Im Alltag spielt die im engeren Sinne philosophische Frage, was es eigentlich bedeutet, zu wohnen, keine Rolle. Sie wird von drängenden praktischen Geboten der Organisation des Wohnens ebenso verdrängt wie von den immer größer werdenden Herausforderungen der Finanzierung einer Wohnung, insbesondere in trendigen Boomtowns und zahlreichen Universitätsstädten. Auch von den Wissenschaften wird im engeren Sinne nicht das Wohnen selbst thematisiert; im Fokus stehen vielmehr abgeleitete Fragestellungen, in der Soziologie die gesellschaftliche Vermitteltheit des Wohnens, in der Ökonomie die Wohnung als Ware (als Anlage-, Rentabilitäts- und Spekulationsobjekt) und in Architektur und Ingenieurswissenschaften das gestalterische und technische Bauen von Wohn-Häusern. Im folgenden Beitrag gehe ich auf der Grenze zwischen Geistes- und Sozialwissenschaft der Frage nach, wie und als was sich Orte und Praktiken des Wohnens darstellen. Darin folge ich der Aufforderung Martin Heideggers, das Wohnen denkwürdig zu machen, weil alle Bauten, die dem Wohnen (direkt und indirekt) dienen sollen, erst dann bedacht errichtet werden können, wenn wir unser Verständnis des Wohnens geklärt haben.
Wohnen – eine Annäherung
Wohnen geht über "anwohnen" hinaus und bedeutet vor allem "einwohnen". Es verlangt von jedem Einzelnen das nachspürende, mitfühlende wie verantwortliche Denken, das umsichtige Planen und bauende Gestalten von Räumen durch Orte. Wohnen ist nichts Passives. Als Sein-mit-anderen verändert es die Welt – nicht nur faktisch, sondern auch atmosphärisch.
Wie die Menschen wohnen, ist Ausdruck von Tradition und Gewohnheit, Spiegel der Zeit wie technischer Standards. Die ältesten (eiszeitlichen) Wohnungen waren Erdlöcher und natürliche Höhlen, steinzeitlich dann Halbhöhlen und Hütten aus Reisig und Laub. In der Jungsteinzeit gab es in Nordeuropa Pfahlbauten, in der Bronzezeit Rundbauten mit einfachen Kegeldächern. Nach der Entwicklung differenzierterer Zimmermannstechniken folgten einfache Blockbauten.
Im 21. Jahrhundert verbinden sich mit dem Wohnen die folgenden Schlüsselfragen:
In den 1950er Jahren führte eine Zunahme der Mobilität langsam zu einer Veränderung der Wohnformen. Das sesshafte Leben verlor mehr und mehr seine Selbstverständlichkeit.
Die Masse der Menschen lebt in den Städten und dort in seriellen Großwohnanlagen. Solchen "Wohnfabriken" liegt das Leitbild der Charta von Athen
Wohnen als existenzieller Ausdruck
In der Art (und Gestaltung) einer Wohnung spiegelt sich die Lebenssituation einer Person, Familie oder wie auch immer gebildeten (Wohn-)Gruppe wider. Ebenso gilt umgekehrt: Die Wohnung situiert auch die Wohnenden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert lebte der Grundherr mit Familie und Gesinde auf dem Gutshof, der Hochadel in aristokratischen Bauten (Schlössern und Palais), Landarbeiter in einfachen Landarbeiterhäusern, Angestellte und Arbeiter in Mietwohnungen. Dieser eher einfache hierarchische Aufbau ist schon längst implodiert: Pflegebedürftige alte Menschen wohnen in Altersheimen oder in Residenzen. Angestellte mieten und kaufen Einfamilienhäuser oder campieren – wie viele Dauercamper – in Wohnwagen und -mobilen. Junge Selbstständige nehmen an alternativen Wohnprojekten teil oder lassen sich in luxuriösen Appartements postmoderner Doorman-Häuser nieder. Die "Kommunen" der 1960er Jahre lebten zwar in Wohnungen; aber es ging ihnen weniger ums Wohnen als um den "Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums"
Nicht jeder Modus des Wohnens ist gewählt. Wer sich – wie die im Raum flottierenden Obdachlosen – von Ort zu Ort durchschlagen muss und dabei nicht das Mindeste eines halbwegs guten Lebens besitzt, ist anders im Raum der Stadt als Sesshafte, allzumal die ökonomisch Privilegierten unter ihnen. Wer keine Wohnung (mehr) hat, lebt oft "auf der Platte" im öffentlichen Raum. Die Betroffenen sind zweifach situiert – durch die Art ihres So-Lebens und (als Resultat der Zuschreibung von Identität) durch soziale Exklusion. Vor allem sie ist es, die das improvisierte Leben im Offenen und Ungeschützten dem Bedenken entzieht und nur ausnahmsweise als Ersatz-, Statt- oder Not-Wohnen bewusst werden lässt. Dabei könnte doch gerade der prekäre Aufenthalt Obdachloser im öffentlichen und halböffentlichen Raum das Wohnen im Allgemeinen denkwürdig machen.
Fragende Aufmerksamkeit verdient allerdings schon der selbstverständlichste Ort einer ganz gewöhnlichen Wohnung – das Wohnzimmer. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde es als Hot Spot bürgerlicher Ideale geradezu mythologisiert und von einer breit gefächerten "Wohnmöbel"-Industrie nach dem Takt zyklischer Modewellen bestückt. Hinter dem Vorzeichen der medien-technologischen Postmoderne hat sich der Zweck des "Wohn"-Zimmers vielerorts jedoch gehäutet – vom sozialen Raum des "Wir" in die kommunikative Halbwüste einer permanent pulsierenden TV- und Entertainment-Blase. Der Einfluss gemeinschaftsbildender Anstrengungen schwindet – zugunsten immersiver wie uferloser Bilderfluten massenmedialer Imaginationsmaschinen aller Art.
Bauen und Wohnen
Im Althochdeutschen bedeutete bauen: "Die Art wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Baun, das Wohnen."
Menschen, die sich obdachlos auf der Flucht befinden, können weder wohnen noch bauen, solange sie flüchten, denn ihre Mobilität folgt keiner kultivierten Form wandernden Lebens (wie bei den Nomaden). Aber auch die aus Pappe, Abfallholz und aufgegebenen Baustoffresten für eine oder zwei Nächte errichteten Hilfskonstruktionen, die Obdachlosen als Notunterkünfte dienen und in minimalster Weise schützen sollen, sind (improvisierte) Bauten. Sind sie schon deshalb aber auch Stätten des Wohnens?
Auch die Nomaden wohnen an (vorübergehend) fixen Orten und unterwegs. Jedoch ist ihr wanderndes Wohnen Ausdruck einer Tradition und nicht Folge blanker Not. Ihr oft nur kurzzeitiger Aufenthalt in demontierbaren Behausungen bietet dank der mitgenommenen gewohnten Dinge und sich immer wieder entfaltenden Situationen temporären Heimisch-Seins einen behagenden, umfriedenden und atmosphärisch bergenden Rückzugsraum. Nicht zuletzt deshalb verbindet sich mit dem Namen der Jurte (für das Rundzelt der Nomaden) auch die Bedeutung des Heims. Im Unterschied dazu bedeutet die wohnungslose Situation des flottierenden Aufenthalts im öffentlichen Raum mehr Entbergung und rohe Freistellung ins Ungeschützte. Optionen der Beheimatung bietet sie nicht.
Bauen hinterlässt Reste, Abfälle, Löcher, Leerstellen – Probleme für die Nachkommenden. Natürliche Personen, Unternehmen und Gesellschaften greifen allerdings nicht nur auf eigene Ressourcen zurück, sondern zugleich auf Sachen der Allmende: endliche Stoffe der Natur und soziale Ressourcen Dritter. Auch weil sich die Welt des Wohnens in sozioökonomisch bedenklicher Weise begonnen hat zu spalten, reklamiert sich eine kritische Revision des Wohnens. Wo die bauende Herstellung von Wohnungen nur der Maximierung von Profiten aus Wuchermieten dient, die selbst kleinste Lebensspielräume zunichtemachen, müssen Bauen und Wohnen denkwürdig werden. Dies umso mehr, als es oft genug Obdachlose sind, die ihr statt-wohnendes Pseudobauen mit den Abfällen und Resten materialgefräßigen "Normal"-Bauens ermöglichen.
Disparate Wohnkulturen
Schon in den urbanen Gesellschaften der Antike waren die Verhältnisse des Wohnens nicht gleich(wertig), vielmehr von sozialer Differenz gekennzeichnet. In der neoliberalen Spätmoderne vertieft sich der Graben zwischen Arm und Reich, und die Wohnformen folgen immer deutlicher allein einem ökonomischen Pfad. Die soziale Fragmentierung der Gesellschaft zeigt in ihrem (stadt-)räumlichen Gesicht der Wohnstätten, wie und wo die Menschen verwurzelt sind. Das Hochhaus lockt in den Trendmetropolen als Traumwelt des Wohnens par excellence. Klangvolle Namen wie "Onyx", "Omni Turm", "Tower 90", "One Forty West" oder "Praedium" stehen (am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main) für maximale Extravaganz und höchste "Kultur" der Repräsentation. Radikal übersteigerte Quadratmeterpreise garantieren Closed-Shop-Effekte des Stadtwohnens, die jede sozialpolitisch motivierte "Inklusions"-Rhetorik der Lächerlichkeit preisgeben.
Die Gegenwelt des Glamourösen offenbart sich zum einen in der Vertreibung Obdachloser, zum anderen aber auch in ihrem Statt-Wohnen in Gestalt einer flottierenden Be-setzung improvisiert-informeller Notunterkünfte (unter anderem B-Ebenen von U- und S-Bahnen) und finsterer Ecken (neben Brückenpfeilern und in den verdreckten Eingängen von Abbruch-Immobilien). Es sind (temporäre) Rest-Räume, die Obdachlosen als nicht-monetäre Almosen gegeben werden – "Gaben" im Sinne des Wortes, weil sie diesseits jeder Logik des Tausches kein Äquivalent verlangen. An den Orten des Statt-Wohnens offenbaren sich die sozioökonomischen Kollateralschäden einer neoliberal entfesselten Ökonomie: Biografien, die auf tragische Weise aus dem Ruder gelaufen und "auf der Strecke" eher bescheidener als phantastisch-überschäumender Lebensträume geblieben sind.
Wenn es in besonderer Weise auch monetäre "Spiel"-Räume sind, die das Leben situieren und den Rahmen des darin Möglichen abstecken, so gibt es doch nicht nur blendend-grelle Kontraste – gleichsam zwischen der Suppenküche der Kapuziner und residierendem Nobelwohnen. Es existieren auch experimentelle Wohnlabore für bürgerliche Mittelfelder. Die sogenannten Tiny-Houses, die auf kleinstem Raum ein Maximum an Wohn-Nutzen generieren und großstädtische Mieten bezahlbar machen sollen, gelten in diesem Sinne als originell wie innovativ. Charakteristischerweise wurzelt die Renaissance einer alten Idee
Die in urbanistischen Trendlaboren in New York, London und Amsterdam ausgebrüteten Wohnideen mögen als "hip" gelten; im Endeffekt sind sie weniger innovativ als resignativ. Verkleidet ins architektonische Gewand der "New wave of postmodernism", illustrieren sie höchst eindrucksvoll die Schrumpfung politischer Scheinspielräume in der Gestaltung der Wohnungsmärkte. Auch das in postkritischer Naivität als Renaissance der Kommune gefeierte Modell des co-housing oder co-living (Hybrid zwischen Appartement-Archipel und Service-Hotel) kann als "alternative" Form des Wohnens nur falsch verstanden werden. Kollektivistische Metaphern, Utopien von Nachhaltigkeit und Basisdemokratie verklären (oft mit einem kräftigen Schuss Esoterik) nur die sozialen Härten eines erdrückenden Immobilienmarktes.
Tiny-Houses im Sinne des Wortes sind indes schon lange die sich den Normen einer massenmedial justierten Wohnästhetik entziehenden "Mobilien" der Wagenburgen.
Brauchen wir eine Ethik des Wohnens?
Das Heidegger’sche Gebot, das Wohnen als etwas Fragwürdiges zu bedenken, mündet in eine Ethik des Wohnens. "Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben."
Da die "freie" Entfaltung Glück suchender Lebensformen kaum von der Macht göttlicher Weisheit beschnitten werden dürfte, reklamiert sich die Sammlung aller nur erdenklichen reflexiven Vermögen des Menschen – mit anderen Worten: die Kritik seines Denkens und Wollens. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Gefühle eine leitende Rolle spielen, weshalb diese auch in allererster Linie Gegenstand einer kritischen Prüfung der Folgen einer (schrankenlosen) Verwirklichung von Wohnwünschen werden müssten. Das normativ leitende Maß der Bewertung kann nur im Wissen um die Grenzen möglichen Wohnens liegen. Deshalb merkte Aristoteles zum Streben der Menschen nach Glückseligkeit an: "Daß aber die Schicksale der Nachkommen und aller Freunde die Glückseligkeit ganz und gar nicht berühren sollen, erscheint doch allzu inhuman und den allgemeinen Überzeugungen widersprechend."
Eine Ethik des Wohnens liefe auf ein existenzphilosophisches Evaluationsprogramm hinaus. Als Chiffre der "Sorge"
Schnell steigende Zahlen der von Obdachlosigkeit Betroffenen