Einleitung
Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen und ein klassisches Kollektivgut. Die Bewahrung oder Wiederherstellung von Sicherheit hat im Wertehaushalt der Bevölkerung einen hohen Stellenwert. Angesichts des rasanten sozialen und politischen Wandels drückt der Wunsch nach Sicherheit zugleich eine elementare Hoffnung moderner Gesellschaften aus. In öffentlichen Debatten und in der politischen Auseinandersetzung ist der Begriff Sicherheit eine zentrale Kategorie. In der modernen Welt ist es die staatliche Ordnung, der vor allem und in erster Linie die Aufgabe zufällt, die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten. Nicht erst seit dem 11. September 2001 ist die Sicherung des inneren und äußeren Friedens die vornehmste Aufgabe des Staates und der politischen Institutionen.
Damit könnte es sein Bewenden haben, wäre da nicht ein Problem, das uns allen in den letzten Monaten wieder bewusst geworden ist. Ebenso alt wie die Sicherheit gewährleistende Funktion des Staates ist auch die Furcht vor seiner Macht. Sicherheit und Freiheit der Bürger befinden sich stets in einem Spannungsverhältnis - auch in demokratischen Verfassungsstaaten. Sicherheit hat einen Preis: Wir geben ein erhebliches Maß an individueller Freiheit her und unterwerfen uns - mehr oder weniger freiwillig - allen möglichen Regeln, Vorschriften und Einschränkungen in der Erwartung, dafür Sicherheit zu gewinnen.
In seiner 1929 entstandenen Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" hat Sigmund Freud den Verzicht des Einzelnen auf uneingeschränktes Ausleben der eigenen Triebe und Freiheitsmöglichkeiten zugunsten von Gemeinschaftsregeln, Recht und anderen normativen Vorgaben und Regeln als wesentliches Merkmal moderner Zivilisation dargestellt. Was der Einzelne dafür gewinne, sei Sicherheit: "Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht."
Wie aber steht es um das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit? Welche Bedeutung haben Sicherheit, Unsicherheit und Vertrauen (in Sicherheit) in modernen Gesellschaften, und welche Rolle kommt ihnen bei der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu, nachdem überkommene Normen und Regeln, die tradierten, Sicherheit gewährenden oder zumindest versprechenden Konzepte obsolet geworden sind oder versagen und die alten Ordnungskonfigurationen ihre Bindekraft verlieren? Was kann Sicherheit in einer multipolaren, durch wachsende Unübersichtlichkeit bestimmten internationalen Ordnung bedeuten? Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich eine sozialwissenschaftliche Betrachtung des Sicherheitsproblems konfrontiert sieht.
Im Folgenden werde ich zuerst dem Bedeutungsgehalt des in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte häufig pejorativ besetzten oder normativ überlasteten Begriffs Sicherheit nachgehen, um danach der Bedeutung von Sicherheit als zentraler Wertorientierung in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft und im politischen Raum nachzuspüren. In einem weiteren Schritt wird die Rolle des Staates bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung beleuchtet, um dann abschließend, am Beispiel der Debatte über "innere Sicherheit", auf einige politische Implikationen eines umfassenden Sicherheitsverständnisses hinzuweisen.
I. Soziologische und politische Dimensionen des Sicherheitsbegriffs
Sicherheit ist ein soziales Konstrukt, weil sie sich nicht so sehr auf unverrückbare soziale Gegebenheiten (z. B. klare Aussagen über ökonomische Risiken oder die Kriminalitätsentwicklung) bezieht, sondern eher auf bestimmte unterstellte soziale Gewissheiten. Als sozialwissenschaftlicher Begriff ist Sicherheit kaum präzise zu definieren, allenfalls in seinem Bedeutungsgehalt einzugrenzen. Zudem ist Sicherheit (ebenso wie "Unsicherheit") normativ hoch aufgeladen und dadurch zum "Wortsymbol einer gesellschaftlichen Wertidee" geworden, wie es Franz Xaver Kaufmann ausgedrückt hat.
Vier Bedeutungsebenen des Begriffs Sicherheit lassen sich ausmachen:
1. Sicherheit bedeutet Gewissheit, Verlässlichkeit, Vermeiden von Risiken. Abwesenheit von bzw. Schutz vor Gefahren werden mit diesem Begriff assoziiert.
2. Sicherheit meint aber auch Statussicherheit, Gewährleistung des erreichten Lebensniveaus und der Lebensumstände einzelner Menschen und/oder sozialer Gruppen sowie Bewahrung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in denen Menschen leben und sich eingerichtet haben.
3. Mit dem Begriff wird weiterhin ein bestimmtes institutionelles Arrangement assoziiert, das als geeignet erscheint, innere oder äußere Bedrohungen einer sozialen und politischen Ordnung abzuwehren.
4. Und schließlich wird Sicherheit im juristischen Sinne als Unversehrtheit von Rechtsgütern verstanden, die zu schützen und bei Verletzung wieder herzustellen Aufgabe der Rechtsordnung und des Staates ist. Einige Autoren sprechen sogar von einem Grundrecht oder Menschenrecht auf Sicherheit. Rechtssicherheit bedeutet Schutz vor willkürlicher Gewaltausübung und Beachtung von anerkannten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der individuellen Lebensführung.
Ein wesentlicher subjektiver Aspekt von Sicherheit ist das Faktum, dass moderne Gesellschaften aus der Sicht des Einzelnen überkomplex geworden und als Gesamtordnung nicht mehr durchschaubar sind. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit stößt an Grenzen. Die wachsende Komplexität aller Lebensbereiche macht ein sachliches Urteil, eine rationale Entscheidung und eine begründbare sichere Zukunftserwartung immer schwieriger.
Das Verhältnis des Einzelnen zu seiner komplexen Umwelt kann wahlweise als Überforderung, vergebliche oder gelungene Anpassung oder aber als Chance für individuelle oder kollektive Gestaltung wahrgenommen werden. Die Überkomplexität moderner Gesellschaften und die nicht präzise prognostizierbaren zukünftigen Entwicklungen produzieren eher Unsicherheit, als dass sie das Gefühl von Sicherheit als verlässliche Erwartung aufkommen lassen - diese Zusammenhänge hat Niklas Luhmann ausführlich beschrieben.
Das Sicherheitsversprechen in der modernen Welt, das sich Jahrzehnte lang auf die Erwartung einer immer besseren Beherrschung wirtschaftlicher, technischer oder anderer Lebensvollzüge und eine Minimierung der mit neuen Entwicklungen verbundenen Risiken und Unsicherheiten stützen mochte, ist brüchig geworden. Die umstandslose Verwandlung von Sicherheitsglaube in Sicherheitserwartung, in "Erwartungssicherheit", erodiert und erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit.
Unsicherheit im gesellschaftlichen und politischen Raum hat verschiedene Dimensionen: Sie kann als ökonomische, soziale und politische Unsicherheit erscheinen, und sie hat jeweils eine Binnen- und eine Außendimension.
Sicherheit nach Außen und im Inneren eines Gemeinwesens zu garantieren, ist Aufgabe staatlicher Instanzen. Angesichts neuer Bedrohungslagen - seien es Entwicklungen auf den internationalen Finanzmärkten, sei es die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität oder sei es der internationale Terrorismus - zeigt sich immer deutlicher, dass das politische Institutionengefüge nur noch bedingt in der Lage ist, angemessene und wirksame Gegenstrategien zu entwerfen und erfolgreich umzusetzen. Das Beharrungsvermögen von Institutionen und ihr Bestehen auf (sich verflüchtigender) Problemlösungskompetenz korreliert nicht mit der beschleunigten Entstehung von neuen Problemlagen. Tendenzen der Internationalisierung und Privatisierung gefährden das Regelungs- und Gewaltmonopol der Nationalstaaten, ohne dass in jedem Falle erkennbar wäre, was an seine Stelle tritt.
II. Gesellschaftliche und politische Dimensionen von Sicherheit
Damit aber ist das zentrale Problem benannt: Seit Thomas Hobbes und John Locke standen öffentliche Sicherheit und Ordnung im Zentrum staatlicher Aufgabenzuweisung. Beide Aspekte - der Schutz der Bürger vor dem Staat und der Bürger voreinander durch den Staat - sind zentrale Themen, die sich wie ein rotes Band durch die moderne Staats- und Verfassungsgeschichte ziehen.
Die Ideen der Amerikanischen und Französischen Revolution sahen die Republik als Macht, welcher der Schutz der natürlichen und vorstaatlichen Rechte der Menschen obliegt und die sie vor Angriffen gegen ihr Leben, ihre individuellen Freiheiten und ihr Eigentum schützt. Insoweit kann man die Sicherheit gewährleistende Funktion des Staates mit einem modernen Begriff als "Staatsziel" beschreiben.
In den halbkonstitutionellen, erst recht in den vorkonstitutionellen Monarchien des europäischen Kontinents hieß Sicherheit und Ordnung zuvörderst: Festigung des Status quo - zur Not mit gewaltsamen Mitteln. Dass die liberalen Verfassungen angesichts dieser Situation zu einer einseitigen Sicht auf die Freiheitsgefährdung neigten, die von der staatlichen Obrigkeit ausging, ist nur zu verständlich, führte aber gleichwohl zu einer nicht unproblematischen Verkürzung des Problems. In den liberalen Verfassungswerken des 19. Jahrhunderts hatte sich der Aspekt der Sicherheit auf Rechtssicherheit, die Abgrenzung von Zuständigkeiten und Eingriffsmöglichkeiten des Staates, auf den Schutz der individuellen Sphäre vor Übergriffen des Staates sowie die Schaffung, Sicherung und Kontrolle von Verfahren verengt, die gewährleisten sollten, dass individuelle Freiheitsrechte, Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte als sicher gelten konnten.
Der Begriff der Sicherheit, der im 19. Jahrhundert neben der klassischen politischen eine soziale Dimension erhalten hatte und sich aus seiner im liberalen Denken angelegten ausschließlichen Betrachtung der Beziehung des Individuums zum Staat löste, wurde im 20. Jahrhundert ausgeweitet. Er erhielt eine weltanschaulich-ideologische Komponente und ließ die Grenzen zwischen Innen und Außen in vielen Fällen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Sicherheit mutierte von einem dualen, das Verhältnis Bürger - Staat betreffenden zu einem multipolaren Verhältnis von staatlicher Ordnung, Individuen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen, politischen Bewegungen. Erst das Sozialstaatsverständnis des Grundgesetzes (we-sentlich ausgeformt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) hat einen Weg gewiesen, wie diese Diskrepanzen erfolgreich versöhnt werden können.
III. Sphären der Sicherheit
Politik findet heute immer mehr unter Bedingungen von Unsicherheit statt: Die Globalisierung der Wirtschaft, die Informationsrevolution und durch sie hervorgerufene, tief greifende mentale und kulturelle Veränderungen, ferner die beschleunigte Ablösung industriegesellschaftlich geprägter Sozialstrukturen und sozialer Milieus, demographische Entwicklungen und Wanderungsbewegungen, welche die Grundfesten der tradierten kulturellen Muster ebenso wie die der sozialen Sicherungssysteme erodieren lassen, die Bedrohung der demokratischen Ordnungen durch international agierende, z. T. staatlich organisierte oder doch zumindest geduldete organisierte Kriminalität, dramatische Veränderungen im internationalen System und nicht zuletzt der international agierende und vernetzte Terrorismus - all das hat das Koordinatensystem der Politik fundamental verändert. All dies sind Faktoren der Unsicherheit, auf die die Politik Antworten finden muss, obwohl zukünftige Entwicklungen kaum vorhersehbar sind und der Glaube an die Fähigkeiten vorausschauend handelnder Politik sich weitgehend verflüchtigt hat.
Unter diesen Rahmenbedingungen kann es - und dies ist die zentrale These - nicht mehr um die Garantie von Sicherheit, sondern bestenfalls um die Reduktion von Unsicherheit gehen.
Reduktion von Unsicherheit impliziert ein eingeschränktes Sicherheitsversprechen. "Absolute Sicherheit" ist angesichts sich rasant verändernder Umweltbedingungen nicht herstellbar, sie würde im übrigen Stillstand oder gar Regression bedeuten. Schon dies verbietet eine Status-quo-Politik, auch wenn sie angesichts aktueller politischer Auseinandersetzungen mit machtvollen Gruppeninteressen und eingeschliffenen Haltungen und Erwartungen der Wähler gelegentlich attraktiv erscheinen mag.
Der Staat muss nicht nur seine protektive Rolle neu definieren, sondern eine Antwort darauf finden, welche Strategien eingeschlagen werden können, um eine Dissoziation der sozialen Ordnung und des politischen Gemeinwesens zu verhindern. Diese Gewährleistungspflicht des Staates umfasst nicht nur den unmittelbar politischen Bereich, also die Formulierung von Staatszielen und die konkrete Staatstätigkeit, sondern erstreckt sich auch auf die wirtschaftliche, die soziale und die Wertesphäre.
In der wirtschaftlichen Sphäre haben veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, Internationalisierung und Globalisierung, die sich in den Staaten der Europäischen Union wesentlich als Europäisierung darstellen, sicher geglaubte wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Frage gestellt und ehemals wirkungsvolle wirtschaftspolitische Instrumente unwirksam werden lassen.
Wirtschafts- und Finanzpolitik können das Staatsziel wirtschaftlicher Prosperität bei stetigem Wachstum, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr gewährleisten. Die Vorstellung, es könne der Politik gelingen, die Wirtschaft "im Gleichgewicht" zu halten, hat sich als Illusion erwiesen; das wirtschaftliche Sicherheitsversprechen, obwohl in der politischen Auseinandersetzung immer wieder von allen Seiten beschworen, ist nicht mehr zu erfüllen.
In der sozialen Sphäre moderner Gesellschaften kommt dem Schutz des Einzelnen vor Risiken und unverschuldeten Beeinträchtigungen seiner Lebensführung ein zentraler Stellenwert zu. Die Antworten auf die in immer neuen Formen erscheinende soziale Frage könnten unterschiedlicher nicht sein: Sie reichen von (neo)liberalen Modellen über gemeinschaftsbezogene, kommunitäre Vorstellungen bis zum Konzept eines umfassenden Vorsorgestaates, der die Aufgabe der "Daseinsvorsorge"
Die integrativen Potenzen des modernen Wohlfahrtsstaates sind offenkundig erschöpft. In den postindustriellen Gesellschaften sind neue soziale Differenzierungen und Ungleichheiten, Desintegrationstendenzen und die Auflösung traditioneller Sozialmilieus Faktoren potenzieller Unsicherheiten und gesellschaftlicher Konflikte. Sie werfen daher die Frage nach den Bedingungen sozialer Integration unter veränderten gesellschaftlichen Konstitutionsbeziehungen auf, wenn denn soziale Integration als Faktor der Stabilisierung und Sicherung von Sozialbeziehungen angesehen wird. Die Frage, wie die sozialen Kosten wirtschaftlicher Veränderungen, insbesondere der Globalisierung und Europäisierung, zu tragen sind und wer die Risiken dieser Umstrukturierungsprozesse trägt, ist offen.
Gesellschaften und politische Ordnungen bedürfen schließlich - zumal in Zeiten schnellen wirtschaftlichen und sozialen Wandels - bestimmter Mindestübereinkünfte über gemeinsam akzeptierte Werte und Normen. Auf welche Werte sich eine gesellschaftliche und politische Ordnung einigen kannn, um das Zusammenleben der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zu organisieren, ist stets strittig. Minimalistische liberale Positionen, die sich auf die Normierung von Abwehrrechten der Individuen gegenüber staatlichen Machtansprüchen beschränken, konkurrieren mit Vorstellungen von einer "guten Ordnung" und der traditionell konservativen Auffassuung, dass es Aufgabe der gesellschaftlichen und politischen Ordnung sei, überkommene Werte zu sichern.
IV. Sicherheit und Ordnung - Zur Rolle des Staates
Am Beginn des modernen Staatsdenkens stand die Vorstellung, dass es erste und wichtigste Aufgabe des Staates sei, im Inneren Sicherheit zu gewährleisten, um den Bürgerkrieg zu verhindern sowie Vorkehrungen gegen Angriffe äußerer Feinde zu treffen. Seit Thomas Hobbes' "Leviathan" von 1651 wird es als Ziel staatlicher Gewalt angesehen, die Bedingungen eines Lebens in Sicherheit und die Befriedigung der individuellen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen: "Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes..."
Dieses Zieles wegen wird der Staat begründet und mit dem summum imperium, das heißt der höchsten, zur Letztentscheiduung berufenen und damit souveränen Herrschaftsgewalt ausgestattet, weil nur durch eine solche souveräne, in letzter Instanz entscheidende Institution Frieden und Sicherheit gewährleistet, zwischen Recht und Unrecht sicher unterschieden werden kann.
Der "Leviathan" beschrieb das Prinzip einheitlicher staatlicher Machtausübung. Ihm gelang es, die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die von den jeweiligen Kombattanten als "gerechte Kriege" geführt wurden, zu beenden und sich als oberster Hüter von Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu etablieren - und zu rechtfertigen. Das Ergebnis war eine Konzentration und Bündelung der Gewaltmittel in den Händen des aus den Wirren der Bürgerkriege hervorgehenden Fürstenstaates. Die Herausbildung des modernen staatlichen Gewaltmonopols, die "Verstaatlichung der Gewalt",
Die Konzentration der Machtmittel in der Hand des Staates bedeutete jedoch nicht, dass eine Verminderung von Gewalt bewirkt worden wäre. Sie konnte vielmehr zweierlei bedeuten: dass der Inhaber der Staatsgewalt, der absolute Herrscher, darüber entscheiden konnte, ob er seine Stellung zur Schlichtung von Konflikten und zur Beendigung des Bürgerkrieges nutzte, oder er selbst, wie im Frankreich der Hugenottenkriege, Bürgerkriegspartei wurde. Die Theorie der Souveränität, welche die Grundlage des Friedensmodells absoluter Herrschaft bildete, erwies sich als ambivalent, weil sie keine Vorkehrungen und Sicherungen bereithielt, um eine solche Situation zu verhindern.
Eine zweite, fortwirkende Folge der Entwicklung des Souveränitätsgedankens war, dass es zur Konzentration der physischen Machtmittel in den Händen weniger Akteure, nämlich "professioneller Gewaltspezialisten" kam: Armee und Polizei auf der einen Seite, Berufsverbrecher auf der anderen. Der große Rest der Bevölkerung wurde entwaffnet.
Die bislang unbekannte Konzentration von Macht und die Monopolisierung von Gewalt in den Händen des Staates konnte sich mit der Behauptung legitimieren, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Insoweit war auch "absolute" Herrschaft rechtlich gebunden. Ihre Rechtfertigungsgrundlage war ein materielles "Staatsziel", die Gewährung von Sicherheit und die Reduzieruung von Unsicherheit. Wurden diese Ziele nicht erreicht, entfiel die Legitimitätsgrundlage staatlicher Macht.
Der moderne Verfassungsstaat gründet auf der Einsicht, dass es damit nicht getan ist. Seit Montesquieu beschäftigt die Frage nach der Einhegung staatlicher Macht, nach Sicherheit vor Übergriffen des Staates in die Sphäre der zivilen Gesellschaft und das Privatleben der Bürger die Philosophen, Staatstheoretiker und Sozialwissenschaftler. Nach den Erfahrungen mit autoritären und totalitären Regimen im 20. Jahrhundert ist dieses Problem aktuell wie eh und je.
Aufgabe des politischen Gemeinwesens ist es, seinen Bürgern die Chance zu geben, frei und unangefochten leben zu können. Diese Möglichkeit wird nicht nur durch staatliche Intervention beeinträchtigt. Die grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen, die ungleiche Zuteilung von sozialen Chancen und wirtschaftlichen Ressourcen in modernen Gesellschaften hindern die Bürger in vielerlei Hinsicht an der freien Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse. In wachsendem Maße sind sie durch gesellschaftliche Kräfte, national und international agierende wirtschaftliche Interessen oder sich organisierende kriminelle Aktivitäten gefährdet. Die Bedrohung der Sicherheit und Freiheit der Bürger durch nichtstaatliche Herrschaft wird zunehmend zum Problem. Hier setzt die Schutzfunktion des Staates ein. Sie ist eine der wesentlichen Errungenschaften des modernen demokratischen Verfassungsstaates.
Die modernen Wohlfahrtsdemokratien verstehen Sicherheit aber noch in einem anderen Sinne als dem des Schutzes der etablierten gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Institutionen. Zumindest auf dem europäischen Kontinent traten mit den Idealen der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts Vorstellungen in die Welt, die zu einer Transformation des Rechtsstaates von einem Sicherheits- zu einem Gewährleistungsstaat führten. Der "l'Etat providence"
Jedoch ist Vorsicht geboten. Carl Joachim Friedrichs von Alexis de Tocqueville übernommene beängstigende Vision einer "freiwilligen" Aufgabe der Freiheit zu Gunsten (vermeintlicher) Gerechtigkeit und (vermeintlicher) Sicherheit, seine anthropologisch begründete Einschätzung, dass es der Wunsch der Menschen sei, möglichst bequem zu leben und dass sie daraus eine Neigung entwickelten, "das mögliche Maximum an Freiheit zu vermeiden",
Als Zwischenresümee lässt sich festhalten, dass die Gefährdung von Freiheit und Sicherheit des Menschen verschiedene Quellen hat. Es ist nicht mehr ausschließlich der Staat, der sie in Frage stellt - und wenn er es tut, dann unter Umständen in Erfüllung von "Versorgungsansprüchen" Einzelner oder gesellschaftlicher Gruppen.
Der demokratische Staat ist aber zugleich auch wichtigste Schutzinstanz gegenüber privater Macht. Er übernimmt auf neue Weise Funktionen, die nach der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts am Beginn der modernen Staatsentwicklung standen. Vor diesem Hintergrund sind alle rechtlichen und institutionellen Vorkehrungen umso bedeutender, durch die mehr relative Sicherheit in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Angelegenheiten erreicht werden soll.
Die Gewährung von Sicherheit als gesellschaftliche und als "Staatsaufgabe"
Als ebenso "sicher" kann aber auch gelten, dass weder die bisherigen Instrumente noch die territorialen Begrenzungen von Macht auf Dauer wirksam sind: Die wachsende Komplexität und Undurchschaubarkeit von Entscheidungen, vor allem aber Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse, d. h. die "Entgrenzung" von Produktions-, Distributions- und Entscheidungsprozessen, ja, die immer weiter gehende Verlagerung des Politischen aus den staatlichen Grenzen heraus auf überstaatlich agierende Akteure machen sicher geglaubte Arrangements der Einhegung von Unsicherheit obsolet und produzieren neue Unsicherheit.
V. "Innere Sicherheit"
Am Beispiel der "inneren Sicherheit" sollen diese Zusammenhänge abschließend exemplarisch aufgezeigt werden. Schon die simple Frage nach der Sicherheit wessen vor wem führt in vermintes Gelände. Ein ausschließlicher Verweis auf das klassische Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber staatlicher Willkür, die im Zentrum des Grundrechtskataloges moderner Verfassungen stehen, greift erkennbar zu kurz. Hier erschöpfen sich die Grundrechte im status negativus, sie errichten Schranken für staatliches Handeln und markieren Freiheitsräume des Einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen und Übergriffen.
Es ist vor allem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu danken, dass sich die Auslegung der Verfassung nicht auf dieses klassische Grundrechtsverständnis beschränkt. Die Grundrechte strahlen auch in die Bereiche aus, in denen sie nach klassischem Grundrechtsverständnis gar nicht einschlägig waren: in die rechtlich geregelten Beziehungen zwischen Privaten. Dem Grundgesetz liegt eine weiter gefasste Vorstellung von "Sicherheitsgewährleistung" zugrunde. Sicherheitsgewährleistung im Sinne des Grundgesetzes heißt auch Schutz privater und öffentlicher Güter vor Angriffen und Eingriffen dritter, mit Macht ausgestatteter politischer, ökonomischer oder sozialer Akteure.
Die Abwehr solcher Gefahren war klassischerweise ausschließliche Aufgabe des einfachen Rechts, vor allem des Zivil- und Strafrechts. Im neueren Verfassungsdenken wird eine Ausstrahlungs- oder Drittwirkung der Grundrechte auch in den Bereich des Privaten akzeptiert
Dies bedeutet ipso facto eine "Drittwirkung" der Grundrechte, also ihre Wirkung über das Verhältnis Staat - Bürger hinaus in die Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen hinein.
Für jedermann am deutlichsten äußert sich die Schutzpflicht der staatlichen Ordnung in der Abwehr von Risiken und Gefahren durch moderne Technologien - sei es die Gentechnologie, seien es atomare oder andere industrielle Anlagen, Auswirkungen und Beeinträchtigungen des Lebens durch Verkehr oder durch die Gefährdung der natürlichen Lebensumwelt. In seinem Urteil vom Dezember 1979 über eine Verfassungsklage gegen die Errichtung des Atomkraftwerks Mühlheim-Kärlich hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Frage der Schutzpflicht des Staates ausgeführt, dass das in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe zu verstehen sei: "Vielmehr folgt darüber hinaus aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren."
Joseph Isensee konstruiert aus dieser Schutzverpflichtung ein "Grundrecht auf Sicherheit" und entwickelt daraus - in der Tradition des Staatsdenkens seit Hobbes und Locke - die Vorstellung eines demokratischen Verfassungsstaates, dessen primäres Ziel es ist, Hüter von Sicherheit und Ordnung zu sein.
Auch wenn man die hier vorgestellte Position, zumal ihre auf einen starken Staat zielenden Schlussfolgerungen nicht teilt, kann man doch nicht umhin, einzugestehen, dass sie einen wunden Punkt treffen. Der Topos "Sicherheit und Ordnung" wurde, wenn überhaupt, in den Politik- und Sozialwissenschaften wie in der liberalen Staatsrechtslehre als konservative Reaktion auf die Emanzipation der zivilen Gesellschaft gegenüber dem Staat verstanden. Wenn man jedoch "innere Sicherheit" im klassischen Sinne als Schaffung der Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben der Bürger begreift, bleibt sie die zentrale Aufgabe des Staates.
Freilich lässt sich eine solche Auffassung nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr "naiv" vortragen, wie noch in den Anfängen modernen politischen Denkens. Tendenzen der Entwicklung eines allumfassenden Sicherheitsstaates in modernem Gewand waren auch schon vor dem 11. September 2001 zu diagnostizieren. Warnungen, dass angesichts der Entwicklung der Sicherheitspolitik die parlamentarischen Demokratien immer weniger in der Lage sein werden, die notwendige demokratische Steuerung und Kontrolle zu gewährleisten, sind nicht von der Hand zu weisen.
Angesichts moderner Gefährdungslagen von der organisierten Kriminalität bis hin zum Terrorismus erweist sich die Kompetenz des Staates, Sicherheit zu gewährleisten, nicht mehr nur an der Fähigkeit, angemessen zu reagieren, sondern in wachsendem Maße daran, ob es ihm gelingt, erfolgreich präventiv tätig zu werden. Erfolgreiche Sicherheitspolitik wird nicht nur daran gemessen, ob es ihr gelingt, Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu ahnden, nachdem sie eingetreten sind, sondern auch an ihrer Fähigkeit, Unsicherheit und Ordnungsverstöße zu verhindern.
Damit aber stehen - erneut - Grundprinzipien des modernen Rechtsstaates auf dem Prüfstand. Prävention bedeutet mehr als das Verfolgen eines je konkreten Verdachts. Methoden wie die Rasterfahndung, die bereits in den siebziger Jahren erprobt wurden, werfen ein präventives Netz über die ganze Gesellschaft, ohne dass es eines konkreten Verdachts bedarf. Dies führt erneut zu der Frage, wie weit der Staat bei der Gewährung von Sicherheit gehen und welcher Mittel staatliche Behörden und Einrichtungen sich bedienen dürfen, um dieses Ziel zu erreichen. Die in den USA nach dem 11. September 2001 praktizierten Internierungen von mehr als 5 000 jungen Menschen aus dem Nahen Osten unter Umgehung der "due-process-Klausel"
Was aber, so lässt sich fragen, ist schlecht an dem Versuch präventiver Verhinderung schwerer Straftaten?
Das traditionelle Ordnungsrecht war darauf gerichtet, eine konkrete, unmittelbar drohende Gefahr rechts- und gesetzeswidrigen Verhaltens zu verhindern und zu ahnden, wenn es geschehen war. Ausgehend von Erfahrungswerten waren Regeln zu schaffen, welche Gesetzesübertretungen erschwerten oder verhinderten. Konkrete Ermittlungen wurden bei einem begründeten Tatverdacht eingeleitet. In einer neuen Ordnungs- und Sicherheitspolitik geht es um die rechtzeitige Erkennung potenzieller Risiken und Gefahren und um die Entwicklung von präventiven Maßnahmen und Verfahren zu ihrer Vermeidung.
Freilich ist nicht immer klar, wer eigentlich Ansprechpartner des Staates bei der Prävention von Risiken ist. Sicherheit gefährdende Gefahrenquellen sind in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Lebens zu finden, ohne dass in jedem Fall die Verursacher klar zu benennen sind. Die Frage der Zurechenbarkeit ist häufig nicht eindeutig zu beantworten.
Die Kriminalpolitik bildet ein illustratives Beispiel für die Schwierigkeiten, angesichts neuer Bedrohungslagen die Freiheitsgarantie einer demokratischen Ordnung und die Gewährleistung von Sicherheit in Übereinstimmung zu bringen. Das Schwergewicht der Bekämpfung von Kriminalität verschiebt sich immer stärker von der reaktiven Ausrichtung in den Bereich prospektiver Vorbeugung und Verhinderung von kriminellen Handlungen. In hohem Maße umstritten ist, ob bestimmte neue Formen des "Policing" individueller und kollektiver Gefährdungen als eine spezifische Form von "social engineering" zu verstehen sind und eine Verlängerung klassischer Sicherheitspolitik darstellen.
Abgestützt durch einen Paradigmenwechsel in der Kriminologie - prägnant und eingängig ist die "broken windows"-Theorie
Prävention erfordert andere Mittel und Techniken als traditionelle Strafverfolgung und Repression - dazu gehört u. a. das, was das Bundeskriminalamt (BKA) "proaktive Informationsbeschaffung und Auswertung" ("intelligence") nennt,
Diese "Vorfeldaktivitäten" der Polizei berühren, wie Bundesinnenminister Otto Schily noch kurz nach seinem Amtsantritt 1998 einräumte, einen "heiklen Punkt", da zu den "unverzichtbaren Fundamenten unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung... die Achtung vor der Freiheit des Einzelnen" gehört.
Prävention war schon immer ein Aspekt der Ordnungsfunktion des Staates. Sie zielt auf die Früherkennung möglicher Störungsherde und Gefahrenquellen. Wie sich insbesondere im Kontext der Terrorismusbekämpfung in den siebziger Jahren erwiesen hat, wächst durch eine solche Verschiebung der Schwergewichte in Angelegenheiten der inneren Sicherheit der staatliche Informationsbedarf außerordentlich an, weil die Zahl potenzieller Gefahrenquellen stets ungleich größer ist als die akuten Gefahren. "Die Prävention löst sich auf diese Weise aus ihrem Bezug auf gesetzlich definiertes Unrecht und wird zur Vermeidung unerwünschter Lagen aller Art eingesetzt. Der Einzelne kann den Staat nicht mehr durch legales Betragen auf Distanz halten."
Die Gründe, die gleichwohl für einen solchen Paradigmenwechsel in der Sicherheits- und Kriminalitätspolitik angeführt werden können, liegen in der wieder entdeckten Erkenntnis, dass Kriminalprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und zu den Kernaufgaben der staatlichen Ordnung gehört.
Wenn man diese Argumentation zu Ende führt, bleibt Prävention nicht auf den Bereich der Politik der inneren Sicherheit beschränkt, sondern greift tendenziell auch auf andere "sicherheitsrelevante" Bereiche des gesellschaftlichen Lebens über.
Die Antwort ist eine Erweiterung der staatlichen Instrumentarien zur Wahrung und Herstellung von Sicherheit und Ordnung, ohne dass gesichert erscheint, dass diese auch effektiv sein können. Reaktives wie präventives staatliches Handeln ist in vielerlei Hinsicht konditioniert: durch eingegangene rechtliche Verpflichtungen, supranationales und vor allem europäisches Recht. Die Bedrohung von Sicherheit und Ordnung hat, wie die hilflose Debatte über die Bekämpfung organisierter Kriminalität belegt, längst die Grenzen überschritten. Dies gilt auch für die meisten anderen Bedrohungslagen - seien es Umweltprobleme, Entwicklungen der Biogenetik, neue Technologien, unkontrollierte Proliferation von Massenvernichtungswaffen, sezessionistische oder irredentistische Bewegungen und Bürgerkriege oder der internationale Terrorismus.
Dies bringt uns unweigerlich zu der entscheidenden Frage: Wer wird in Zukunft das teure Kollektivgut Sicherheit gewährleisten können, wenn die dafür eingesetzte Macht, wenn der Staat dazu nicht mehr in vollem Umfange in der Lage ist? Das macht die Problematik von Sicherheit und Ordnung zu einer der drängendsten Fragen für die Zukunft. Eine sicherheitstheoretische und -politische Neuorientierung erscheint unabdingbar:
1. Im klassischen Bereich der "inneren Sicherheit" zeigt sich eine zwiespältige Tendenz: Es wachsen die Bedrohungen für die soziale und politische Ordnung durch gesellschaftliche Kräfte, die in zunehmendem Maße auch transnational agieren. Sie heben die Grenzen zwischen innerer und äußerer Bedrohung auf, infiltrieren demokratische und rechtsstaatliche Verfahren und drängen Regierungen und Parlamente zu einer "Entgrenzung" und Ausweitung staatlicher Sicherungsaufgaben. Die Sicherheit gewährleistenden Institutionen des Staates werden ausgebaut, zwischenstaatliche Einrichtungen im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit im europäischen Raum neu geschaffen und ihre Eingriffsrechte in die Freiheitssphäre der Bürger ausgeweitet.
2. Auf der anderen Seite wird seit längerem das Gewaltmonopol des Staates ausgehebelt. Es ist nicht zu übersehen, dass das Kollektivgut Sicherheit immer mehr zum Aufgabengebiet nichtstaatlicher Experten wird. Private Sicherheitsdienstleistungen, Sicherheitsgewährleistung durch räumliche Segregation (z. B. gated cities) sind Tendenzen, die auf eine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols und eine Entstaatlichung von Sicherheit hinauslaufen und damit eine wesentliche Errungenschaft moderner Staatlichkeit in Frage stellen. Sicherheit wird zu einem Gut, dessen Erwerb von der individuellen wirtschaftlichen Lage abhängt.
3. Der klassische Konflikt zwischen staatlichem Sicherheitsversprechen und Abwehrrechten der Bürger bekommt eine neue Dimension. Im Konfliktfeld zwischen der Sicherheitsaufgabe des Staates bzw. zwischenstaatlicher Einrichtungen in der Europäischen Union und der Freiheitssphäre der Bürger gewinnen Prinzipien der Gerechtigkeit und Fairness, der Akzeptanz von Sicherheit gewährleistenden Institutionen und der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber den klassischen repressiven Funktionen von Sicherheitsspezialisten an Bedeutung.
4. Sicherheit als Wertidee bedeutet keine auf "ewig" angelegte verbindliche und allgemein akzeptierte Übereinkunft darüber, was dieser Begriff beinhaltet. Sie ist nichts ein für alle Mal Festgeschriebenes, sondern bedarf angesichts veränderter Umstände und neuer Entwicklungen einer steten Neujustierung. Infragestellen von sicher Geglaubtem produziert aber ebenso Unsicherheit wie Furcht vor Neuem, Unbekanntem.
5. Sicherheit und Ordnung lassen sich, wie dargelegt, nicht auf den engeren Bereich der "inneren Sicherheit" reduzieren, sondern berühren in vielerlei Hinsicht die verschiedenen Sphären der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Ein solcher erweiterter Begriff von Sicherheit und Ordnung, der die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben der Bürger und ihren Schutz vor inneren und äußeren Bedrohungen nicht auf die Aspekte staatlicher Machtentfaltung gegenüber Störungen jedweder Art reduziert, sondern die sozialen, ökonomischen, politischen und normativen Bedingungsfaktoren in die Analyse einbezieht, kommt nicht umhin, einzugestehen, dass der Staat allein die neuen Probleme nicht bewältigen kann und dass es auch zweifelhaft ist, ob man dies wünschen sollte. Es bedarf vielmehr einer neuen Zusammenarbeit des Staates mit gesellschaftlichen Akteuren, einer neuen Verbindung von gesellschaftlicher Selbstregelung und politischer Steuerung.
Der Staat als alleiniger, demokratisch autorisierter Garant von Sicherheit und Ordnung sieht sich angesichts der neuen Sicherheitsgefährdungen vor bislang unbekannte Herausforderungen, wenn nicht gar in Frage gestellt. Er hat sein Monopol bereits in wichtigen Bereichen aufgeben müssen oder freiwillig geräumt. Seine neue Rolle im Widerstreit gesellschaftlicher Gruppen und Interessen, internationaler Regime, supranationaler Institutionen und intergouvernementaler Zusammenarbeit ist erst in Umrissen erkennbar - ganz zu schweigen von den Gefahren, die ihm durch die Desintegration, den Zerfall von Staatlichkeit, die erneute Privatisierung des Krieges und den international agierenden Terrorismus drohen.
Nur eines erscheint "sicher": Am Ende eines langen und schmerzhaften Prozesses wird eine neue Form von Staatlichkeit stehen. Wie diese aussehen wird, ist offen. Dass aber der Staat - oder ein eng verflochtener Staatenbund wie die Europäische Union -, wenn er seine regulierende Rolle und sein Monopol auf legitimierte Gewaltausübung nicht endgültig an private Mächte verlieren will, einen Pakt mit denjenigen Gruppen der Gesellschaft eingehen muss, die zu einer friedlichen Konfliktregelung bereit sind, erscheint unausweichlich. Ebenso deutlich aber ist, dass er in einem neuen Sinne "starker Staat" sein muss - fähig und willens, Frieden, Sicherheit und Freiheit auch gegen Widerstand zu verteidigen und durchzusetzen.