alle Menschen im Alter zu einem Problem der Versorgung und der Bewältigung des Alltags werden kann, stellt sich für wohnungslose ältere Menschen in der Regel dramatischer dar. Wer lange Zeit auf der Straße gelebt hat, ist zumeist "körperlich vorgealtert",
Auch das Risiko, in Wohnungsnot zu geraten, steigt mit dem Eintritt ins Rentenalter, die für eine zunehmende Zahl von Menschen (und dabei insbesondere von Frauen) den Eintritt in die Armut bedeutet. Wenn beispielsweise nach dem Tod der Partner_in die Mietlast alleine getragen werden muss oder Mieterhöhungen in die Verschuldung führen, droht der Verlust der Wohnung in einem Alter, in dem die Wohnungssuche deutlich erschwert ist.
Migration, Staatsangehörigkeit und Rassismuserfahrungen
Menschen mit Migrationshintergrund, EU-Zuwanderer und geflüchtete Menschen, die in Deutschland leben, haben unterschiedliche Biografien und Weltanschauungen und leben in einer Vielfalt von Lebensformen. Es wäre daher eine unzulässige Kategorisierung, sie als eine soziale Gruppe mit gemeinsamen Merkmalen zu bezeichnen. Was sie allerdings weitgehend gemeinsam haben, ist die Erfahrung von Benachteiligung und Rassismus (aufgrund ihres Aussehens, ihrer Staatsangehörigkeit, ihres Namens) und der damit verbundenen Ausgrenzung und Gewalt. Der Politikwissenschaftler Ralf Jordan betont, dass Menschen mit Migrationshintergrund beim Zugang zu Wohnraum benachteiligt sind, zudem leben sie häufiger in beengten Wohnverhältnissen, Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanz und sind vielfach von Mietwucher betroffen.
Im Diskurs um Wohnungslosigkeit ist entlang der Konstruktion von nationaler Zugehörigkeit die Unterscheidung zwischen wohnungslosen Menschen, die einen (rechtlichen und moralischen) Anspruch auf Hilfen haben und solchen, denen diese Hilfe verwehrt werden kann, erkennbar. "Rassistische Diskriminierungs- und Diskurspraktiken beziehen sich neben körperlichen Merkmalen auch auf kulturelle Merkmale (wie religiöse Symbole und Praktiken) und zielen auf Zuschreibungen, in denen ein Wir von einem nicht-Wir unterschieden wird."
Die Argumentation, dass durch Zuwanderung deutschen Menschen Wohnraum entzogen und sie dadurch wohnungslos werden könnten, zielt auf eine Entsolidarisierung der von Prekarisierung betroffenen Menschen. Und sie verdeckt die Tatsache, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt, weil Wohnungsbau im höheren Preissegment für die Immobilienwirtschaft mehr Gewinn abwirft.
Solidarisches Handeln gegen Wohnungslosigkeit
Strategien gegen Wohnungslosigkeit können sich nicht auf das Thema "Wohnen" beschränken. Denn die Ursachen für Wohnungsnot haben häufig nur wenig mit dem Thema "Wohnen" zu tun, sondern mit den Themen Armut, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Bildung und mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die sich in Form von Homophobie, Sexismus, Rassismus und anderen Diskriminierungsformen entlang von Differenzkategorien zeigen.
Soziale Arbeit kann sich in der Wohnungslosenhilfe nicht auf den Erhalt von und die Vermittlung in Wohnraum fokussieren, sondern muss sozialen Ausschluss in einem umfassenderen Sinn zum Thema machen. Dabei müssen auch Konzepte Sozialer Arbeit mit ihrer Konstruktion von Zielgruppen und Problemlagen (selbst-)kritisch hinterfragt werden, inwieweit diese Konstruktionen nicht nur Hilfe organisieren, sondern vielleicht auch Stereotype und Ausschlüsse reproduzieren.
Die Bewältigung der existenziellen Notlage darf nicht in die Verantwortung des_r Einzelnen verlagert werden, darf nicht als Privataufgabe zur Entlastung und Verdeckung der öffentlichen Verantwortung umgedeutet werden. "Das schafft die Möglichkeit, jene individualisierende und unerträgliche Form der Verantwortung zu demontieren und an ihre Stelle ein Ethos der Solidarität zu setzen, das die wechselseitige Abhängigkeit und das Angewiesensein auf funktionierende Infrastrukturen bejaht."
Die Überwindung der Notlagen Einzelner braucht solidarisches Handeln, das die kollektive gesellschaftliche Aufgabe übernimmt, jedem Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben zu sichern. Ein solidarisches Handeln, das sich gegen die Spaltung richtet, die die Not der einen anerkennt und die der anderen missachtet und bei der das Recht auf ein menschenwürdiges Leben an normative Bedingungen geknüpft wird, die nicht alle Menschen erfüllen können oder wollen. Wie diese Solidarität als Haltung und Handlungsform umgesetzt werden kann, ist eine Frage, die sich an Politik, Gesetzgebung, die Zivilgesellschaft und nicht zuletzt an die Soziale Arbeit als eine menschenrechtsorientierte Profession richtet.