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Was bedeutet es, zu wohnen? - Essay | Wohnungslosigkeit | bpb.de

Wohnungslosigkeit Editorial Was bedeutet es, zu wohnen? Ein Recht auf (menschenwürdiges) Wohnen? Wohnungslosigkeit in Deutschland aus europäischer Perspektive Eine Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert "Unangenehm", "arbeitsscheu", "asozial". Zur Ausgrenzung von wohnungslosen Menschen Wohnungslosigkeit als heterogenes Phänomen. Soziale Arbeit und ihre Adressat_innen "Eine lange Bank in der Fußgängerzone – das ist ein gutes Zeichen" - Interview

Was bedeutet es, zu wohnen? - Essay

Jürgen Hasse

/ 13 Minuten zu lesen

Im Alltag spielt die philosophische Frage, was es eigentlich bedeutet, zu wohnen, keine Rolle. Angesichts der wachsenden Spaltung auf dem Wohnungsmarkt stellt sich die Aufgabe einer kritischen Revision der gesellschaftlichen Organisation des Wohnens umso dringlicher.

Im Alltag spielt die im engeren Sinne philosophische Frage, was es eigentlich bedeutet, zu wohnen, keine Rolle. Sie wird von drängenden praktischen Geboten der Organisation des Wohnens ebenso verdrängt wie von den immer größer werdenden Herausforderungen der Finanzierung einer Wohnung, insbesondere in trendigen Boomtowns und zahlreichen Universitätsstädten. Auch von den Wissenschaften wird im engeren Sinne nicht das Wohnen selbst thematisiert; im Fokus stehen vielmehr abgeleitete Fragestellungen, in der Soziologie die gesellschaftliche Vermitteltheit des Wohnens, in der Ökonomie die Wohnung als Ware (als Anlage-, Rentabilitäts- und Spekulationsobjekt) und in Architektur und Ingenieurswissenschaften das gestalterische und technische Bauen von Wohn-Häusern. Im folgenden Beitrag gehe ich auf der Grenze zwischen Geistes- und Sozialwissenschaft der Frage nach, wie und als was sich Orte und Praktiken des Wohnens darstellen. Darin folge ich der Aufforderung Martin Heideggers, das Wohnen denkwürdig zu machen, weil alle Bauten, die dem Wohnen (direkt und indirekt) dienen sollen, erst dann bedacht errichtet werden können, wenn wir unser Verständnis des Wohnens geklärt haben.

Wohnen – eine Annäherung

Wohnen geht über "anwohnen" hinaus und bedeutet vor allem "einwohnen". Es verlangt von jedem Einzelnen das nachspürende, mitfühlende wie verantwortliche Denken, das umsichtige Planen und bauende Gestalten von Räumen durch Orte. Wohnen ist nichts Passives. Als Sein-mit-anderen verändert es die Welt – nicht nur faktisch, sondern auch atmosphärisch.

Wie die Menschen wohnen, ist Ausdruck von Tradition und Gewohnheit, Spiegel der Zeit wie technischer Standards. Die ältesten (eiszeitlichen) Wohnungen waren Erdlöcher und natürliche Höhlen, steinzeitlich dann Halbhöhlen und Hütten aus Reisig und Laub. In der Jungsteinzeit gab es in Nordeuropa Pfahlbauten, in der Bronzezeit Rundbauten mit einfachen Kegeldächern. Nach der Entwicklung differenzierterer Zimmermannstechniken folgten einfache Blockbauten. Alle Wohnstätten sollen Schutz vor Wind und Wetter, den Jahreszeiten, Feinden und wilden Tieren bieten. In der Praxis des Gebrauchs der dafür erforderlichen Isolationsmedien bildeten sich bis in die Gegenwart mannigfaltige Wohn-Kulturen.

Im 21. Jahrhundert verbinden sich mit dem Wohnen die folgenden Schlüsselfragen: Was tut man, wenn man wohnt? Wer wohnt mit wem zusammen? Wie wird Wohnen erlebt? Wie kommt man zur Wohnung? Die Bedeutung des Wohnens konzentriert sich hier auf die räumliche Welt der Wohnung. Umso mehr wirft der Blick auf das Leben Obdachloser die Frage auf, wie und ob auch wohnt, wer gar keine Wohnung hat. Damit fragt sich zugleich: Kann man nur in persönlich oder gemeinschaftlich genutzten Innenräumen wohnen, die wir üblicherweise eine "Wohn-ung" nennen, oder auch in einer Stadt? Zur Wohnung gehört der über die Terrasse begehbare (noch so kleine) Garten, in der Stadtwohnung der Balkon. Folglich beschränkt sich das Wohnen nicht ganz auf Innenräume. "Draußen" sind aber auch Straßen, Geschäfte, der Markt und der Bahnhof. Nicht jeder Ort im öffentlichen Raum wird jedoch dem Wohnen zugerechnet werden dürfen. Für den Philosophen Hermann Schmitz zeichnet sich der Bewohner einer Stadt (im Unterschied zum "Benutzer") dadurch aus, dass er in einem Gefühl des Heimisch-Seins mit Orten verwachsen ist, die nicht nur Stätten der Erledigung sind. Die Schwelle zwischen ge-wohn-ter Verwurzelung in einer Gegend und der rein zweckmäßigen Nutzung verorteter Stätten hat für ihn atmosphärischen Charakter. Die Grenze zwischen dem Eigenen der heimischen Welt des Wohnens und dem Fremden einer (mindestens psychologisch) fernen Welt ist aber fließend und bildet sich mit dem Wandel der Lebenssituationen aus und um.

In den 1950er Jahren führte eine Zunahme der Mobilität langsam zu einer Veränderung der Wohnformen. Das sesshafte Leben verlor mehr und mehr seine Selbstverständlichkeit. In hochmobilen und globalisierten Gesellschaften hat sich der Lebensalltag der Menschen seit dem immens beschleunigt, mal mehr (etwa bei Geschäftsleuten), mal weniger (wie bei Büroangestellten) und auf ganz unterschiedliche Weise (von der Vielfliegerei bis zur intensivierten Benutzung des Fahrrades in der Innenstadt). Zwar haftet die Bedeutung von "wohnen" am Bleiben und Ausharren, Sich-Behagen und zufriedenen Wohlbefinden an einem Ort; sie läuft aber nicht auf eine Art "Festsitzen" im Raum hinaus. Der spätmoderne Mensch lebt zwischen Unterwegs-Sein und Ruhen: "im-Übergang". Er wohnt (mal) hier und (mal) dort sowie auf seinen Wegen – in einem Dazwischen. Im "Wandern" werden Räume des Wohnens erschlossen. Die allokativen Bewegungen des eigenen Körpers von Ort zu Ort und die existenziellen Bewegungen des Lebens schreiben sich in Biografien ebenso ein wie in die Geschichte(n) kleinerer und größerer Sozialgebilde. In der Spätmoderne wohnen die meisten Menschen nicht für alle Zeiten nur an einem Ort. So üben sie sich im gleitenden Einwohnen in fließende Umgebungen.

Die Masse der Menschen lebt in den Städten und dort in seriellen Großwohnanlagen. Solchen "Wohnfabriken" liegt das Leitbild der Charta von Athen zugrunde. Sie zerlegte den Menschen in Funktionssegmente und implantierte ihn in eine maschinistische Systemwelt. Diese modernistisch-antiindividualistische Fiktion hält die räumliche Organisation des Wohnens in den Städten noch in der Gegenwart in Schach. Die unter der Macht des Industrialisierungsmythos entstandenen Bauten setzten stets kryptische Programme heimlicher Menschenbildung ins Werk. In ihrer Verortung in Großwohnsiedlungen sollte den Menschen ein sozialer Ort in der Gesellschaft zugewiesen und damit eine Identität zugeschrieben werden (in der DDR durch den "sozialistischen" und in der Bundesrepublik durch den "sozialen" Wohnungsbau).

Wohnen als existenzieller Ausdruck

In der Art (und Gestaltung) einer Wohnung spiegelt sich die Lebenssituation einer Person, Familie oder wie auch immer gebildeten (Wohn-)Gruppe wider. Ebenso gilt umgekehrt: Die Wohnung situiert auch die Wohnenden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert lebte der Grundherr mit Familie und Gesinde auf dem Gutshof, der Hochadel in aristokratischen Bauten (Schlössern und Palais), Landarbeiter in einfachen Landarbeiterhäusern, Angestellte und Arbeiter in Mietwohnungen. Dieser eher einfache hierarchische Aufbau ist schon längst implodiert: Pflegebedürftige alte Menschen wohnen in Altersheimen oder in Residenzen. Angestellte mieten und kaufen Einfamilienhäuser oder campieren – wie viele Dauercamper – in Wohnwagen und -mobilen. Junge Selbstständige nehmen an alternativen Wohnprojekten teil oder lassen sich in luxuriösen Appartements postmoderner Doorman-Häuser nieder. Die "Kommunen" der 1960er Jahre lebten zwar in Wohnungen; aber es ging ihnen weniger ums Wohnen als um den "Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums" – das Finden alternativer Lebensformen. "Wohnen" und "leben" sind keine Gegenbegriffe, sondern zwei Falten einer existenziellen Situation.

Nicht jeder Modus des Wohnens ist gewählt. Wer sich – wie die im Raum flottierenden Obdachlosen – von Ort zu Ort durchschlagen muss und dabei nicht das Mindeste eines halbwegs guten Lebens besitzt, ist anders im Raum der Stadt als Sesshafte, allzumal die ökonomisch Privilegierten unter ihnen. Wer keine Wohnung (mehr) hat, lebt oft "auf der Platte" im öffentlichen Raum. Die Betroffenen sind zweifach situiert – durch die Art ihres So-Lebens und (als Resultat der Zuschreibung von Identität) durch soziale Exklusion. Vor allem sie ist es, die das improvisierte Leben im Offenen und Ungeschützten dem Bedenken entzieht und nur ausnahmsweise als Ersatz-, Statt- oder Not-Wohnen bewusst werden lässt. Dabei könnte doch gerade der prekäre Aufenthalt Obdachloser im öffentlichen und halböffentlichen Raum das Wohnen im Allgemeinen denkwürdig machen.

Fragende Aufmerksamkeit verdient allerdings schon der selbstverständlichste Ort einer ganz gewöhnlichen Wohnung – das Wohnzimmer. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde es als Hot Spot bürgerlicher Ideale geradezu mythologisiert und von einer breit gefächerten "Wohnmöbel"-Industrie nach dem Takt zyklischer Modewellen bestückt. Hinter dem Vorzeichen der medien-technologischen Postmoderne hat sich der Zweck des "Wohn"-Zimmers vielerorts jedoch gehäutet – vom sozialen Raum des "Wir" in die kommunikative Halbwüste einer permanent pulsierenden TV- und Entertainment-Blase. Der Einfluss gemeinschaftsbildender Anstrengungen schwindet – zugunsten immersiver wie uferloser Bilderfluten massenmedialer Imaginationsmaschinen aller Art.

Bauen und Wohnen

Im Althochdeutschen bedeutete bauen: "Die Art wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Baun, das Wohnen." Bauend schafft sich der Mensch einen Ort des Wohnens. "Wohnen und Bauen stehen zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel." Im Bauen entstehen (unter anderem materielle) Bedingungen dafür, wie die Menschen auf der Erde sind und ihr Leben führen können. Deshalb steht "bauen" etymologisch neben dem "existieren", das sich im "wohnen" stark, im "bewohnen" dagegen eher schwach ausdrückt.

Menschen, die sich obdachlos auf der Flucht befinden, können weder wohnen noch bauen, solange sie flüchten, denn ihre Mobilität folgt keiner kultivierten Form wandernden Lebens (wie bei den Nomaden). Aber auch die aus Pappe, Abfallholz und aufgegebenen Baustoffresten für eine oder zwei Nächte errichteten Hilfskonstruktionen, die Obdachlosen als Notunterkünfte dienen und in minimalster Weise schützen sollen, sind (improvisierte) Bauten. Sind sie schon deshalb aber auch Stätten des Wohnens?

Auch die Nomaden wohnen an (vorübergehend) fixen Orten und unterwegs. Jedoch ist ihr wanderndes Wohnen Ausdruck einer Tradition und nicht Folge blanker Not. Ihr oft nur kurzzeitiger Aufenthalt in demontierbaren Behausungen bietet dank der mitgenommenen gewohnten Dinge und sich immer wieder entfaltenden Situationen temporären Heimisch-Seins einen behagenden, umfriedenden und atmosphärisch bergenden Rückzugsraum. Nicht zuletzt deshalb verbindet sich mit dem Namen der Jurte (für das Rundzelt der Nomaden) auch die Bedeutung des Heims. Im Unterschied dazu bedeutet die wohnungslose Situation des flottierenden Aufenthalts im öffentlichen Raum mehr Entbergung und rohe Freistellung ins Ungeschützte. Optionen der Beheimatung bietet sie nicht.

Bauen hinterlässt Reste, Abfälle, Löcher, Leerstellen – Probleme für die Nachkommenden. Natürliche Personen, Unternehmen und Gesellschaften greifen allerdings nicht nur auf eigene Ressourcen zurück, sondern zugleich auf Sachen der Allmende: endliche Stoffe der Natur und soziale Ressourcen Dritter. Auch weil sich die Welt des Wohnens in sozioökonomisch bedenklicher Weise begonnen hat zu spalten, reklamiert sich eine kritische Revision des Wohnens. Wo die bauende Herstellung von Wohnungen nur der Maximierung von Profiten aus Wuchermieten dient, die selbst kleinste Lebensspielräume zunichtemachen, müssen Bauen und Wohnen denkwürdig werden. Dies umso mehr, als es oft genug Obdachlose sind, die ihr statt-wohnendes Pseudobauen mit den Abfällen und Resten materialgefräßigen "Normal"-Bauens ermöglichen.

Disparate Wohnkulturen

Schon in den urbanen Gesellschaften der Antike waren die Verhältnisse des Wohnens nicht gleich(wertig), vielmehr von sozialer Differenz gekennzeichnet. In der neoliberalen Spätmoderne vertieft sich der Graben zwischen Arm und Reich, und die Wohnformen folgen immer deutlicher allein einem ökonomischen Pfad. Die soziale Fragmentierung der Gesellschaft zeigt in ihrem (stadt-)räumlichen Gesicht der Wohnstätten, wie und wo die Menschen verwurzelt sind. Das Hochhaus lockt in den Trendmetropolen als Traumwelt des Wohnens par excellence. Klangvolle Namen wie "Onyx", "Omni Turm", "Tower 90", "One Forty West" oder "Praedium" stehen (am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main) für maximale Extravaganz und höchste "Kultur" der Repräsentation. Radikal übersteigerte Quadratmeterpreise garantieren Closed-Shop-Effekte des Stadtwohnens, die jede sozialpolitisch motivierte "Inklusions"-Rhetorik der Lächerlichkeit preisgeben.

Die Gegenwelt des Glamourösen offenbart sich zum einen in der Vertreibung Obdachloser, zum anderen aber auch in ihrem Statt-Wohnen in Gestalt einer flottierenden Be-setzung improvisiert-informeller Notunterkünfte (unter anderem B-Ebenen von U- und S-Bahnen) und finsterer Ecken (neben Brückenpfeilern und in den verdreckten Eingängen von Abbruch-Immobilien). Es sind (temporäre) Rest-Räume, die Obdachlosen als nicht-monetäre Almosen gegeben werden – "Gaben" im Sinne des Wortes, weil sie diesseits jeder Logik des Tausches kein Äquivalent verlangen. An den Orten des Statt-Wohnens offenbaren sich die sozioökonomischen Kollateralschäden einer neoliberal entfesselten Ökonomie: Biografien, die auf tragische Weise aus dem Ruder gelaufen und "auf der Strecke" eher bescheidener als phantastisch-überschäumender Lebensträume geblieben sind.

Wenn es in besonderer Weise auch monetäre "Spiel"-Räume sind, die das Leben situieren und den Rahmen des darin Möglichen abstecken, so gibt es doch nicht nur blendend-grelle Kontraste – gleichsam zwischen der Suppenküche der Kapuziner und residierendem Nobelwohnen. Es existieren auch experimentelle Wohnlabore für bürgerliche Mittelfelder. Die sogenannten Tiny-Houses, die auf kleinstem Raum ein Maximum an Wohn-Nutzen generieren und großstädtische Mieten bezahlbar machen sollen, gelten in diesem Sinne als originell wie innovativ. Charakteristischerweise wurzelt die Renaissance einer alten Idee in der US-amerikanischen Immobilienkrise und der Taktik, aus der Not eine Tugend zu machen. Die hierzulande erprobten Varianten beeindrucken durch einen geradezu dreisten Mut zur euphemistischen Umdeutung existenzieller Nöte des Wohnens. Wenn das Bundesbauministerium 2015/16 ein Programm für die Förderung des Baus sogenannter Variowohnungen (14 bis 30 Quadratmeter) für Studierende und Senioren initiiert, so dürften diese Mikrowohnungen schnell über die intendierten Nutzergruppen hinaus reges Interesse wecken, weil sie bezahlbarer sind als gängige Formate auf dem "freien" Immobilienmarkt. Was es in der Gegenwart heißt, zu wohnen, aktualisiert sich nicht erst an (luxurierten und marginalisierten) Rändern der Gesellschaft, sondern in einer schleichenden Dramatik schon in deren Mitte.

Die in urbanistischen Trendlaboren in New York, London und Amsterdam ausgebrüteten Wohnideen mögen als "hip" gelten; im Endeffekt sind sie weniger innovativ als resignativ. Verkleidet ins architektonische Gewand der "New wave of postmodernism", illustrieren sie höchst eindrucksvoll die Schrumpfung politischer Scheinspielräume in der Gestaltung der Wohnungsmärkte. Auch das in postkritischer Naivität als Renaissance der Kommune gefeierte Modell des co-housing oder co-living (Hybrid zwischen Appartement-Archipel und Service-Hotel) kann als "alternative" Form des Wohnens nur falsch verstanden werden. Kollektivistische Metaphern, Utopien von Nachhaltigkeit und Basisdemokratie verklären (oft mit einem kräftigen Schuss Esoterik) nur die sozialen Härten eines erdrückenden Immobilienmarktes.

Tiny-Houses im Sinne des Wortes sind indes schon lange die sich den Normen einer massenmedial justierten Wohnästhetik entziehenden "Mobilien" der Wagenburgen. Aber die bunten Bauwagen und Anhänger sind keine trendigen Kreationen "schönen Wohnens". In ihrer miniaturisierten Form sind sie eher Thinktanks. Das hindert die Ordnungsbehörden jedoch nicht daran, die fliegenden Siedlungen in ihrem sichtbar-alternativen Programm immer wieder als Störfaktor wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Sie sind ein Stachel im Fleisch der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt weil sie aus der Kraft der Gemeinschaft wie einem experimentellen Geist Alternativen zum "adretten" Wohnen und Leben erproben.

Brauchen wir eine Ethik des Wohnens?

Das Heidegger’sche Gebot, das Wohnen als etwas Fragwürdiges zu bedenken, mündet in eine Ethik des Wohnens. "Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben." Das Ziel eines jeden Menschen, ein glückliches Leben zu führen, drückt sich auch in der Art und Weise seines Wohnens aus. Sache der Ethik ist es aber nicht, das individuelle Streben nach Glück (unbegrenzt) zu fördern, sondern nach Maßstäben für die Regulation eines guten und rücksichtsvollen Miteinander zu suchen.

Da die "freie" Entfaltung Glück suchender Lebensformen kaum von der Macht göttlicher Weisheit beschnitten werden dürfte, reklamiert sich die Sammlung aller nur erdenklichen reflexiven Vermögen des Menschen – mit anderen Worten: die Kritik seines Denkens und Wollens. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Gefühle eine leitende Rolle spielen, weshalb diese auch in allererster Linie Gegenstand einer kritischen Prüfung der Folgen einer (schrankenlosen) Verwirklichung von Wohnwünschen werden müssten. Das normativ leitende Maß der Bewertung kann nur im Wissen um die Grenzen möglichen Wohnens liegen. Deshalb merkte Aristoteles zum Streben der Menschen nach Glückseligkeit an: "Daß aber die Schicksale der Nachkommen und aller Freunde die Glückseligkeit ganz und gar nicht berühren sollen, erscheint doch allzu inhuman und den allgemeinen Überzeugungen widersprechend."

Eine Ethik des Wohnens liefe auf ein existenzphilosophisches Evaluationsprogramm hinaus. Als Chiffre der "Sorge" und einer mehrdimensionalen Kultur nachdenklicher Vor- wie Rücksichtnahme verwendete Heidegger das Wort der "Schonung". Im Alltag politischen Zeitgeschehens mangelt es indes schon deshalb an Weitsichtigkeit wie vielperspektivisch prüfendem Denken, weil Grenzen "demokratisch" erscheinender Rechte auf Selbstverwirklichung dann in ein kritisches Licht geraten müssten. Nicht nur aus diesem Grunde ist unübersehbar, dass das Wohnen gerade in den schnell wachsenden Metropolen auf eine zweifache Krise zuläuft: erstens die der sozialen Spaltung der Gesellschaft und der Preisgabe des zivilgesellschaftlichen Friedens sowie zweitens der desillusionierenden Einsicht in die praktische Konterkarierung von Zielen ganzheitlich verstandener Nachhaltigkeit. Auf der einen Seite steigern sich die luxurierten Formen des Wohnens in einer Choreografie des Übermuts zu einem Tanz auf dem Vulkan. Auf der anderen Seite lassen die wachsenden Probleme der Obdach- und Wohnungslosigkeit das Vexierbild einer legitimationspolitisch zerreißenden Kultur des Wohnens erkennen.

Schnell steigende Zahlen der von Obdachlosigkeit Betroffenen machen darauf aufmerksam, dass es in der Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik schon lange um die existenzielle Frage der Verfügbarkeit bezahlbarer Stadtwohnungen geht. Allein deshalb wäre das Wohnen als Sich-Einrichten mit Möbeln oder Sicherstellung der regelmäßigen Belieferung mit Energie und Trinkwasser zu kurz verstanden. Zu einer vertrackten Problemlage spitzt es sich zu, wo die Binnenwanderung zu einer selektiven Attraktivitätssteigerung ohnehin schon begehrter Städte führt, während andere durch Abwanderung immer tiefer in der (Infra-)Strukturkrise versinken. In der Folge wächst die Gefahr einer dramatischen sozialen Spaltung. Diese beträfe dann nicht nur Stadtviertel, sondern ganze Städte. Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe einer kritischen Revision der gesellschaftlichen Organisation des Wohnens im Sinne dessen, was Martin Heidegger darunter verstanden hatte: die Art und Weise, wie die Menschen (mit anderen!) auf der Erde leben. "Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anders als das wesentlich gedachte Wohnen." Schon weil die Lebensbedingungen einem ständigen Wandel unterworfen sind, muss das Wohnen immer wieder geübt und umgelernt werden. Dazu gehört unverzichtbar nicht nur sein lebenspraktisches, sondern auch sein ethisches Bedenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Günther Wasmuth (Hrsg.), Wasmuths Lexikon der Baukunst, Bd. 4, Berlin 1929, S. 718f.

  2. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim–München 2000, S. 12.

  3. Vgl. ebd., S. 15.

  4. Vgl. Jürgen Hasse, Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft, Bielefeld 2009, Kapitel 4.2.

  5. Vgl. Hermann Schmitz, Heimisch sein, in: Jürgen Hasse (Hrsg.), Die Stadt als Wohnraum, Freiburg/Br.–München 2008, S. 25–39, insb. S. 38.

  6. Vgl. Edmund Meier-Oberist, Kulturgeschichte des Wohnens im abendländischen Raum, Hamburg 1956, S. 12.

  7. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, München 1991, Sp. 1206.

  8. Vgl. Karen Joisten, Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 131.

  9. Vgl. Ute Guzzoni, Wohnen und Wandern, Düsseldorf 1999.

  10. Die Charta von Athen wurde auf dem Internationalen Kongress für neues Bauen 1933 in Athen verabschiedet. Sie galt als Manifest der funktionalen Stadt. Einer der maßgeblich beteiligten Urheber war Le Corbusier. Seinen Ausdruck fand das neue Denken in der "autogerechten Stadt" sowie den Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre. Vgl. auch "CIAM" (1933): Charta von Athen – Lehrsätze, in: Ulrich Conrads (Hrsg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Basel–Boston–Berlin 1975, S. 129–138.

  11. Kommune 2, Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums, Berlin 1969.

  12. Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Eduard Führ (Hrsg.), Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster u.a. 2000, S. 31–49, hier S. 33.

  13. Ebd., S. 32.

  14. Sogenannte Kleinhäuser gab es in Berlin schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Wasmuth (Anm. 1), Bd. 3, S. 380.

  15. Vgl. Moritz Gottsauner-Wolf, Die neuen Kommunen. In neuen Formen gemeinschaftlichen Wohnens soll für Städter die dörfliche Idylle wiederauferstehen, 27.3.2013, Externer Link: http://www.zeit.de/2013/14/Gemeinschaftliches-Wohnen-Cohousing-Oesterreich.

  16. Vgl. Hasse (Anm. 4), Kapitel 4.8.

  17. Heidegger (Anm. 12), S. 48.

  18. Aristoteles, Philosophische Schriften, Bd. 3 (Nikomachische Ethik), Hamburg 1995, S. 20.

  19. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 58.

  20. Heidegger (Anm. 12), S. 37.

  21. 2016 gab es in Deutschland nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) 860000 wohnungslose Menschen. Für 2018 werden 1,2 Millionen prognostiziert. Vgl. BAG W, Pressemitteilung, 14.11.2017.

  22. Heidegger (Anm. 12), S. 45.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jürgen Hasse für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Professor Dr. Jürgen Hasse ist habilitierter Humangeograph und war bis 2015 Professor am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

E-Mail Link: info@jhasse.com