I. Einleitung
Eine zentrale Erkenntnis der Risikowahrnehmungsforschung ist: Die Risiken, die Menschen ängstigen und empören, sind nicht unbedingt die Risiken, an denen sie (statistisch gesehen) am häufigsten sterben. Wissenschaftliche Risikoforschung, Massenmedien und sog. Laien zeichnen höchst unterschiedliche Bilder der "Risikowirklichkeit". Die öffentliche Aufregung über Risiken entspricht in vielen Fällen nicht der wissenschaftlichen Risikoeinschätzung. Meist wird die Diskrepanz als Irrationalität oder Täuschung gewertet und die wissenschaftliche Risikobeschreibung als Kriterium zur Bewertung der Angemessenheit der Medienberichterstattung und der Risikowahrnehmung durch Laien herangezogen.
Allerdings gibt es nicht nur einen Dissens zwischen Experten und Medien bzw. Laien, sondern auch die Diskussion unter den Experten selbst ist häufig durch Unsicherheit und Kontroversen geprägt. Häufig lässt sich gar keine einheitliche wissenschaftliche Bewertung eines Risikos mehr finden. Dies hat Folgen sowohl für das Risikomanagement durch die dafür verantwortlichen Institutionen wie auch für die Risikowahrnehmung der Öffentlichkeit.
Im Folgenden skizzieren wir zunächst die "Regeln", nach denen wissenschaftliche, mediale und individuelle Risikokonstrukte erstellt werden. Danach erörtern wir die Konsequenzen der Diskrepanz dieser Risikokonstrukte für das gesellschaftliche Risikomanagement.
II. Die wissenschaftlich-technische Sicht auf Risiken: Risikoabschätzung
Den Kern des wissenschaftlich-technischen Risikobegriffs bilden die beiden Parameter Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeit für den Schadenseintritt. Die spezifische Art der Verknüpfung und Operationalisierung von Schaden und Wahrscheinlichkeit variiert in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Während beispielsweise in der technischen Risikoanalyse Risiko als Produkt von Schaden und Wahrscheinlichkeit definiert wird,
Die methodischen Verfahren zur wissenschaftlich-technischen Beurteilung von Risiken werden unter dem Begriff Risikoabschätzung (risk assessment) zusammengefasst. Ziel einer Risikoabschätzung ist die Identifizierung und quantitative Beschreibung des Risikos. Je nach dem, ob es um die Abschätzung von Gesundheitsrisiken oder von Risiken technischer Systeme geht, werden unterschiedliche Verfahren eingesetzt.
Bei der Abschätzung von Gesundheitsrisiken werden meist vier Schritte unterschieden:
Bei der Bestimmung der Risiken technischer Anlagen
Bei allen Verfahren der Risikoabschätzung spielen Vorannahmen und Entscheidungen von Experten eine wesentliche Rolle. Schon bei der Identifizierung von Gesundheitsgefahren stellt sich beispielsweise die Frage, auf welche Gesundheitsschäden sich die Risikoabschätzung beziehen soll. Sollen nur tödliche oder chronische Schädigungen betrachtet oder sollen auch Befindlichkeitsstörungen berücksichtigt werden? Die vor dem Hintergrund begrenzter zeitlicher und ökonomischer Ressourcen in der Regel erforderliche Auswahl kann sicherlich in den meisten Fällen gut und nachvollziehbar begründet werden: Man konzentriert sich - jedenfalls zunächst - auf die schwerwiegenden Schäden.
Ein zentrales Problem wissenschaftlicher Risikoabschätzung ist der Umgang mit Unsicherheiten. Hierzu sind ebenfalls eine Fülle von Annahmen und Entscheidungen erforderlich. Beispielsweise muss bei der Auswahl statistischer Daten für eine Abschätzung der Häufigkeit von Schadensereignissen der zeitliche und räumliche Horizont festgelegt werden, für den Daten erhoben bzw. vorhandene Daten genutzt werden sollen, und es müssen Entscheidungen über die zu fordernde Datenqualität getroffen werden. In vielen Fällen können die erforderlichen Daten nicht direkt erhoben, sondern sie müssen geschätzt werden. So lässt sich etwa bei der erwähnten Expositionsabschätzung meist nicht unmittelbar messen, in welchem Maße ein bestimmter Schadstoff auf Menschen einwirkt. Es können unterschiedliche Teilpopulationen über verschiedene Expositionspfade für unterschiedliche Zeiträume mit verschiedenen Intensitäten exponiert sein. Die Abschätzungen all dieser Aspekte sind mit Unsicherheiten behaftet, die bei der Expositionsabschätzung berücksichtigt werden müssen.
Diese Beispiele zeigen, dass wissenschaftliche Risikoabschätzungen nicht ohne Vorannahmen und Entscheidungen durch Experten erfolgen können. Der amerikanische Soziologe Allan Mazur hat entsprechend für eine Reihe von Risikofeldern nachgewiesen, dass Faktoren wie Geschlecht der Experten, besuchte Universität, Fachdisziplin und politische Einstellung erheblichen Einfluss auf die Risikourteile nehmen.
III. Die Sicht der Medien auf Risiken: Risikojournalismus
Massenmedien greifen bei ihrer Berichterstattung zwar regelmäßig auf wissenschaftliche Risikoanalysen und Informationsquellen zurück, doch thematisieren sie Risiken überwiegend nicht in Form einer Popularisierung der Risikokonstrukte der Experten. Vielmehr integrieren sie Risikoaussagen von Experten in "Stories", in denen sie die Öffentlichkeit warnen und aufrütteln, Fehlverhalten von Staat, Wirtschaft und Verbänden aufdecken, ihre Leser aufklären und beraten oder politische Vorgänge erläutern.
Entsprechend lässt die Berichterstattung der Medien über Risiken sehr zu wünschen übrig, wenn man sie nach dem Kriterium der Übereinstimmung mit den Risikokonstrukten der Experten beurteilt. Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans-Mathias Kepplinger und andere Autoren zeigen anhand eines Vergleichs des Umfangs der Medienberichterstattung über ein bestimmtes Risiko mit der von Experten bestimmten Größe dieses Risikos, dass die Medienaufmerksamkeit kaum mit der tatsächlichen Risikohöhe korreliert.
Gegen diese Medienkritik lässt sich allerdings einiges einwenden, vor allem, dass Massenmedien in unserer Gesellschaft andere Aufgaben besitzen als möglichst genau - und zwar mit den Augen der Experten - die Wirklichkeit zu beschreiben. Zwischen den verschiedenen Aufgaben gibt es zudem Zielkonflikte, sodass jede Berichterstattung selbst im optimalen Fall nur ein Kompromissprodukt sein kann.
Fast immer stellen Journalisten Risiken in einen praktischen Entscheidungszusammenhang. Dabei lassen sich drei typische Kontexte unterscheiden:
1. Alltagshandeln, mit dem wir selbst direkt oder indirekt Einfluss auf unsere Gesundheit, Sicherheit oder den Zustand unserer Umwelt nehmen: Rauchen, Anlegen von Sicherheitsgurten, "Safer Sex"-Praktiken, Ernährung, Abfallsortierung, Energiesparverhalten usw. Bei diesen Alltagsentscheidungen geht es um die Wahl zwischen Bequemlichkeit, Gewohnheit und Genuss auf der einen sowie Gesundheit, Sicherheit und Umweltqualität auf der anderen Seite. In diesem Bereich wollen die Medien ihr Publikum über die Risiken informieren und aufklären, In den meisten Fällen wollen sie warnen, manchmal auch beruhigen. Die Journalisten lassen Experten zu Wort kommen, die über das Risiko aufklären und Vorschläge für ein risikoärmeres Verhalten machen.
2. Entscheidungen von Unternehmen und Behörden über die Implementierung neuer Risikoquellen: Kraftwerke, Chemiefabriken, Müllverbrennungsanlagen, gentechnisch veränderte Lebensmittel, Flughäfen, forensische Kliniken sowie neuerdings UMTS-Sendemasten usw. In diesen Entscheidungen steht der Vorteil aus der Nutzung einer Technologie oder dem Betrieb einer Anlage der Gefährdung von Anwohnern einer Anlage oder die Schädigung der Umwelt gegenüber. Hier stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit der neuen Risikoquelle. Mit welchen Argumenten lässt sich begründen, dass die Umwelt oder betroffene Personen den von den Anlagen oder Technologien ausgehenden Gefahren ausgesetzt werden dürfen? In diesem Bereich kommt es zu erbitterten öffentlichen Risikokontroversen, die dann auch in den Massenmedien ausgetragen werden. Beispiele sind die Kontroversen um Kernenergie, Gentechnik, Mobilfunk-Sendemasten und Müllverbrennungsanlagen.
3. Politisch-administrative Regulation existierender Risiken sowohl zivilisatorischen als auch natürlichen Ursprungs: Genehmigung von technischen Anlagen, Hochwasserschutz, Impfprogramme, Verbot riskanter Technologien und Produkte, Schutz der Verbraucher vor BSE-belastetem Rindfleisch, Implementierung von politischen Programmen zur Reduzierung der CO2-Emissionen usw. Politische Gremien oder die zuständigen Behörden wägen in diesen Entscheidungen die (volkswirtschaftlichen) Kosten der Maßnahmen zur Risikominimierung gegen die Risiken selbst ab. "Wie sicher ist sicher genug?" lautet dabei die Streitfrage, die zu ähnlich intensiven Risikokontroversen führen kann, wie die um die Schaffung neuer Risikoquellen.
Gemeinsam ist den beiden letztgenannten Kontexten, dass es um die Legitimation von Risikozumutungen geht - sei es bei der Schaffung neuer Risikoquellen wie im zweiten Entscheidungskontext, oder bei der Tolerierung von "Restrisiken" durch Risikoregulatoren wie im letztgenannten Kontext. In den aktuellen Risikokontroversen finden wir nicht selten beide Formen miteinander verquickt.
Die Massenmedien lassen in diesen Kontroversen die Kritiker von Unternehmensentscheidungen und staatlichen Entscheidungen umfassend zu Wort kommen. Sie berichten über beide Standpunkte, wobei ihre Sympathie manchmal der einen, manchmal der anderen Seite gilt. Die journalistische Darstellung der Art und Höhe von Risiken ist in diesen Risikodebatten untrennbar verknüpft mit der Kontroverse über ihre Akzeptanz.
Die Darstellung von Risiken in der Berichterstattung der Massenmedien ist also stark geprägt von den Entscheidungskontexten, in deren Rahmen die Risiken betrachtet werden. Das hat u. a. zur Konsequenz, dass der journalistische Fokus auf denjenigen Aspekten liegt, die von den typischen Mediennutzern als relevant für ihre Urteile und Entscheidungen angesehen werden. In deren Kalkülen spielt aber die statistische Höhe eines Risikos nur eine untergeordnete Rolle.
Ebenso reicht die Vorbildung der meisten Mediennutzer nicht aus, elaborierte Expertenkalküle zu verstehen. Laien verlassen sich daher eher auf zusammenfassende Urteile und beurteilen deren Validität aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen oder der Glaubwürdigkeit der Quelle. Das mag man beklagen, aber in einer Gesellschaft mit stark ausdifferenzierten und spezialisierten Wissensbeständen gibt es dazu wohl kaum eine Alternative. Überspitzt heißt das: Statt mit dem Funktionieren von Technik und dem Risiko des Versagens von Technik befassen sich die Medien in erster Linie mit dem Funktionieren von Risikopolitik und Risikoforschung sowie dem Risiko des Versagens der entsprechenden Institutionen.
Abgesehen von der serviceorientierten Berichterstattung nach dem Muster der Gesundheitsaufklärung politisiert der Journalismus Risikothemen, d. h. er präsentiert sie in einem politischen Entscheidungskontext. Die Berichterstattung spiegelt daher weniger das Risiko an sich als vielmehr die politischen Vorgänge mit Bezug auf ein Risiko. Der Journalismus verwendet wissenschaftliche Risikoinformationen und lässt auch Experten zu Wort kommen, fügt diese Informationen und Informationsquellen aber in den politischen Zusammenhang ein. Die zentrale Leistung der medial vermittelten öffentlichen Kommunikation ist daher die Transformation von Bedrohungen in politisch bearbeitbare Entscheidungsprobleme, nicht dagegen die akribische wissenschaftsnahe Charakterisierung dieser Bedrohungen.
IV. Die Sicht der Laien auf Risiken: Risikowahrnehmung
Im Vergleich zur wissenschaftlich-technischen, quantitativen Risikoabschätzung ist die Risikowahrnehmung zugleich einfacher und umfassender. Einfacher ist sie insofern, als sie sich nicht auf ein methodisch ausgefeiltes und systematisch anzuwendendes Verfahren stützt; umfassender, als sie neben der Schwere des Schadens bzw. seiner Wahrscheinlichkeit noch zahlreiche "qualitative" Aspekte einschließt, die bei der wissenschaftlich-technischen Risikoabschätzung keine Berücksichtigung finden.
- die Kontrollierbarkeit des Risikos: Risiken, die als kontrollierbar angesehen werden, werden im Vergleich zu solchen, die als nicht kontrollierbar eingeschätzt werden, als weniger riskant beurteilt;
- die Freiwilligkeit der Risikoübernahme: Freiwillig eingegangene Risiken werden in der Regel geringer eingeschätzt und eher akzeptiert als auferlegte, unfreiwillige Risiken;
- das Katastrophenpotenzial: Risiken, bei denen viele Personen "auf einen Schlag" geschädigt werden können, werden als riskanter wahrgenommen als solche, bei denen die gleiche Zahl von Schadensfällen, aber verteilt über Raum und Zeit, zu erwarten ist;
- die Einschätzung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes zu einem Risiko: Unsicherheiten in wissenschaftlichen Risikoabschätzungen führen nicht so sehr zu einer skeptischeren Risikobeurteilung als vielmehr zu einer Sensibilisierung dafür, dass hier ein potenziell kritisches Risiko vorliegt, dem Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Weitere Aspekte, die für die individuelle Risikowahrnehmung eine Rolle spielen, sind die persönliche Betroffenheit vom Risiko, die Vertrautheit mit dem Risiko, der persönliche Nutzen der Risikoquelle, die Verteilung von Nutzen und Risiko in der Gesellschaft sowie mögliche Auswirkungen auf zukünftige Generationen.
Neben diesen qualitativen Risikoaspekten spielt für die Risikobeurteilung von Laien auch die subjektive Wahrscheinlichkeit von Schadensereignissen eine Rolle. Allerdings verfügen die Menschen im Alltag in der Regel nicht über die notwendigen statistischen Daten, um zu akkuraten Wahrscheinlichkeits- bzw. Häufigkeitseinschätzungen zu kommen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass gerade in den Medien Wahrscheinlichkeitsinformationen vernachlässigt werden. So benutzen Laien für ihre Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten häufig Heuristiken, d. h. vereinfachende mentale Strategien, die es gestatten, Wahrscheinlichkeiten mit geringem kognitiven Aufwand und ohne umfassende Informationssuche abzuschätzen: Menschen schätzen z. B. die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen umso höher ein, je leichter sie sich diese oder ähnliche Ereignisse vorstellen oder sich an sie erinnern können, je leichter diese also kognitiv "verfügbar" sind.
Das umfassende Risikokonzept von Laien, in das zahlreiche Kontextfaktoren mit eingehen, macht ihre Risikobeurteilung aber auch anfällig für Variationen des Kontextes, die das "tatsächliche" (im Sinne von statistisch ermittelte) Risiko gar nicht betreffen, trotzdem aber die Risikowahrnehmung beeinflussen. Dies kann zum Beispiel durch eine Veränderung der Risiko-Perspektive bewirkt werden. Experimente der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky haben gezeigt, dass Menschen bei risikobezogenen Entscheidungen unterschiedliche Präferenzen zeigen, je nachdem, ob das Entscheidungsproblem in einer Gewinn- oder in einer Verlustperspektive dargestellt wird.
Auch über die Veränderung sozialer Kontextinformation kann die Risikowahrnehmung beeinflusst werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Massenmedien meist nicht in isolierter, auf die wissenschaftlichen Fakten beschränkter Form berichten, sondern die Risiken in einen sozialen Handlungszusammenhang eingebettet werden. Solche Darstellungen erfolgen oft in einer emotionalisierenden Weise; es geht z. B. um Skandalgeschichten, Enthüllungsstories oder Katastrophenerzählungen. Dargestellt werden etwa die Personen und ihre Rollen im "Risikodrama" (Täter, Opfer) sowie die Motive, aus denen heraus ein Risiko entsteht.
V. Divergierende Risikokonstrukte: Konsequenzen für die politische Risikoregulation
Wenngleich die Medien nicht nur über Risikozumutungen berichten, sondern auch die Risiken thematisieren, die aus freiwilligem Risikoverhalten resultieren, so führen die eben skizzierten Mechanismen der individuellen Risikowahrnehmung doch dazu, dass vor allem die zugemuteten Risiken als bedrohlich eingeschätzt werden. Das sind auch genau die Risiken, die im Rahmen des politisch-institutionellen Risikomanagements behandelt werden müssen. Die öffentliche Risikowahrnehmung erzeugt dabei mitunter zusätzlichen Handlungsdruck - vor allem, wenn sie sich in Form von Bürgerinitiativen o. ä. manifestiert. Das wiederum geschieht vor allem dann, wenn die Experten zu keiner einheitlichen Risikoabschätzung kommen, denn Risikokontroversen können nur entstehen bzw. fortbestehen, wenn sie sich auf einen Dissens der Experten gründen.
In solchen Situationen muss politische Entscheidungskraft die fehlende wissenschaftliche Sicherheit ersetzen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die politische Entscheidungsfindung zu einem Risiko - etwa über die Setzung von Grenzwerten oder das Verbot einer Technologie - nicht mehr zu begründen wäre. Sie kann lediglich nicht mehr durch eine gesicherte wissenschaftliche Risikoabschätzung begründet werden. Hier müssen andere Entscheidungskriterien herangezogen werden. In der Diskussion um die Regulierung kontrovers eingeschätzter Risiken wird zur Zeit die Anwendung des Vorsorgeprinzips als eine wesentliche Entscheidungshilfe diskutiert.
Der Terroranschlag vom 11. Septemer 2001 in New York hat eine weitere Schwäche wissenschaftlicher Risikoabschätzung deutlich gemacht: die Schwierigkeit, neue Risiken zu antizipieren. Zwar ist jede Risikoabschätzung in gewisser Weise eine Antizipation, denn Aussagen über Risiken haben den logischen Charakter von Prognosen, da sie Erwartungen über zukünftige mögliche Schäden darstellen. Solche Prognosen gelingen dann besonders gut, wenn sich die Vergangenheit leicht in die Zukunft extrapolieren lässt, weil beide einander sehr ähnlich sind. Diese wissenschaftliche Konstruktionsregel, die Extrapolation statistischer Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft, die sich beispielsweise bei der Kalkulation des Risikos des Straßenverkehrs bewährt, hat - rückblickend - bei der Einschätzung des Risikos eines Mega-Terrorismus völlig versagt. Die Autoren von Katastrophenfilmen haben hier wesentlich realistischere Risikobeschreibungen vorgelegt als die wissenschaftliche Risikoforschung. Das heißt, dass Experten erheblich zuverlässiger bei der Analyse bekannter Risiken als bei der Antizipation neuer Risiken sind.
Es wäre allerdings völlig verfehlt, wollte man damit die Bedeutung der wissenschaftlichen Risikoforschung für einen vernünftigen gesellschaftlichen Umgang mit Risiken herunterspielen. Denn wie gezeigt wurde, stimmt ja alles, was Medienkritiker an der Medienberichterstattung über Risiken bemängeln - z. B. Ungenauigkeit, fehlende Systematik und Kontinuität, Übertreibungen oder die Vernachlässigung von Informationen über die Eintrittswahrscheinlichkeit. Und ebenso wenig kann man bei der Risikoabschätzung auf die Risikowahrnehmung der Öffentlichkeit setzen. Ein fundiertes Urteil über die Risikohöhe (im Sinne eines statistisch zu erwartenden Schadens) kann man daher weder von den Medien noch von der Bevölkerung erwarten, sondern - wenn überhaupt - am ehesten von den Experten. Überall da, wo es auf ein systematisches und fundiertes Wissen über Risiken ankommt, wäre es fatal, würde man sich auf die Wirklichkeitskonstrukte von Medien und Laien stützen.
Mediale und individuelle Risikokonstrukte dürfen aber nicht in erster Linie als Zerrbilder der Expertenkonstrukte begriffen werden. In ihnen manifestieren sich gesellschaftliche und individuelle Wertvorstellungen. Sie haben eine aufmerksamkeitslenkende und alarmierende Wirkung, und sie erzeugen Krisen im politisch-administrativen System und bei der Industrie. Solche Krisen wiederum verunsichern. Sie stören eingeschliffene Routinen und fördern das Überdenken der gängigen Praxis. Kurz: Sie sind durchaus eine Chance für Veränderung und Innovation im Umgang mit Risiken. Bei der Nutzung dieses Veränderungspotenzials sind wiederum wissenschaftliche Experten und professionelle Risikomanager gefragt.