I. Einleitung
Ihren Durchbruch erlebte die Umfrage- und insbesondere die politische Meinungsforschung 1936 in den Vereinigten Staaten, als George Gallup auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen richtig vorhersagte - anders als die Zeitschrift "Literary Digest". Diese war nach Auswertung von über zwei Millionen beantworteten Fragebögen davon überzeugt, Alfred M. Landon und nicht Franklin D. Roosevelt werde die Wahl gewinnen. Mit seinem American Institute of Public Opinion prognostizierte Gallup hingegen durch Befragung von lediglich wenigen tausend Personen - ausgewählt anhand eines der Gesamtbevölkerung entsprechenden Quotenschlüssels - nicht nur das Wahlergebnis, sondern auch die zu erwartende Fehlschätzung des "Literary Digest". "Unversehens wurde sich die Öffentlichkeit bewusst, dass sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Phänomen der politischen Meinung anwenden ließ."
Mit diesem spektakulären Erfolg setzte der Siegeszug der Demoskopie ein, und trotz zeitweiliger Rückschläge - nicht zuletzt Gallups Fehlprognose bei den Präsidentschaftswahlen von 1948
Nach Gründung der Bundesrepublik schossen zahlreiche privat geführte Befragungsinstitute aus dem Boden, und ihre Zahl hat bis heute stetig zugenommen. Auch entstand eine Reihe von universitären und mit öffentlichen Mitteln finanzierten Einrichtungen, die sich der Umfrageforschung in Theorie und Praxis widmen; zu den wichtigsten gehören das Kölner Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA), das Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) und das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Die Demoskopie bildet heute einen bedeutenden, weiter expandierenden Dienstleistungssektor - und Wissenschaftszweig gleichermaßen.
Die Kritik an der Demoskopie ist dabei so alt wie die Demoskopie selbst, und an ihr scheiden sich weiterhin die Geister. Gilt sie den einen als Mess-, so den anderen als Einflussinstrument. Loben sie die einen als Möglichkeit zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft, so erkennen die anderen darin ein gefährliches Herrschaftswissen, Macht- und Propagandamittel. Doch ungeachtet der fortdauernden Kritik ist die Meinungsforschung aus dem politischen Leben nicht mehr wegzudenken;
Die Nachfrage nach solchen Enqueten hat in den vergangenen Jahren noch zugenommen; schließlich gilt - überspitzt formuliert - folgender Zusammenhang: "Je mehr Wahlen im Ergebnis neben festgefügten Strukturen auch von der Beweglichkeit einer größeren Wählergruppe abhängen, desto spannender werden sie, desto genauer betrachten die Parteien die Ergebnisse der Wahlforschung, desto größer wird der Einfluss der Meinungsforschung."
Der Wähler ist unberechenbarer geworden. Seit Jahren diagnostizieren die Wahlforscher das Aufbrechen fester Sozialmilieus, eine nachlassende Parteiidentifikation, eine gestiegene und weiter steigende Zahl von Wechselwählern sowie eine größere Neigung zum Stimmensplitting. Dies alles lässt Regierungswechsel wahrscheinlicher erscheinen als früher. Das bundesdeutsche Parteiensystem ist in Bewegung geraten, weist nicht länger die Stabilität vergangener Jahrzehnte auf.
Obgleich es an gesicherten empirischen Befunden mangelt,
Angesichts dieser Entwicklungen und der Tatsache, dass sich die Meinungsforschung - trotz des ihr weiterhin entgegengebrachten Argwohns - fest im politischen System des demokratischen Verfassungsstaates etabliert hat und an Bedeutung eher noch gewinnt als verliert, will dieser Beitrag eine Bestandsaufnahme zu den politischen Wirkungen der Demoskopie vornehmen. Er vermittelt einen Überblick über ihr Verhältnis erstens zu den Politikern und zweitens zur Bevölkerung. Ist Demoskopie nun, um ein Wort des Historikers Hermann Oncken über die öffentliche Meinung abzuwandeln, eine "wirkliche Macht, auf die auch die Staatsmänner blicken", oder ein "Faktor ohne politische Bedeutung"?
II. Politiker und Demoskopie
Die Ergebnisse der Demoskopie grundsätzlich zu ignorieren wird sich kaum eine Partei, kaum ein Politiker erlauben, auch wenn in ihren Kreisen das Bekenntnis, nicht zu den "Umfragegläubigen" zu gehören, fast schon zum Ritual geworden ist. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt beispielsweise ließ sich ab Beginn der vierziger Jahre von Hadley Cantril, einem an der Universität Princeton lehrenden Meinungsforscher, beraten. Roosevelt wollte zwar nicht die inhaltliche Gestaltung seiner Politik von demoskopischen Daten bestimmen lassen, aber er nutzte die neuen Kenntnisse für taktische Erwägungen - etwa um festzustellen, zu welchem Zeitpunkt die Durchsetzung einer bestimmten Politik günstig wäre. Keiner der späteren Regierungsoberhäupter sollte künftig über Umfrageergebnisse hinwegsehen. Lyndon B. Johnson wurde sogar nachgesagt, er trage die neuesten Daten über sein Ansehen in der Bevölkerung stets bei sich. Im Laufe der Jahre erhöhten die amerikanischen Regierungen ihre Budgets für die Erfassung der öffentlichen Meinung, und der Grad der Institutionalisierung nahm zu. Bald beauftragte die Administration nicht mehr nur privatwirtschaftliche Meinungsforschungsinstitute mit Umfrageprojekten, sondern schuf auch eigene Einrichtungen.
In Deutschland unternehmen die verschiedenen Regierungen und ihre Öffentlichkeitsabteilungen ebenfalls seit langem einige Anstrengung, um die öffentliche Meinung systematisch zu beobachten.
Es lassen sich denn auch (glücklicherweise) immer wieder wichtige Entscheidungen finden, die verantwortlich handelnde Politiker gegen die demoskopisch dokumentierte Meinung der Bevölkerung getroffen haben - man denke etwa in der frühen deutschen Nachkriegsgeschichte an die Wiederbewaffnung oder die Abschaffung der Todesstrafe.
Der CDU-Wahlkampfexperte Peter Radunski fasst die Leistungen der Wahl- und Meinungsforschung für den Wahlkampf in zehn Punkten zusammen:
1. vermitteln regelmäßige Umfragen Grundstimmungen und Grundtrends in der Bevölkerung und ergänzen so das Bild, das die Politiker aus der veröffentlichten Meinung gewinnen;
2. hilft die Themenanalyse unter anderem festzustellen, welche Probleme und Themen die Wähler bewegen oder welche sie vernachlässigt sehen;
3. ermitteln Kandidatenanalysen Daten zu Popularität und Image von Politikern;
4. werden mittels Ergebnisanalysen Hochburgen und Schwachstellen ausgemacht sowie Wählerwanderungen nachvollzogen;
5. liefern Nachwahluntersuchungen Angaben darüber, wie die Wähler den Wahlkampf wahrgenommen haben, um daraus Hinweise für die Verbesserung künftiger Kampagnen zu erlangen;
6. lassen sich über innerparteiliche Kommunikationsstudien Möglichkeiten der Mobilisierung im eigenen Lager besser einschätzen;
7. gehen Massenkommunikationsstudien der Frage nach, wie (potenzielle) Wähler die verschiedenen Medien nutzen, um so eine zielgruppengenaue Mediaplanung zu ermöglichen. Im Zeitalter der Fernsehdemokratie oder "Mediokratie" kommt diesem Aspekt ein besonders hoher Rang zu;
8. erfolgen Werbemitteltests, zum Beispiel zu Entwürfen für Anzeigen, Plakate oder Werbespots;
9. klären semantische Analysen, was die Wähler mit verschiedenen Begriffen verbinden, ob sie damit Positives oder Negatives assoziieren;
10. machen Redentests empirisch fundierte Aussagen zur Wirkung von Spitzenpolitikern bei öffentlichen Auftritten.
Die Beratung von Politikern im Wahlkampf durch Demoskopen lässt sich in der Bundesrepublik bis in die frühen fünfziger Jahre zurückverfolgen. Ab dieser Zeit versorgte das Allensbacher Institut für Demoskopie das Kanzleramt mit Umfragedaten. Die Leiter des IfD gehörten zugleich zu Adenauers engstem Beraterkreis. Vor dem Wahlkampf 1957 beauftragte die CDU-Bundesgeschäftsstelle zusätzlich Emnid, auch um nicht ganz dem exklusiven Umfragewissen des Kanzlers ausgeliefert zu sein. Während der fünfziger Jahre dürfte dieses demoskopische Know-how den Christdemokraten und Adenauer "wichtige Wettbewerbsvorteile" verschafft und "maßgeblich die personelle, stilistische und inhaltliche Gestaltung der Kampagnen" bestimmt haben. Erst im nächsten Jahrzehnt zog die SPD nach, und seit 1961 herrscht zumindest "von der Datenverfügbarkeit her weitgehende Waffengleichheit zwischen beiden Parteien".
Bei den Bundestagswahlen von 1998 erreichte der Einsatz der Demoskopie für Wahlkampfplanung und -führung einen - zumindest vorläufigen - Höhepunkt. Das gilt zumal für die "Kampa", die sozialdemokratische Wahlkampfzentrale, in der "keine Strategie und kein Instrument dem Zufall überlassen, sondern alles durch Meinungsforschung abgesichert" wurde.
III. Bevölkerung und Demoskopie
Ebenso wenig wie auf die beiden zuletzt aufgeworfenen Fragen, die den Einfluss der Demoskopie auf Parteien und Politiker problematisieren, liegen bisher eindeutige und empirisch fundierte Antworten zu jener vor, ob und wie Umfrageergebnisse, speziell Wahlprognosen, auf die Bevölkerung und die Wahlentscheidung jedes Einzelnen wirken. Es lässt sich allerdings belegen, dass der Anteil der Bevölkerung, der vor Wahlen Umfrageergebnisse wahrnimmt, über die Jahre hinweg zugenommen hat. Bejahten 1957 nur 17 Prozent der Interviewten die Frage des Allensbacher Instituts, ob man vor Wahlen Ergebnisse aus Meinungsumfragen gelesen oder gehört habe, so stieg die Zahl 1965 auf 35, 1976 auf 57 und 1983 bis auf 72 Prozent an. In den Wahljahren 1987 und 1994 antworteten jeweils 67 Prozent der befragten Bundesbürger zustimmend, 1990 waren es sogar 81 Prozent.
Dieser Zuwachs lässt eine Untersuchung zweier Probleme umso dringlicher erscheinen: erstens, ob sich Wahlumfragen auf die Wahlbeteiligung auswirken; zweitens, ob sie das Wahlverhalten grundsätzlich oder in einer bestimmten Richtung beeinflussen.
Im ersten Fall ist von vier Wirkungsvermutungen die Rede: Hinter dem so genannten Mobilisierungs-Effekt steht die Annahme, Umfragen würden insbesondere bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen zu einer stärkeren Wahlbeteiligung führen, weil jede einzelne Stimme für den Wahlausgang von entscheidender Bedeutung sein könnte. Der Defätismus-Effekt indes beruht auf der Überlegung, die Anhänger der - tatsächlich oder vermeintlich - schwächeren Partei würden nicht mehr wählen, weil der Sieger ohnehin feststünde. Umgekehrt behauptet die These vom Lethargie-Effekt, die Sympathisanten des vermuteten Wahlsiegers würden der Wahl aus eben jenem Grunde fernbleiben. Schließlich beteiligen sich dem Bequemlichkeits-Effekt zufolge unentschlossene Wahlberechtigte nicht an der Wahl, sofern deren Ausgang bereits gewiss erscheint. Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden.
Ähnliches lässt sich über den zweiten Fall sagen: Insgesamt sind die Antworten auf die Frage nach dem Einfluss von Wahlumfragen auf die Wahlentscheidung bis heute kaum empirisch fundiert. Seit den Anfängen der Umfrageforschung sind vor allem zwei Wirkungshypothesen im Gespräch: Einerseits, das impliziert die unter dem Namen Bandwagon-Effekt bekannte Vermutung, könnten Wähler von ihrer ursprünglichen Wahlabsicht abrücken und sich auf die Seite der Partei schlagen, die laut Umfragen die größten Siegeschancen hat. Andererseits könnten sie sich, glaubt man der Behauptung eines Underdog-Effekts, aus Mitleid oder Trotz für die Partei entscheiden, die nach den Wahlprognosen zurückliegt. Auch für diese Annahmen über den Einfluss demoskopischer Daten auf den Wahlausgang konnte bislang kein Nachweis erbracht werden.
Zwei weitere Hypothesen betreffen die deutsche Koalitionsdemokratie und ergeben sich aus dem Verhältniswahlrecht in Verbindung mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Hinter dem so genannten Wasted-vote- oder Fallbeil-Effekt
Trotz der Tatsache, dass (eindeutige) Wirkungen der Demoskopie auf das Wahlverhalten bis heute nicht zu belegen sind, haftet ihr der "Geruch des Unerlaubten"
Sinnvoller als ein Verbotsbegehren erscheinen verstärkte Anstrengungen, den Gütegrad von Umfragen und der Berichterstattung über sie zu erhöhen. Gerade in Zeiten von Wahlen werden nämlich unter Zeit- und Kostendruck häufig Umfragen durchgeführt, die Qualitätsstandards missachten, wie sie etwa in den Richtlinien der American Association of Public Opinion Research (AAPOR) und neuerdings in einer Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) festgelegt sind.
IV. Für und wider die "Demoskopiedemokratie"
Die Befunde eignen sich kaum dazu, aus ihnen Generalisierungen oder einfache Kausalbeziehungen abzuleiten: Es lassen sich weder zweifelsfreie Nachweise dafür finden, dass Umfrageergebnisse auf Politiker etwa im Sinne eines imperativen Mandats wirken, noch ist ein direkter und eindeutiger Wirkungszusammenhang im Falle der Bevölkerung feststellbar. Die Vielzahl der empirischen Fragezeichen, die nach der Erörterung beider Beziehungsgeflechte bestehen bleiben, sollten die Demoskopen selbst zum Anlass nehmen, die "Forschung über Meinungsforschung"
Wie der Überblick gezeigt hat, birgt die Umfrageforschung Risiken, aber auch Chancen für den demokratischen Prozess. Zumal in Wahlkampfzeiten ist der Bedeutungszuwachs der Demoskopie unverkennbar und können Meinungsforscher zu Meinungsmachern, von Beobachtern zu Akteuren werden. Es besteht die Gefahr eines Politikmarketing, das den Staatsbürger zum Politikkonsumenten degradiert und Regierende statt zur Entscheidungs- zu einer reinen Darstellungspolitik
Andererseits eröffnet die Demoskopie eine Reihe von vorteilhaften Perspektiven. So kommt ihr eine ausgleichende oder korrigierende Funktion gegenüber der veröffentlichten Meinung zu - in manchen Fällen allerdings auch eine verstärkende ("Echo-Demoskopie"). Wie wichtig der Faktor des Meinungsklimas sein kann, ist spätestens seit Noelle-Neumanns Entdeckung der "Schweigespirale" bekannt. Die Demoskopie hilft nicht selten, durch die Medien bewirkte Fehlwahrnehmungen und sozial-optische Täuschungen auszugleichen, so wenn Minderheits- für Mehrheitsmeinungen - und umgekehrt - gehalten werden ("pluralistic ignorance"). Außerdem können die Kenntnisse der politischen Meinungsforschung, um ein weiteres Beispiel für einen begrüßenswerten Effekt zu nennen, die politischen Akteure darin unterstützen, "ihre Aufgabe der Interessenintegration und der schöpferischen politischen Interessenverarbeitung besser leisten zu können"
Warnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1992 vor den Auswüchsen der "Demoskopiedemokratie",
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