I. Erinnerungen an "Alltage" in der DDR
In ihrem Alltag unterlagen fast alle DDR-Bürger den gleichen praktischen und geistigen Restriktionen. Pointiert könnte man sagen: Bei der Beschaffung eines 80-Liter-Boilers oder einer Pink-Floyd-Amiga-Platte waren der Metallfacharbeiter und die Professorin für Psychologie gleichermaßen schlecht gestellt. Diese Homogenisierung des Alltags unterschied die DDR von anderen - von westlichen Industriegesellschaften. Dennoch führte natürlich auch in der DDR der Arbeiter ein ganz anderes Leben als der Lehrer, die Verwaltungsangestellte lebte anders als die Künstlerin. Die junge - eventuell allein erziehende - Mutter hatte einen anderen Alltag zu bestehen als ihre Kollegin, deren Kinder bereits aus dem Hause waren. Und auch die Alltagserfahrungen eines Mittzwanzigers, seine Probleme und Orientierungen, waren andere als die eines Mannes jenseits der Vierzig.
In der Sozialwissenschaft und zeitgeschichtlichen Forschung werden diese Differenzen mit theoretischen Konzepten zu sozialen Lagen und sozialen Milieus
Jeder weiß, dass Erinnerungen keine objektiven, dokumentierenden Abbilder des Vergangenen sind, sondern Ergebnisse eines subjektiven und selektiven Konstruktionsprozesses. Diese Eigenschaften von Erinnerung, die manchem Historiker als ein Indiz für die Unzuverlässigkeit der Quelle gelten mögen, machen sie für eine Archäologie der Erinnerungen
Während in der Bundesrepublik die fünfziger und sechziger Jahre zum Beispiel als die Zeit des "Fahrstuhleffekts" (Ulrich Beck) beschrieben wurden, in der alle sozialen Lagen gleichmäßig am Wohlfahrtsgewinn und der wirtschaftlichen Prosperität teilhaben konnten, gab es in der DDR Milieus und Generationen, die in ganz unterschiedlicher Weise Statusgewinne und -verluste, Stigmatisierung oder Aufstieg erlebten. Da sich diese ökonomischen und ideologischen Push- and Pull-Effekte in der DDR häufig wandelten, während die Sinn- und Wertvorstellungen der verschiedenen Milieus üblicherweise relativ konstant blieben, erweisen sich für die verschiedenen sozialen Gruppen in der Erinnerung ganz unterschiedliche Phasen der DDR als "goldene Jahre". Das Auswahlprinzip der im Folgenden präsentierten Erinnerungen war, dass sie alle die jeweils goldenen Jahre abbilden. Die Erzähler sprechen darin von "guten Zeiten" oder gar von "den besten Jahren meines Lebens". Diese spezielle Perspektive illustriert die Integrationskraft, welche die DDR-Verhältnisse zu bestimmten Zeiten für jeweils bestimmte soziale Milieus und bestimmte Generationen offenbar hatten. Im Unterschied zu konflikttheoretisch orientierten Perspektiven auf den DDR-Alltag, welche die Momente der Desintegration, der Ausgrenzung und Repression
Im Folgenden wird skizziert, wie von Menschen, die der gleichen Kohorte (die Jahrgänge 1922 - 1934), aber verschiedenen Milieus angehören, unterschiedliche Phasen der DDR als goldene Jahre erinnert werden. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf drei Milieus: auf traditionelle Facharbeiter, Aufsteiger in die Intelligenz und Selbstständige.
II. Schuften und Genießen - Die fünfziger Jahre in der Erinnerung junger Arbeiter
Die fünfziger Jahre tauchen heute vor allem in den Erinnerungen von Arbeitern der genannten Jahrgangsgruppe als eine gute Zeit - gewissermaßen goldene Jahre - auf. Die thematische Ausrichtung der Erinnerungen könnte man pointiert mit "Schuften und Genießen" umreißen. Die Arbeiter berichten mit Stolz von der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Arbeit, vom Status und der Verhandlungsmacht der Facharbeiter - aber mehr noch von Freizeit, Entspannung und den geselligen Freuden ihres Alltags.
Der Aufbau des zerstörten Landes und seiner Produktionsstätten forderte zunächst genau das, was typische "Arbeiter-Arbeit" war: handwerklich-technische, disziplinierte, harte, "männliche" und oft auszehrende Tätigkeiten. Dass man sich in diesen schweren Zeiten bewährte, speist heute noch das Selbstbewusstsein der Protagonisten. Herr K. erinnert sich:
"Meine Lehrzeit begann Anfang der fünfziger Jahre. Ich habe Rahmenglaser gelernt. Unter uns Lehrlingen gab es eine strenge Hierarchie - Einjähriger, Zweijähriger und Dreijähriger. Der Einjährige, der musste alles machen. Unsere Arbeit begann früh mit Späne machen, Öfen füllen und Anheizen, dann ging es weiter mit Einkaufen für die Gesellen. Kurz vor Mittag musste ich loslaufen zur Großküche ,Richter und Fischer', in der Nähe der Leipziger Markthalle. Dort gab es markenfreies Essen. Wenn ich mich zu Hause beschwerte über manche Arbeiten, sagte meine Mutter: ,Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Wenn du die Prüfung nicht bestehst, wenn du kein Geselle wirst, bekommst du von mir keine Scheibe Brot mehr.'" Auch Herr R. streicht das heute heraus: "Pflichterfüllung stand auch bei uns obenan, zuerst kam immer die Arbeit. Einmal waren wir Betriebstischler an einem Freitagabend zum Polterabend bei einem Kollegen eingeladen. Da ging es natürlich feuchtfröhlich zu. Mein Kollege hatte dann irgendwie bei der Rückfahrt am Bahnhof den Anschluss verpasst. Nun musste er auf den nächsten Zug warten und ist in seinem Zustand eingeschlafen. Als er wieder munter wurde, war es schon früh um acht. Er kam also an diesem Sonnabend zu spät zur Arbeit. Der Mann, er war über 50 Jahre alt, hat geweint, weil ihm das in seinem Leben noch nie passiert war . . ."
Für die jungen Arbeiter, die mit den Routinen arbeiterlicher Organisation und kollektiver Interessenverteidigung aus der Zeit vor 1933 keine Erfahrungen hatten, die mobil, leistungsbereit und materiell interessiert waren, gab es gute Chancen des individuellen Fortkommens. Herr Z., der im Osten ein Häuschen geerbt und aus dem Westen übergesiedelt war, erinnert sich:
"Ich wollte ja was verdienen und habe mich mächtig ins Zeug gelegt. Nach sechs Wochen sagte der Baustellenleiter zu mir: ,Karl, wenn du so arbeitest, kannst du bei uns was werden.' Ich habe wirklich geschuftet. Mein Baustellenleiter, er war parteilos, kam eines Tages zu mir und sagte, wenn du meine Stelle haben willst, er wollte nämlich weg, dann wäre es besser, in die Partei einzutreten. Ich sagte: ,Du bist doch auch nicht in der Partei.' Aber er sagte: ,Bei mir ist das was anderes, ich bin noch ein Alter.' 1957 trat ich in die Partei ein, und tatsächlich, ein halbes Jahr später wurde ich Baustellenleiter. Da habe ich mich schnell eingefuchst."
Die beiläufige, unideologische oder unpolitische Art des Eintritts in die SED verhinderte jedoch nicht, dass der Mann auch im persönlichen Umfeld seine Mitgliedschaft in der SED verteidigte:
"Wir waren eine gute Truppe, und Politik spielte bei uns kaum eine Rolle. Ich war ja nun in der Partei, einer der hat das immer wieder erzählt und gerufen: ,Die Kommunistenschweine haben meinen Vater erschossen.' Ich sagte zu ihm: ,Gerhard, ich möchte nicht, dass du das in meinem Beisein äußerst. Ich bin in der Partei, ich bin also auch so ein Kommunist. Wenn du dieser Meinung bist, dann bitte äußere sie woanders.' Und dann ging das. Der war nämlich ein sehr guter Arbeiter. Wir spielten nach der Schicht oft miteinander Skat."
Der Stolz, mit dem viele Arbeiter ihre Erinnerungen an diese Zeit ausbreiten, bezieht sich sowohl darauf, aus eigener Kraft vorwärts gekommen zu sein. Gleichzeitig findet man in den Passagen auch ein Gespür für die Bedeutung, die diese Arbeit für weite Bereiche der DDR hatte. In den Erzählungen von Herrn U. wird beides verbunden:
"Ich hatte mich berufsmäßig in den fünfziger Jahren ein bisschen nach vorne gespielt. Ich arbeitete in Dresden im Werk ,Otto Buchwitz'. Ich hatte dort im Juni 1953 angefangen und schon im September bekam ich dann eine kleine Baustelle als verantwortlicher Monteur, als bauleitender Monteur. Und damit ging dann eigentlich so ein bisschen der Aufstieg los. Das Buchwitzwerk fing damals an mit der Elektrifizierung von Baugroßgeräten, das waren vor allem Schaufelradbagger. Das war ein großes Programm und davon hing ja die ganze Energieversorgung der DDR ab. Also, das war eine wichtige Sache, und wir haben 15 Jahre pausenlos Bagger gebaut. Ich bin dann vielfach schon zweiter Bauleiter gewesen, Brigadier. Ab 1959 war ich auch im Ausland, in Polen, eingesetzt und habe dort auch als Bauleiter gearbeitet."
Dass diese stolzen Selbstzuschreibungen tatsächlich in eine gewisse Verhandlungsmacht der Arbeiter gegenüber der staatlichen und politischen Leitung mündeten, illustrieren die Erinnerungen von Herrn U.:
"Das Buchwitzwerk hat in seinem ganzen Bestehen von uns Monteuren nie verlangt, dass wir sonnabends arbeiten. Eine 6-Tage-Woche gab es bei uns nicht. Das erzeugte viel Neid. Andere, gleich gestaltete Betriebe, die haben dann gefordert: Die Buchwitzer sind die einzigen, die nicht sonnabends arbeiten, die müssen jetzt auch die 6-Tage-Arbeitswoche einführen. Aber als sie es versucht haben, hat es einen regelrechten Streik gegeben. 150 Monteure - wir waren insgesamt 180 Monteure - haben erklärt, dass sie sofort kündigen, wenn die Sonnabendarbeit eingeführt wird. Und da hat der Betrieb klein beigegeben und das fallen lassen. Die Leistung wurde an 5 Tagen geschafft und damit war das vom Tisch."
Und dies zeigte sich nicht nur in der Arbeitswelt. Bei ihren alltäglichen Versuchen, die Wohn- und Versorgungssituation zu konsolidieren, konnten Arbeiter - vor allem in den Zeiten des akuten Personalmangels vor dem Bau der Berliner Mauer - auch mit Kündigungsdrohungen auffahren. Frau S. erinnert sich:
"Mein Mann war ein tüchtiger Arbeiter. Schon nach zwei Monaten wurde er als Hauer eingesetzt und begann sich nach Feierabend zu qualifizieren. Gute Arbeiter, die sich nebenbei noch qualifizieren wollten, waren damals rar. Deswegen bekam mein Mann auch die Unterstützung seines Betriebsleiters, als wir beim Wohnungsamt vorsprachen, denn mit dem Antrag tat sich nichts. Ich war mit dabei und hatte die Tochter im Wagen mit. Mein Mann schilderte unsere Wohnverhältnisse und zeigte das Schreiben vom Direktor. Er sagte, dass er den Betrieb wieder verlassen würde, wenn er keine Wohnung bekäme. Im November 1951 wies man uns eine Neubauwohnung zu."
Auch Herr P., Arbeiter im Plattenwerk N. bei Dresden, erinnert sich etwas anders an die erste Zuweisung eigener vier Wände:
"Über meinen Betrieb bekam ich 1952 eine Wohnung, eine Zweiraumwohnung. Meine Frau und ich hatten vorher zur Untermiete gewohnt, und vor Jubel sind wir fast an die Decke gesprungen. Es war ein Altneubau, sogar mit Bad, ich bin zum Himmel gehuppt, es war wie ein Lottogewinn. Die Miete kostete damals 28 Mark."
Die Wohnraumfrage war eines der wichtigsten Alltagsprobleme der Nachkriegszeit. In keinem anderen Milieu werden die Wohnverhältnisse so ausführlich erinnert. Für das traditionelle Arbeitermilieu erfüllten Arbeit und Wohnen die wichtigsten Bedürfnisse. Anders als die Bundesrepublik setzte die DDR hier von Anfang an ausschließlich auf staatlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbau. Die "Fürsorgediktatur"
Die Freizeit und die Regeneration der strapazierten Arbeitskraft spielten sich vor allem in der Familie und bei Geselligkeiten im Kollegenkreis ab, die jüngeren Arbeiter berichten von alterstypischen Beschäftigungen wie Sport und kleinen Reisen. Während in den Erinnerungen an die Arbeitssphäre Geschichten "hoher Moral", von Pflicht, Mühsal, Leistung, Geschick und Erfolg erzählt werden, wurden für die Zeit des Feierabend "Leistung" und "Erfolg" an anderen Maßstäben gemessen, wie sich Herr Z. erinnert:
"Als ich damals geschieden war, konnte ich richtig loslegen, in der Arbeit und auch danach. Wir waren vier Mann in unserem Wohnheimzimmer und wir arbeiteten immer Zwölf-Stunden-Schichten. Freitags war dann Feierabend, offiziell um 11.00 Uhr, aber wir haben meist schon halb zehn Schluss gemacht, viele mussten ihren Zug erreichen. Wir Junggesellen . . . sind dann immer durch die Gegend gereist. Es war kein Problem, ein Mädel abzuschleppen. Ich kann nicht sagen, dass wir nach strengen Moralregeln gelebt haben. Ich habe mich erst mal richtig ausgetobt. Das ging keinen Tag ohne Bier. Und in jeder Gaststätte waren Frauen anzutreffen. . . . In dieser Braunkohleregion gab es viele Klubhäuser, wo wir tanzen konnten. Das Regiser Klubhaus war besonders schön. Es hatte ein großes Foyer, alles mit Marmor und dann den großen Saal, wo die kleine Bar drunter war. Da ist jeden Sonnabend Tanz gewesen. Da saßen so 18-jährige, junge Frauen, die wollten tanzen und haben sich dabei an dich rangemacht. (. . .) Es war eine schöne Zeit gewesen."
Herr K., damals Dreher in einem Leipziger Metallbetrieb, beschreibt das so: "In den fünfziger Jahren gingen das Nachtleben und die Vergnügungen dann richtig los . . . Die Leute sagten, heute habe ich zehn Mark, und damit gehe ich aus. Man traf immer Gleichgesinnte. Allein weggehen gab es nicht. Es gingen immer ganze Gruppen. Diese Gruppen blieben bis zum Schluss in den Lokalen. Sie hielten durch, egal was war. Und am nächsten Tag waren wir wieder auf Arbeit."
Herr S., damals ebenfalls ein junger Arbeiter in Leipzig, erzählt: "Es gab damals noch am Leipziger Königsplatz an der Südseite in dem damals total kaputten Haus das CA-Casino. Das war wunderschön. Es war eine kleine Tanzdiele, und da spielten drei Mann. Damals war es in Leipzig eine Spitzenkapelle, die immer die neueste Musik spielte. Aber dann und wann kam von der FDJ so eine Gruppe, die kontrollierte, ob sich die Leute anständig verhielten. Im CA-Casino gab es aber eine ganz gewiefte Frau in der Garderobe, die hatte da eine Signalanlage. Wenn die vom FDJ-Streifendienst kamen, dann hat man das im Haus hinten schon vorher gemerkt. Die Kapelle änderte sofort die Musik und machte dann eine ganz zünftige, schöne Musik, die niemanden weh tat, und wir tanzten ganz gesittet. Und so wie die wieder raus waren, ging wieder Holiday los."
In den Erinnerungen von Herrn I., damals war er ein junger Tischler, spielt das Motorrad, ein wichtiges Statussymbol für junge Männer aus der Arbeiterschicht, eine große Rolle: "1955 hatte ich die Fahrerlaubnis gemacht und war in der glücklichen Lage, ein Motorrad zu kaufen. Mein ganzes Tischlereinkommen hatte ich gespart und das damalige Traummotorrad, eine Jawa, gekauft. Mit der Jawa sind mein Freund und ich dann gleich nach Westdeutschland gefahren. Das war ohne weiteres möglich. Wir hatten natürlich Ostgeld versteckt, um drüben zu tauschen und um Benzin kaufen zu können. Aber die Leute an der Grenze waren sehr raffiniert und geschult. Sie haben uns am Grenzübergang nach Bayreuth herausgewinkt. Sie kannten alle die Kniffe. Zuerst haben sie mein schönes neues Motorrad zerlegt: die Verkleidung, die Lampenverkleidung und so weiter. Aber da fanden die nichts. Deshalb mussten wir zur Leibesvisitation. Da haben sie natürlich das ganze Geld gefunden. Mein Freund hatte es unter der Einlegesohle und ich so am Körper. Ein Protokoll wurde angefertigt und das ganze Geld wurde weggenommen. Wir sind dann trotzdem rübergefahren. In Heilbronn haben wir uns bei einem Tischlermeister für eine Woche Arbeit besorgt und haben uns das Benzingeld verdient, damit wir mit der Jawa wieder zurückfahren konnten."
Neben den Erinnerungen an altersspezifisches und milieutypisches "Über-die-Stränge-schlagen", das mit Genugtuung zum Besten gegeben wird, spielen auch Erinnerungen an die traditionelle Vereins- und Hobbykultur der Arbeitermilieus eine große Rolle. Herr H. berichtet:
"Ich habe im September 1952 bei der Firma Gebrüder Hörmann in Dresden als Waffelbäcker angefangen. Und ich war vielleicht zwei Tage dort beschäftigt, da spricht mich ein Kollege an und fragt: ,Spielst du Mundharmonika?' . . . Die Firma Gebrüder Hörmann hat ihr Arbeiterorchester auch großzügig unterstützt, zum Beispiel bei der Anschaffung neuer Instrumente. . . . Wir traten am Sonntagvormittag in Krankenhäusern auf. Wir haben fast in jedem Dresdner Krankenhaus zur Erbauung der Patienten gespielt. Dadurch wurden wir immer populärer, und bald spielten wir auch auf dem Weißen Hirsch."
Herr H. erinnert sich vor allem an den Sportenthusiasmus: "Die fünfziger Jahre waren insgesamt eine sportbegeisterte Zeit. . . . Ich war ungeheuer aktiv im Sport, im Fußball. Ich hatte einen Übungsleiterposten übernommen. Mit unserer Mannschaft qualifizierten wir uns dann sogar für den Junge-Welt-Pokal. Viele junge Leute machten Sport und verbrachten damit einen großen Teil ihrer Freizeit. Es wurde natürlich auch reglementiert. Während meiner Lehre als Maschinenschlosser kamen gerade die Nickis auf. In Westdeutschland waren die sogar bemalt. Das war bei uns verpönt. Das kam aus Amerika. Mein Freund und ich haben uns so ein Nicki - heute nennt man es T-Shirt - gekauft. Und weil wir so sportbegeistert waren, sind wir in dieses Textilmalereigeschäft gegangen, um unsere Idole draufmalen zu lassen. Er hat sich einen Fußballspieler draufmalen lassen und ich einen Rennfahrer. Da habe ich den größten Ärger im Betrieb gekriegt. Der FDJ-Sekretär hat mich öffentlich niedergemacht und gesagt: Das ist Lästerung! Ich könne ja auch nicht einfach Wilhelm Pieck da vorne draufmalen lassen. Ich habe das Nicki zwar nicht abgeben müssen, aber ich durfte das nicht tragen, wenn ich in den Betrieb ging."
Diejenigen Arbeiter, die Arbeiter bleiben und nicht aufsteigen wollten, konnten sich in den halböffentlichen und privaten Räumen nach ihren milieutypischen Vorstellungen bewegen und sich dort der Zugriffe von Politik und Ideologie in der Regel erwehren, solange Konflikte nicht politisiert - und damit zu einer prinzipiellen Frage wurden. Sie waren nicht erpressbar, etwa so wie diejenigen, die aufstiegen. Der als störend oder destruktiv empfundene Eingriff der Politik in den Alltag wird in den Erinnerungen zwar nicht ausgeblendet, aber er wiegt dort nicht schwer. Auch wenn die Protagonisten sich in bestimmten Erzählungen der Staatsmacht beugen mussten, dominieren doch Erzählweisen, welche die Protagonisten letztlich als Sieger zeigen, als souveräne, autonome und hartnäckige Personen, die es sich nicht nehmen lassen, sich ihr Stück vom Kuchen abzuschneiden.
Dass die erste Dekade der DDR auf die Arbeiter Integrationskraft ausüben konnte und in den Erinnerungen heute noch nachklingt, liegt wohl weniger daran, dass die DDR noch viel Zukunft vor sich hatte und von Stagnation und Scheitern noch weit entfernt war - sondern eher daran, dass jene gesellschaftlichen Umwälzungen, die in den fünfziger Jahren im Prinzip realisiert waren, den spezifischen Wert- und Sinnvorstellungen der Arbeiter am ehesten entsprochen haben. Die Facharbeiter und ihre Arbeit hatten in der offiziellen gesellschaftlichen Kommunikation einen bis dahin nicht gekannten hohen Status, und zudem hatten die Arbeiter im Verhältnis zu anderen Beschäftigten gute Entlohnungen erreicht.
Die Erosion der Arbeitermilieus und der Zerfall gewachsener städtischer Arbeiterviertel hatten noch nicht begonnen. Vielmehr waren die fünfziger Jahre, zumindest nach dem 17. Juni 1953, für die Arbeiter eine Phase der Etablierung. Die Arbeiter konnten sich ziemlich früh im "Arbeiterstaat" einrichten. Es gab plötzlich eine Arbeiterversorgung, eine spezielle Arbeiter- und Bauern-Kinderförderung im Bildungswesen, Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, die bei der Lösung mancher Alltagsfragen durchaus wirksam wurden. Nach dem 17. Juni wurde ein Kompromiss zwischen den Interessen des Staates und den traditionellen Arbeiterinteressen gefunden, der als Stillhalteabkommen bezeichnet werden kann.
III. Aufstieg in die Pflicht: Erinnerungen von Aufsteigern aus dem Arbeitermilieu an die fünfziger Jahre
Bei den aus den Arbeitermilieus stammenden Aufsteigern fällt auf, dass sie in der Rückschau auf ihren Alltag fast nur über ihre Arbeit reden. Zwei Protagonisten eines schnellen Aufstiegs sollen hier zu Wort kommen: Der erste ist Herr C. (*1922); er stammt aus einer sudetendeutschen Arbeiterfamilie, wurde in der Gefangenschaft Dolmetscher, dann Neulehrer (1950), und ging schließlich als Fachlehrer auf ein traditionsreiches Gymnasium, wo er in den fünfziger Jahren zunächst Parteisekretär und 1956 stellvertretender Direktor wurde. Der zweite Protagonist ist Herr P. (*1926), ein Bergmann, der vom Hauer (1948) allmählich bis zum Werkleiter (1955) aufgestiegen war.
Über seinen professionellen Anspruch gibt Herr P., der zeitweise als Instrukteur in verschiedenen Gruben unterwegs war, so Auskunft:
"Einmal waren wir in T. und mussten da eine ganze Reihe von Mängeln aufdecken, da mussten wir Tacheles reden, da gab es zu viele Versäumnisse, bergmännische Fehler, und die Disziplinverstöße waren sehr, sehr stark. Wir haben eine ganze Liste von Maßnahmen vorgeschlagen, um das so schnell wie möglich wieder auf Vordermann zu bringen und die Planerfüllung zu sichern. . . . Ich habe später dann gehört, dass die Steiger nach dieser Kopfwäsche in der Kneipe gesagt haben, ,den P. schlagen wir tot, wenn der noch mal nach T. kommt'. Als ich dann 20 Jahre später nach T. gekommen bin, da hat mich keiner angefasst, ich habe ja danach mit einigen bis zur Rente zusammengearbeitet. Aber damals haben sie das gesagt, weil ich denen zu viele Punkte nachgewiesen hatte, wo die gesaubeutelt haben. Es ging immer nur um die Sache und die Planerfüllung. Für den Bergmann galt es schon immer, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und dieses Ziel immer wieder höher zu stecken, ich weiß nicht, ob man das mit anderen Berufen vergleichen kann, der Ehrgeiz war schon da. Das ist keine neue Geschichte, der Bergmann existiert ja schon über 1000 Jahre und hat viele Traditionen, viel Erbe, gutes Erbe übernommen. Im Schacht ging es eben geordnet zu, offen und ehrlich, es gab auch Auseinandersetzungen dort, wo etwas nicht stimmte, wenn die Disziplin nicht in Ordnung war, oder wenn Menschen untereinander nicht harmonierten, da habe ich dann einen Austausch vorgenommen, das gab es auch, aber die Disziplinverstöße waren im Bergbau wesentlich geringer als in allen anderen Industriebereichen."
Herr P. befindet sich mit seiner Intervention nun gewissermaßen zwischen Baum und Borke, zwischen Arbeitern und Direktoren. Mit Blick auf diese ambivalente Position, in der er sich sowohl mit seiner Herkunft wie auch mit dem neuen Status verbunden fühlt, betont er, dass es immer nur um die Sache geht, um die Planerfüllung, die Tradition, die Ehre des Berufsstandes - nicht um Persönliches. Während die Arbeiter sich in den Fünfzigern etablierten, waren die Aufsteiger aus der Arbeiterschicht noch damit beschäftigt, sich die formellen und informellen Standards ihres Standes anzueignen, sich zu beweisen, zu bewähren und zu behaupten. Geschichten von ausschweifenden Freizeitereignissen, gar von Normverletzungen - wie sie die Arbeiter erzählen - sind hier offensichtlich nicht zu erwarten. Auch von Urlaub oder Reisen gibt es hier weniger zu berichten.
"Urlaub war generell kein Thema, aber für mich im Besonderen war es noch weniger ein Thema, ich war kein Urlaubsfan", meint Herr P. "Wir haben keinen Urlaub gemacht, dafür haben wir kein Geld ausgegeben. Das Geld war am Ende vom Monat immer alle, und dann hatten wir ja noch unsere Mutter in G. zu versorgen, . . . wir haben sie jeden Monat mit hundert Mark unterstützt." Wenn die Kinder Ferien hatten, fuhr Familie P. zu den Eltern aufs Land, da gab es wieder Arbeit im elterlichen Hause und für die Kinder einen großen Garten.
Ähnlich wie bei den traditionellen Arbeitern sind die Schilderungen über Geselligkeiten. Die Werte des Gemeinschaftlichen, das kollegiale Miteinander scheinen den proletarischen Aufsteigern wichtig gewesen zu sein. Frau P. berichtet:
"Wir haben oft private Feiern gemacht . . . wir haben den billigen Wein aus W. geholt, es gab Bowle und Kuchen. Bei jedem Fest wurde eine Sülze gemacht, die gestürzt wurde oder ein Frikassee, alles, wo eben viel Masse war. Wir tanzten viel oder machten Polonaise. Bei uns in der Werkswohnung ging es besonders gut, unten waren ja die Büros, das sind wir mit der Polonaise durch und die Wendeltreppe wieder nach oben."
Über welche Themen unterhielt man sich an diesen Abenden?
Herr P.: "Also auf alle Fälle haben wir nicht über Geld und nicht über Politik gesprochen. Das sind ja heute beliebte Themen."
Frau P.: "Wir haben ein bisschen Spaß gehabt. Auch über die Produktion ist nicht gesprochen worden, da war ja kaum mal jemand vom Schacht dabei."
Herr P.: "Oft waren wir auch im Thüringer Hof. Da gab es keine Unterschiede, ob man Arbeiter war, oder ich als technischer Direktor. Wir hatten andere Aufgaben, aber wir lebten in der gleichen Welt. Das ist so ein bisschen was DDR-Typisches."
Frau P.: "Da hat ja auch keiner den Direktor beneidet."
Die Betonung alltagskultureller Gleichheit, das Fehlen jeglicher Distinktion in den Erinnerungen, illustriert nicht nur die Verbundenheit der Aufsteiger mit ihrem Herkunftsmilieu. Es scheint auch den tatsächlichen Verhältnissen entsprochen zu haben. Die Arbeiter sahen die Anstrengungen und Einschränkungen, die ein Aufsteiger damals auf sich nahm, durchaus kritisch. Auch finanziell wirkte dieser Aufstieg für einen Facharbeiter wenig attraktiv. Vor allem mussten sich die Aufsteiger - anders als die Arbeiter - politisch den Erwartungen entsprechend engagieren. Umso bemerkenswerter aber ist, dass es in den Alltagserinnerungen der Aufsteiger an die radikal politisierten fünfziger Jahre keine Erinnerungen an politische Diskussionen im privaten Bereich gibt und auch die Geschichten über den Eintritt in die SED nur beiläufig auftauchen und recht lakonisch daherkommen.
Herr P. konnte 1952 auf der Bergwerksschule, als er sich zum Steiger qualifizierte, dem Parteieintritt nicht "mehr ausweichen . . . ich glaubte, dass das ein Trend ist, und dass man bessere Chancen hat, wenn man in der Partei ist, ich habe auch keine Nachteile vermutet dadurch und habe nicht geglaubt, dass ich da Unrecht tue". Herr C. erzählt von einem Gespräch mit einem älteren Kollegen und späteren Schulfunktionär ". . . auch ein Landsmann von zu Hause, der wohnte vielleicht 20-30 Kilometer von uns weg, der sagte: ,Horch mal zu, du wirst doch wohl begreifen, worum es hier geht. Warum willst du nicht in die SED gehen, da machst du dir keine Schwierigkeiten, du hast doch eine dolle Perspektive.'"
Beide Protagonisten erinnern sich an ähnliche politische Einflüsse auf den Arbeitsalltag. Sowohl der technische Direktor des Kaliwerks als auch der stellvertretende Direktor der EOS
"Alle leitenden Angestellten waren nun mal in der Partei, auch der Kraftwerksdirektor, der hätte mein Vater sein können. Es war aber auch möglich, dass man nicht in der Partei war, wenn der zuständige Direktor seine Hand drüber hielt und sagte: ,Der versteht sein Fach - und damit hat es sich doch wohl?'" Der Pädagoge erinnert sich: "Da sollten wir Anfang der Fünfziger Schüler von der Schule schmeißen, weil sie in der Jungen Gemeinde waren. Wir sagten: ,Wir billigen das nicht, aber wir schmeißen sie nicht raus.' Auch Herrn S., der seit dreißig Jahren den Kirchenchor im Ort leitete und zwei Jahre vor der Pensionierung stand, sollten wir nötigen. Wir als Schulparteiorganisation sagten gegen die Bezirksschulinspektion: ,Das ist ein phantastischer Lehrer und wir werden auf ihn keinerlei Druck ausüben.' Ständig waren diese - wir sagten immer Mordkommandos - an der Schule, sie hatten das eine oder andere aufgegriffen und wollten uns zu verschiedenen Dingen zwingen. Was wir in unserem Schulalltag machten, hatte mit dem, was die echten, scharfen Parteileute im Bezirk wollten, gar nichts zu tun."
Die entlastende Polarität von "Schuften und Genießen" im Alltag der Arbeiter, die sich im Privatbereich in keiner Weise reglementieren ließen, gab es bei den Aufsteigern nicht. Hier musste mit viel Mühe die Balance zwischen Eigensinn, Disziplin und Konformismus gefunden werden. Der Alltag der Aufsteiger war viel stärker politisiert als jener der Arbeiter. Die neuen Vertreter der "sozialistischen Intelligenz" sahen sich zwar mit ihren egalitären Wertvorstellungen in Übereinstimmung mit der neuen politischen Doktrin, viele versuchten aber auch den radikalen, ideologisierten Kampagnen der politischen Praxis auszuweichen oder diese einzudämmen. Das galt auch für den Privatbereich. Herr C. erzählt, wie er, gerade Parteisekretär der Schule geworden, sich entscheiden musste, ob er am Wohnort der Schwiegereltern katholisch heiratet oder nicht:
"Aber ich habe das gemacht . . . außerdem gehöre ich zu den Menschen, die sich in persönliche Dinge nicht reinreden lassen. Das hat mit meinem Genosse-Sein gar nichts zu tun. Ich meine: Diese Familie war eine traditionelle katholische Familie, nicht eine, die jeden Sonntag in die Kirche springt und dem Pfarrer die Füße küsst. Sie war so, wie es bei uns zu Hause war: anständige, brave, gute Menschen. Also das hätte mir ja leid getan, wenn ich den Eltern hätte sagen müssen: Nee, das machen wir nicht. Um Gottes Willen! Die Schwester hat nämlich nicht kirchlich geheiratet, der Bräutigam war FDJ- Kreissekretär. Ich habe mir gesagt, dass ich das meinen Eltern und meinen Schwiegereltern und der ganzen Verwandtschaft schuldig bin. Wir haben dann ein großes Fest gefeiert . . . eine tadellose Hochzeit gefeiert. Und alle die Leute kamen, die Taufpaten, wie die traditionelle Hochzeit so war, und die waren ja so froh, dass wir uns alle auch mal wieder sehen konnten. Ich bin heute richtig froh, dass wir diesen Leuten noch einmal das Vergnügen machten . . . Ich hab's drauf ankommen lassen. 1955 ging das noch. Später wäre es vielleicht schlechter gewesen."
Diese Geschichte öffnet den Blick auf die Wertvorstellungen, die das Pendant oder das Gegengewicht zu den eigenen, ideologiekonformen Vorstellungen und den offiziellen Verhaltensanforderungen bildeten. Die überkommenen Werte des Herkunftsmilieus wie Traditionalität, soziale Verpflichtung oder "Anstand" und der Versuch, die Kirche im Dorfe zu lassen, ließen sie Distanz zu Radikalität, Ideologisierungen und Überspitzungen halten.
Die fünfziger Jahre zählen in den Erinnerungen der Aufsteiger deswegen zu den besten Jahren, weil sie sich in dieser Dekade am stärksten als Macher fühlen konnten, ohne die "der Laden nicht gelaufen wäre". Sie waren (Aus-)Gestalter eines gesellschaftlichen Systems, für das es noch keinen erprobten Bauplan gab. Das bedeutet für Protagonisten dieser Gruppe einerseits, dass sie mit Stolz ihre Lebensleistung in eine historische Dimension projizieren können.
Der Bergmann erinnert sich, dass man ihn später zum Werkleiter "des schwierigsten Kaliwerks in der DDR" berief, um dort "die Sache ins Laufen zu bringen", und der spätere EOS-Direktor resümiert: "An der Schule ist ein neuer Geist eingezogen, die Tore öffneten sich für Kinder einfacher Leute, während man hier früher nur für ganze hundert Privilegierte, für Kinder von Adligen, hohen Offizieren und Beamten da war." Andererseits sehen die Aufsteiger genau das, was sie mit Stolz als ihr Lebenswerk betrachten, durch den Nachwendediskurs delegitimiert oder entwertet, was natürlich an ihren Lebenserinnerungen nichts ändert.
IV. Potenzielle Millionäre - Erinnerungen von Selbstständigen an die achtziger Jahren
Die gleichaltrigen Angehörigen des Mittelstandes haben andere Erinnerungen. Für sie waren die fünfziger Jahre wahrlich keine goldenen Jahre. Die Gesellschaftskonzeption der SED-Führung sah vor, dass der Selbstständige, der Unternehmer, ja selbst der private Kleinhändler als sozialer Typ verschwinden sollte. In der Propaganda wurden die Selbstständigen als Relikte vergangener Zeiten und als Hemmnis der "politisch-ideologischen Entwicklung" stereotypisiert. Wirtschaftlich wurde der Mittelstand in der DDR durch beschränkte Mittel- und Warenzuweisung, durch den staatlichen Durchgriff auf die Preise, Löhne und Mieten und nicht zuletzt durch die restriktive Steuerpolitik arg bedrängt. Arbeiteten im Jahr 1950 noch zwanzig Prozent der Erwerbstätigen als Selbstständige oder mithelfende Familienangehörige, waren es in den achtziger Jahren nur noch fünf Prozent. Und dennoch gibt es auch in den Erinnerungen von DDR-Mittelständlern goldene Jahre. Sie begannen Ende der siebziger Jahre. Der vorangegangene, auf die Entwicklung der Konsum- und Dienstleistungsangebote gerichtete Politikwechsel, führte auch zur Rücknahme einiger Restriktionen gegen die übriggebliebenen Selbständigen. Eine vollständige Verstaatlichung von Handwerk, Handel und Dienstleistungen hatten sie nicht mehr zu befürchten. Zudem spielten Selbstständige, Handwerker und Händler in der sich ausbreitenden Schattenökonomie eine immer wichtigere Rolle, so dass die Zahl der Selbstständigen wieder leicht anstieg. Über ihren Alltag in den achtziger Jahren erzählt Frau G., eine ehemalige Kommissionshändlerin für Obst und Gemüse:
"Wir hatten ja einen guten Stand beim Großhandel. Aber wir verließen uns nicht auf die Lieferungen. Der Peter fuhr jeden Morgen selbst in die Markthalle und holte das frische Obst und Gemüse. Da hat er immer mal was Extra besorgt. Ich hab das dann in Tüten gepackt und jeder von unserer Stammkundschaft bekam eine Tüte zugesteckt. Die wussten das schon, da hat keiner gefragt, was drin ist, alle haben sie bezahlt und sich zu Hause überraschen lassen. Die Stammkunden wussten, was sie an uns hatten. Es gab aber auch ganz unangenehme Kunden, die kamen in den Laden - der Laden war ja immer voll - und haben laut gefragt: ,Na, Frau G., ham se denn was Besonderes geliefert bekommen?' Und wenn der Laden voll war, dann wurden manchmal auch die anderen Kunden rabiat: ,Ach, hier wird wohl nur an gute Kunden verkauft?' und so. Manchmal habe ich ganz schön geschwitzt. Oder sie kamen ins Büro hinten und haben gebettelt: ,Frau G., wir haben doch Jugendweihe. Können sie mir nicht ein paar Pilze oder irgendein Edelgemüse besorgen?' Das nahm dann immer mehr überhand, zum Schluss gab es ja auch nichts mehr. Damals hatte eigentlich jeder so seine Spezialität. Der Jürgen, das war der Wirt von den ,Linden', der hat uns immer zum Spanferkelessen eingeladen. Der hatte Verbindungen zur LPG in K. und bekam immer mal ein überzähliges Ferkel ab. Montags, wenn wir den Laden zu hatten, da hatte die Gaststätte auch Ruhetag und da haben wir uns meist getroffen. Und Günther, das war der mit der Vulkanisierwerkstatt, der war Jäger. Mit dem hatten wir ja zusammen das Grundstück draußen in N. Und dort war er auch im Jagdverein. Der hatte einen Waffenschein, und manchmal durfte er das erlegte Vieh zum Eigenbedarf mitnehmen. Die Rosi hat dann draußen im Grundstück gespickten Rehrücken gemacht. Ich war berühmt für meine Mandarinentorte. Dafür nahm ich immer die Früchte aus der Büchse. Da waren die Scheiben geschält, die waren unheimlich zart. Ich habe einen Biskuitboden gebacken, nicht so hoch, Sahne drauf und dann die Mandarinen und einen Schokorücken gemacht. Und für diese Torte war ich bekannt. War eine schöne Zeit damals, eigentlich unsere beste."
Die goldenen Jahre, von denen Frau G. hier erzählt, blieben dennoch bescheidene Jahre. Sie berichtet von gutem Essen, Gemeinschaft und Geselligkeit mit anderen Einzelhändlern und Gewerbetreibenden und von sozialer Anerkennung durch die Stammkunden. Nicht die Anhäufung von Geld, sondern die Sicherheit und Anerkennung ist ihr Thema. Die eigene Lebenswelt wirkte jetzt endlich sicher; in den fünfziger und sechziger Jahren hatte Frau G. immer befürchtet, dass sie das Geschäft und Grundstück nicht von ihrer Tante würde erben können und stattdessen enteignet würde. Das war nun überstanden, und auch die Geschäfte selbst gingen besser. Traditionelle Muster einer harmonieorientierten Lebenswelt mit "fleißiger Arbeit", mit "gespicktem Rehrücken", "Mandarinentorte" und Geselligkeiten in der "Linde" wurden durch die politischen und ideologischen Verhältnisse nicht mehr gestört.
Vom wirtschaftlichen und finanziellen Gewinn der Selbstständigen und Kleinhändler in der DDR der achtziger Jahre erzählt Frau G. an einer anderen Stelle:
"Gegenüber Günther waren wir natürlich Waisenknaben. Der verdiente bestimmt das Dreifache. Er selbst war ja gar nicht Meister, die Geschäftsinhaberin war Rosi. Sie hatte sich 1978 selbstständig gemacht und die Reifenbude in der Langen Strasse übernommen. Damals ging das relativ problemlos. Rosi saß im Büro und Günther vulkanisierte. Es gab ja ganz schlecht Reifen, und da hat er die alten runderneuert. Am Ende der achtziger Jahre hatte er drei Gesellen und einen Lehrling. Uns ging es damals auch nicht schlecht, aber wir hatten im Geschäft ja unsere Grenzen durch den Kommissionsvertrag mit der HO
Millionär zu werden war mit Beginn der achtziger Jahre, vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Stagnation, einer Versorgungskrise und Krise im Bereich des Handwerks und der Dienstleistungen, für die Selbstständigen wieder ein realistisches Ziel geworden - nicht eben für Frau G., die durch den Kommissionsvertrag gebremst wurde, aber für andere. Frau G. gehört ohnehin einer Generation an, der ein abgehobener Lebensstil fern gelegen hätte. Die Wertorientierung, die hier zur Geltung kommt, umschreibt Frau G. mit besser dastehen. Der Lada - ein Fiat-Modell sowjetischer Produktion -, ein eigenes Grundstück mit einem Haus, mehr war gar nicht notwendig. Der sicherheitsorientierte, traditionelle bürgerliche Lebensstil erlangte in den siebziger und achtziger Jahren mehr Geltung. Das Beharren auf Autonomie der Lebensführung, die wirtschaftliche Unabhängigkeit außerhalb der Fünfjahrpläne und politischer Leistungsbewertungen führten am Ende der DDR dazu, dass man sich nun wirklich besser dastehen sah. So wird verständlich, dass auch die Alltagserinnerungen der Selbstständigen in der DDR ihre goldenen Jahre haben.
V. Fazit und Ausblick
Alltagserinnerungen an goldene Jahre erhellen die integrativen Potenziale bestimmter Gesellschaften. Denn das Erlebnis von guten Jahren hängt eben nicht nur von Jugend, Gesundheit und glücklichen Fügungen ab, sondern auch von den Chancen und Integrationsangeboten, die eine Gesellschaft zu bieten vermag.
In der DDR bildete seit den fünfziger Jahren der Kompromiss zwischen den Interessen des Staates und den traditionellen Arbeiterinteressen ein alltägliches Integrationsangebot, dessen Bindekraft erst in den achtziger Jahren nachließ. Bei den Kleingewerbetreibenden und Selbständigen war es genau umgekehrt, sie konnten sich erst am Ende der DDR halbwegs integriert fühlen. Die Alltagserinnerungen von Verkäuferinnen und Angestellten zeigen wiederum vor allem die sechziger Jahre als goldene Jahre, während Angehörige der Intelligenz und Intellektuelle häufig von den siebziger Jahren als ihrer besten Zeit schwärmen. Auf der Alltagsebene erwies sich die DDR zu unterschiedlichen Zeiten für jeweils verschiedene Generationen und soziale Milieus als ein Land mit Integrationskraft. In den achtziger Jahren jedoch konnte die DDR kaum noch zeitgemäße Beteiligungs- und Integrationsangebote offerieren. Im Jahr 1989 sah so gut wie niemand mehr in der DDR eine Zukunft und eine persönliche Chance für sich.
Die DDR verschwand, die Erinnerungen an sie blieben. Zwar wurden diese Erinnerungen in ihrer Geltung massiv in Frage gestellt. Im Schatten der überfälligen Veröffentlichung von Erinnerungen an Repressionen und beschädigten Lebensläufen in der DDR gerieten Erinnerungen an gute Jahre unter Nostalgie-Verdacht. Doch für die Konstruktion von Lebensbilanzen sind sie wichtig. Für wen übrigens die Transformationszeit der Neunziger goldene Jahre sind, wird die Forschung späterer Jahre zeigen. Vermutlich wird in den Erzählungen über den Alltag nach der Wende deutlich werden, dass sich Beteiligungschancen und gesellschaftliche Integrationsangebote vor allem für die mittleren und oberen sozialen Milieus Ostdeutschlands verbessert haben.