I. Weitgehende Assimilation der Neubürger
Mehrheitlich auf eigenen Wunsch und auf komfortable Art sind die Ostdeutschen aus ihren gewohnten gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgerissen worden. Sie haben ihre Ursprungsgesellschaft überlebt und fanden sich nach der Auflösung bzw. Zerstörung fast des gesamten institutionellen Gefüges und der früheren Sozialstruktur in einer gänzlich anderen Gesellschaft wieder. Sie galten als Akteure eines Geschehens, das seit 1990 so deutlich hinter ihnen lag: eine abgeschlossene Zeit, jenseits derer ein neues Leben begann. Sie haben alle eine "Biographie", ihr früheres Leben ist schon Geschichte. Die Älteren erzählen davon wie von einer verlassenen Heimat: "Damals, zu unserer Zeit, da war das so . . ."
War ihnen das Neue völlig fremd? Selbstverständlich hatten in den Jahren der Teilung viele Ostdeutsche das Geschehen im Westen verfolgt. Doch trotz aufmerksamer Nachbarschaft konnten auch sie die westlichen Strukturen und Institutionen nicht kennen, die 1990 unvermittelt auf ihren Lebensraum übertragen wurden. Markt, Wirtschaft, Technik, Recht, Politik, Massenmedien, Verwaltung, soziale Sicherungen - nichts davon ist östlich geblieben. Alle wurden "zu Fremden im eigenen Land, die noch einmal ganz von vorn anzufangen hatten"
Aber eine neue innere Stimmigkeit aller Details ihres privaten und öffentlichen Lebens haben viele Ostdeutsche noch nicht erreicht. Ihr Handeln als Erwerbstätige, als Rechtssubjekte, als Männer, Frauen, Eltern, Nachbarn, Kollegen, ihr Auftreten als Staatsbürger in der politischen Sphäre, in den Tauschhandlungen, als Konsumenten usw. - alles zusammen muss sich auf den neuen Gleisen erst noch so einfahren, dass es wieder aus sich heraus adäquat und harmonisch ist. Eine vollständige kulturelle Assimilation dürfte nur nachwachsenden Generationen gelingen. Die heute lebenden "Eingeborenen" der neuen Länder werden sich nur unvollkommen und mit inneren Brüchen an die neuen Lebensregeln anzupassen vermögen. Sie fallen immer unerwartet aus der Rolle und beweisen damit, dass sie zugleich noch in ein anderes "Bedeutungsgewebe" eingebunden sind: Sie missverstehen die Situation, sprechen falsch, empfinden abstrus, geben sich unvorteilhaft, verlangen das Verkehrte, erwarten das Unmögliche und verstehen es nicht, ihre wirklichen Vorteile zu nutzen. Aber gerade weil ihnen die Selbstsicherheit fehlt, mit der Westdeutsche in allen Handlungsfeldern ihres vertrauten Gesellschaftssystems zu agieren vermögen, können sie sozial lernbegierig und kritisch sein.
Für Westdeutsche ist es mitunter kurios, wie die "Brüder und Schwestern" sich mühen, Marktwirtschaft, westliche Demokratie und Lebensstil zu erlernen, amüsiert bis ungehalten blicken sie auf Überanpassung wie auf Verweigerung. Gering ist ihre Neigung, ein altes Sujet der Zivilisationskritik wieder aufzunehmen und die Reaktionen des "naiven Wilden" als Spiegel der eigenen Kultur zu begreifen. Kritische Impulse, die aus der ostdeutschen Teilgesellschaft kommen könnten, sind kaum bemerkt oder gar fruchtbar geworden. Ist hier Furcht vor einer Überfremdung durch die Ostdeutschen im Spiele? Günter Gaus hat das kulturelle Spannungsfeld angedeutet, als er von "dummen Siegern"
Konfliktreich ist der Lernprozess der Ostdeutschen in allen Lebenssphären, doch das existenzielle Gewicht ist verschieden verteilt. Mit vielen der neuen Bedingungen kamen sie im Alltagshandeln schnell zurecht.
1. Arbeit
Die größten Übergangsschwierigkeiten dürften aus der subjektiv erlebten Abwertung der eigenen Arbeit folgen - vordergründig und mehrheitlich als Verlust der beruflichen Qualifikation und der Erwerbsmöglichkeit erfahren. Zugleich fällt es vielen Ostdeutschen schwer, die Arbeit nun als Job zu verstehen, den man suchen und annehmen muss, die Arbeit als Konkurrenz- und Karrierefeld zu begreifen, ihre ständige Gefährdung durch Arbeitslosigkeit zu verarbeiten und damit klar zu kommen, dass sie für die überwiegende Mehrheit heute ein Ort strikter Unterordnung und Anpassung ist.
Fast alles dies kollidiert mit ihrer starken Arbeitsorientierung. Im innerdeutschen Vergleich gilt sie übereinstimmend als mentale Besonderheit der Ostdeutschen, konnte sie doch in allen Milieus und Lebensstilgruppen nachgewiesen werden. Unter den sehr wichtigen Lebensbereichen nennen 34,7 Prozent der Westdeutschen die Arbeit (nach Familie, Freizeit und Freunden), dagegen 60,8 Prozent der Ostdeutschen (zweiter Platz nach der Familie).
Denn in den Umfragen von 1990/91 haben sich die Ostdeutschen noch als überzeugte Anhänger der Leistungsgesellschaft ausgewiesen, wurden dann aber durch eigene Erfahrung zu Skeptikern. Es trat ein Stimmungsumschwung in der Beziehung zum System der sozialen Marktwirtschaft ein, den Heiner Meulemann gerade auf die verbreitete "Arbeitsideologie", auf die überhöhten Erwartungen der Ostdeutschen und ihre Blindheit gegenüber den neuen Chancen zurückgeführt hat.
Selbstverständlich wird dieser Bruch in den ostdeutschen Milieus und Lebensstilgruppen unterschiedlich bewältigt und kulturell gedeutet. So ist sofort einsichtig, dass unter den von Annette Spellerberg im Osten identifizierten Lebensstilgruppen
Während sich im Westen der schon länger anhaltende Trend zu einer distanzierteren Haltung gegenüber der Arbeit fortsetzte, wuchs im anderen Landesteil die Identifikation mit der Arbeit noch. Heiner Meulemann vermutet darin nostalgischen Trotz und hinter der wachsenden Identifikation der Ostdeutschen mit "ihrer" verschwundenen Gesellschaft eine rückblickende Idealisierung der eigenen Arbeit.
Es ist trivial, dennoch muss es gesagt werden: Abhängige Erwerbsarbeit war und ist für Nichtbesitzende die einzige Quelle von Existenzmitteln, ist die Voraussetzung jeder Bedürfnis- und Genussdifferenzierung. Auf die Arbeit hin werden sie darum sozialisiert, sie allein ermöglicht ihnen persönliche Bewährung und gesellschaftliche Anerkennung und sie macht den Hauptteil ihres aktiven Lebens aus. Das haben in Deutschland die protestantische Arbeitsethik, bildungsbürgerlicher Idealismus, pietistische Lehrerseminare, die Sozialdemokratie und Walter Ulbrichts zehn Gebote gleichermaßen gepredigt. Das konnte in einer Gesellschaft nicht ohne nachhaltige Wirkung bleiben, in der für alle das Arbeitsvermögen die einzige individuelle Ressource war. Alle vorliegenden Untersuchungen bestätigen, dass die DDR eine "Arbeitsgesellschaft" war, wie Martin Kohli
2. Armut, Reichtum und Gerechtigkeit
Eng verbunden mit Verlusterfahrungen in der Arbeit ist eine andere "Ernüchterung": Der Reichtum der neuen deutschen Gesellschaft hat offenbar auch andere Quellen, und er ist nicht der Reichtum aller Deutschen; der Anschluss an die Bundesrepublik hat die Ostdeutschen nicht zu Teilhabern, sondern mehrheitlich zu Alimentierten gemacht. Unvermutet war der große Kontrast zwischen Arm und Reich, fremd blieb die "Schamlosigkeit", mit der er als Antrieb und Folge des - gleichfalls ungewohnten - Konkurrenzverhaltens legitimiert wird. Daran gewöhnt, jede deutlich sichtbare Besserstellung als ein unrechtmäßiges Privileg zu begreifen (oder deren Rechtmäßigkeit zumindest anzuzweifeln), zeigen Ostdeutsche heute in allen Untersuchungen andere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit
Die ostdeutsche Gesellschaft war egalitär konzipiert, die reale Dauerspannung zwischen differenzierenden und egalisierenden Tendenzen kann als ihr sozialer "Grundwiderspruch" angesehen werden. In der Selbstthematisierung der DDR wie in der ideologischen Abgrenzung von der anderen deutschen Gesellschaft stand die Aufhebung sozialer Unterschiede immer im Mittelpunkt. Empfundene Ungleichheit, die Bildung von Gerechtigkeitssinn und von gruppensolidarischer Praxis mussten in einer auf Gleichheit programmierten Gesellschaft ohne Privateigentum (in Marx'scher Definition) anders ausfallen als in einer Gesellschaft, für die der Besitzunterschied konstitutiv ist und in der eine große Spanne zwischen der Lebenslage der Reichen und jener der Armen als gesellschaftliches Faktum angenommen wird.
Dagegen galten durch soziale Umstände verursachte und politisch zu verantwortende Ungleichheiten allgemein als ungerecht, ihre Abschaffung war das moralisch weithin legitimierte Ziel. Erst in den siebziger Jahren begannen Soziologen die "zu weit"
In dieser Gleichheitsfixierung dürfte eine wesentliche mentale Besonderheit der ostdeutschen Population bestehen. Sie richtet sich heute weniger gegen privaten Reichtum der ohnehin unsichtbaren Oberklasse. Der wird vielleicht erträumt und ist zugleich noch nicht ausreichend moralisch legitimiert. Unverständnis und Furcht aber löst das ungewohnte sichtbare Elend der unteren Randgruppen aus. Da sie nur aus den Sendungen Karl-Eduard von Schnitzlers bekannt waren, musste die Realitätserfahrung schockartig ausfallen. Ostdeutsche hatten keine Praxis im Umgang mit Obdachlosen, Asylsuchenden, Fixern, "überflüssigen Jugendlichen". Das möchten sie nicht gleichmütig hinnehmen und lasten es "dem System" an. Gerechtigkeitsvorstellungen und Angst vor eigener Ausgrenzung lassen die Mehrheit der Ostdeutschen den Staat als einzige für sie erkennbare Instanz anrufen, hier Abhilfe zu schaffen.
Heiner Meulemann hat darin den Kern der Ost-West-Differenz gesehen und sie auf zwei gegensätzliche kulturelle Prinzipien zurückgeführt: "Ergebnisgleichheit versus Chancengleichheit"
3. Geld
Die Ostdeutschen erlebten die neuen Verhältnisse zunächst als Öffnung eines unüberschaubaren Marktes mit überwältigender Vielfalt und boten das Schauspiel einer naiven Freude an der "Banane". Vielerorts hinterließen sie den Eindruck "orientierungsloser Konsumidioten". Die Marktforschung relativierte das bald: Die konsumorientierten hedonistischen Milieus waren im Osten relativ klein.
Diese Erkenntnis deutete sich als Ahnung erst an, als der Alltag plötzlich zu einer ungewohnten und belastenden Rechenaufgabe wurde. Bis dahin unbekannte Begriffe mussten nicht nur erlernt, sondern auch in ihrer Bedeutung für das eigene Leben abgeschätzt werden: Steuerklasse, Mehrwertsteuer, Preisvergleich, Kreditrahmen, Überziehungszinsen, Mietspiegel, Abschmelzung, Sonderkonditionen, Steuersparmodelle, Anrechnungszeiten, Abschreibung, Entgeltpunkte, Rezeptgebühr, Freibetrag, Kapitalertragssteuer, Skonti usw.
Aufgewachsen in einer Planwirtschaft, die auf die Herstellung von Gebrauchswerten ausgerichtet war, nicht auf Gewinn in Geldform, konnten und können viele Ostdeutsche die absolute Dominanz des Geldes in einer Markt- und Geldwirtschaft nur schwer begreifen. Geld ist für die Mehrheit immer noch das vertraute Tausch- und Zahlungsmittel, weshalb ihnen allein auf dieser Ebene des Geldverhältnisses die Anpassung leicht fiel. Freilich verhalten sie sich auch in diesen "einfachen" Geldangelegenheiten (Kaufstrategien, Preisvergleich, Rabatte, Kredite, Steuern, Sparen) bis heute deutlich anders als die Westdeutschen.
Es ist erstaunlich, dass die "Wiederkehr des Geldes als Wert" von den Transformationsforschern nicht näher untersucht worden ist. Möglicherweise besaß der "Schrei nach der Westmark" eine solche Evidenz, dass die (ja fast immer westdeutschen) Wissenschaftler darin gar kein Problem gesehen haben. Vielleicht war er eine Medienerfindung? Als sicher kann angenommen werden, dass euphorisierte Mehrheiten kaum die wirtschaftlich zerstörerischen Wirkungen des Geldes ahnten, die mit der "Währungsunion" einsetzten; sie wussten noch nicht, in welcher Weise der Markt bald Schicksal spielen würde. Auch erstaunte, dass von allen bislang gültigen Werten nur der in der DDR wenig beliebte Haus- und Grundbesitz Bestand haben sollte. An dem einsetzenden Geschacher um die DDR-Überreste konnten Ostdeutsche nur ausnahmsweise mitwirken, weil ihnen Entscheidendes fehlte: Geld und Kreditwürdigkeit. Sie hatten auch keine Erfahrung auf diesem Felde und waren mental nicht darauf eingestellt.
Während die Kapitalgesellschaft in den Geldangelegenheiten nur wenige "sittenwidrige Geschäfte" kennt, tendierte die ostdeutsche Gesellschaft dazu, alles Geschäftliche als pejorativ anzusehen. Niemand konnte hier eine Idee "günstig vermarkten" oder sich selbst "gut verkaufen". Geschäftstüchtigkeit galt eher als üble Nachrede, und selbst unter den wenigen Prostituierten wurde Wert darauf gelegt, "es" nicht allein oder in erster Linie des Geldes wegen zu tun.
Selbstverständlich war Geld auch im Alltag der DDR-Gesellschaft eine wichtige Größe. Vorrangig in Geldform wurde die Arbeitsbewertung ausgedrückt. Doch die Arbeit war für viele nicht das Mittel und das Geld der Zweck, schon weil es viele andere arbeitsabhängige Gratifikationen gab. Geld diente als eine Art Bezugschein für notwendige und begehrte Güter. Das Verhältnis war kalkulierbar, veränderte sich doch das limitierte Warenangebot nur langsam, auch die Preise blieben weithin stabil und waren im ganzen Lande gleich.
Das Leben der Ostdeutschen war seitdem geprägt durch die weitgehende Abwesenheit von Privateigentum und von seinem Geldausdruck. Das galt auch für den persönlichen Besitz. Erbschaftsangelegenheiten waren meist ohne größere Bedeutung, Steuern galten eher als Überbleibsel und spielten für die Mehrheit keine große Rolle (Bauern zahlten keine, Arbeiter geringe, Angestellte, Handwerker, Gastwirte und andere Selbständige mussten mehr zahlen). Geld war nicht zweitrangig geworden, doch oftmals wirkte es gar nicht als allgemeines Äquivalent oder nur in Kombination mit "Beziehungen", mit Zugriffsmöglichkeiten, Findigkeit usw. Auch das begehrte Westgeld hatte als häufigste Quelle "persönliche Abhängigkeitsverhältnisse", und verwendbar war es zunächst nur im "Beziehungsgeldverkehr". Selbst die "Intershops" funktionierten anfangs so.
4. Zeit
Die kulturelle Umwertung des Geldes musste auch das Verhältnis zur Zeit ändern. Es ist vermutet worden, dass die individuelle Zeitsouveränität deutlich vor der Verfügung über Geld rangierte. Ferner ist auf den geringeren Leistungs- und Konsumdruck als Ursache hingewiesen worden. Als aktuelle Indizien gelten Klagen über einen ungewohnten Zeitdruck, über die Hektik der westdeutschen Gesellschaft und über eingetretenen Zeitmangel ("früher waren wir uns alle irgendwie näher, heute hat keiner mehr Zeit"). Daran wird in aktuellen Debatten über die Zukunft der Arbeit die Erwartung geknüpft, dass Ostdeutsche ihrer mentalen "Ausstattung" nach eher bereit sein könnten, für Zeitgewinn auf Geld zu verzichten. Sofern diese Neigung tatsächlich nachgewiesen werden kann, dürfte sie aus zwei Gründen wenig dauerhaft sein: Zum einen ist aktuell und auf absehbare Zeit nur eine kleine ostdeutsche Schicht materiell so ausgestattet, dass ihr die Konvertierung von Geld in Zeit möglich ist (aber gerade diese Gutverdienenden können sich keine Arbeitspausen leisten). Zum anderen verweisen alle Daten zum Medien-, Konsum- und Zeitverhalten auf die schnelle Assimilation der Ostdeutschen. Zwar bestehen noch deutliche Rückstände im Umfang der verfügbaren freien Zeit,
Wenn in den Vorstellungen großer Gruppen dennoch die selbst bestimmte Zeit als Wert vor dem Geld rangiert, dann dürfte das an der noch unzureichenden kulturellen Legitimation des Geldes liegen. Es hält sich die Überzeugung, es gäbe einforderbare soziale Menschenrechte, die Vorrang vor allen Bilanzen haben. In diesem Punkt hadern selbst weitgehend Assimilierte mit den heutigen Zuständen. Aber in welchen Aktionen, welcher Bewegung, welchen Ereignissen sich diese mentale Verfassung heute noch kulturell objektivieren könnte, muss offen bleiben. Wahrscheinlich wird sie als Hintergrund für Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit überdauern.
5. Symmetrie der Geschlechter?
Gemäß dem asymmetrischen Geschlechtervertrag westlicher Industriegesellschaften liegt der Hauptakzent der männlichen Rolle darauf, die Familie zu versorgen. Als weibliche Lebensaufgabe wird es angesehen, die Familie zu erhalten. Beim Übergang in die westdeutsche Gesellschaft folgten daraus für ostdeutsche Frauen aller Altersgruppen und Schichten, für deren Lebensentwurf und Alltagspraxis die lebenslange Berufstätigkeit normal war, vielfältige Konflikte. Es kam zu einer neuartigen Doppelbelastung als Ostdeutsche und als Frau. Nun untauglich gewordene Emanzipationsstrategien mussten auf das neue Bedingungssystem umgestellt werden.
Ein Bild davon zeichneten bereits die frühen Studien zu den Lebensverhältnissen deutscher Frauen, etwa die "Schering-Frauenstudie '93", nach der 81 Prozent der ostdeutschen Frauen meinten, dass sich ihre Situation seit 1990 verschlechtert habe (nur 5 Prozent sahen eine Verbesserung).
Weibliche Gegenwehr richtete sich vor allem gegen die Verdrängung aus der Berufstätigkeit. Denn schnell war offensichtlich, dass Lebenschancen und Möglichkeiten zu kultureller und politischer Teilhabe nun in noch höherem Maße von der eigenen Erwerbstätigkeit abhingen. Das motivierte zum Festhalten an der "Doppelstrategie" (jüngst auch an der erheblichen Zahl junger Frauen festgestellt, die nach 1989 in den Westen gegangen sind
Debatten über die neue Lebenssituation von Frauen waren meist emotional aufgeladen, reichten die neuen Konflikte doch vom "Intimleben" über das Verhältnis zu den Kindern bis in die hohe Politik und berührten damit immer zugleich das Selbstverständnis der Beteiligten. Es hat nicht an Prognosen gefehlt, dass sich der Sonderanspruch der ostdeutschen Frauen schnell verlieren werde (auch die - immer noch niedrige - Geburtenrate wurde als kurzfristiges Anpassungsverhalten interpretiert). Es wurde sogar ihr "unguter Hang zur Erwerbstätigkeit" als eine der Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit im Osten ausgemacht. Doch entgegen allen Widrigkeiten beharrten sie fast ausnahmslos auf ihrer vollen Erwerbsintegration. Das wirkt sich offenbar auch positiv auf die Familienbindung aus, denn ostdeutsche Frauen gewinnen deutlich mehr Freude aus der Familie, durch ihre Kinder und ihre Partnerschaft als westdeutsche.
An einer zusammenfassenden Aufzählung jener Faktoren, die im Osten eine Annäherung der Geschlechterpositionen bewirkt haben, lässt sich ablesen, in welchen Aspekten der Lebensalltag der ostdeutschen Frauen anders war und auf welchen Gebieten sie nach 1990 daher Zurücksetzungen erfahren haben. Karl Ulrich Mayer und Martin Diewald zählten zu den "umfassenden Gleichstellungsmaßnahmen . . . unter anderem die rechtliche Gleichstellung, die Herstellung der Gleichheit der Ausbildungsqualifikationen, die Vollerwerbstätigkeit, die Förderung der Frauen bei der Besetzung von Leitungspositionen, die Minimierung der Folgen und Kosten von geburtenbedingten Erwerbsunterbrechungen, umfassende Dienstleistungen für die Kinderbetreuung im Schul- und Vorschulalter, eine kinderfreundliche Wohnungsvergabe und - nicht zuletzt - die Herstellung einer Gleichheitskultur auf der Ebene offizieller Normen, Werte und Leitbilder"
6. Sicherheit und Freiheit
Zu den großen sozialen Umbrüchen, welche die Ostdeutschen zu verarbeiten haben, gehört die bis dahin unbekannte Unüberschaubarkeit und Unsicherheit der eigenen Existenz. Ihr früheres Leben war vor abwendbaren Folgen der Wechselfälle des individuellen Lebens und des sozialen Wandels weitgehend geschützt. Planung und Lenkung bewahrten sie vor den Marktkräften, sie lebten in einem "Versorgungsstaat", der idealiter "die Grundversorgung der Bevölkerung umfassend und gleichmäßig garantiert(e). Dazu dienten die Garantie des Arbeitsplatzes und ein niedrig gehaltenes Preisniveau ebenso wie der kostenlose Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem oder ein weitgehend nivelliertes Rentensystem."
In der von Hans Günter Hockerts herausgegebenen Vergleichsstudie wird herausgearbeitet, wie die Nachfolgestaaten der Weimarer Republik aus deren "spannungsreicher Gemengelage" die "verschiedenen Optionen und Ordnungsideen" "in jeweils spezifischer Auswahl aufgegriffen" haben und wie sie "in besonderen Bahnen fortgeführt worden sind". Wenn solcherart die Ost-West-Unterschiede in Arbeitsverfassung, Gesundheitspolitik, Alters- und Familiensicherung, Wohnungspolitik und öffentlicher Fürsorge vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Vergangenheit vergli- chen werden, wird auch verständlich, wie unterschiedlich die jeweils ausgebildeten Wertvorstellungen und Strategien des Alltagshandelns ausfallen mussten, warum Ostdeutsche auf die Entlassung aus der Fürsorge und die damit verbundene "Unsicherheitserfahrung"
In diesem Geiste machten die Medien soziale Sicherheit und Freiheit zu einem Gegensatzpaar. In ihrem politischen Tagesgeschäft begann es für die deutsch-deutschen Unterschiede insgesamt zu stehen. Doch prüft man die Begriffsinhalte, in denen solche gravierenden Differenzen im Wertehaushalt geäußert werden, so ist zu sehen, dass Sicherheit und Freiheit in Ost und West anders verstanden und definiert werden. Ostdeutschen geht es weniger um Freiheitsrechte, dafür mehr um die Freiheit von ausschließenden und einschränkenden Lebensbedingungen. Dies mag in der "arbeiterlichen" Tradition liegen, in erkämpften sozialen Sicherheiten die Grundlage familiärer wie individueller Handlungsspielräume zu sehen. Es ist anzunehmen, dass diese mentale Eigenheit bei den gegebenen Besitzverhältnissen nicht so schnell verschwinden wird.
II. Nachklingende typologische Unvereinbarkeit?
Kommt "ostdeutsches Verhalten" öffentlich zur Sprache, geht es fast immer um Abweichungen (von "westdeutschem Verhalten") grundsätzlicher Art: in den Ansprüchen an die Arbeit, in Vorstellungen von der Frauenrolle, von Gerechtigkeit und Freiheit, von Religion und Krieg. Es ist schwer zu sagen, ob die gesteigerte Empfindlichkeit für solche mentalen Ost-West-Unterschiede als Indiz für die inzwischen erreichte Nähe zu deuten ist oder ob sich darin das nur schwer zu unterdrückende Unbehagen äußert, das vom verschieden gestrickten, untergründigen Kulturgewebe des anderen erregt wird. Immer noch brechen bei den Ostdeutschen unvermutet Anpassungskonflikte auf, häufig durch Nichtigkeiten ausgelöst. Das gilt sowohl für kollektive Stimmungslagen wie für den Alltag der Einzelnen. Die weitgehende Beliebigkeit der Anlässe könnte darauf hindeuten, dass sich die subjektive Verfassung immer noch an dem ungewohnt organisierten Gesellschaftstypus reibt und abarbeitet. Die erstaunliche Zähigkeit, mit der Ostdeutsche in ganz verschiedenen Situationen immer wieder "falsch" handeln, scheint eine solche nachklingende typologische Unvereinbarkeit zu bestätigen.
Den neuen Lebensbedingungen entspricht eine andere, gleichfalls stringente Verhaltenslogik. Denn auch hier gehören auf der objektiven Seite Konkurrenzökonomie, Privateigentum, Markt, Parteiendemokratie, Vertragsrecht, plurale Öffentlichkeit usw. zusammen, bedingen einander, stützen sich wechselseitig und erzeugen durch ihre widersprüchliche "Harmonie" auf der subjektiven Seite Verhaltensstrategien, die aufeinander verweisen, die ein "Bedeutungsgewebe" bilden. Offenbar erscheint dieses Netz kultureller Übereinstimmung "den Ostdeutschen" - nach Generation, sozialer Lage und kulturellem Milieu recht verschieden empfunden - noch nicht richtig geknüpft zu sein. Solche Unzufriedenheit könnte signalisieren, dass der enorme Anpassungsdruck, der mit der Komplettlösung des Systemtransfers verbunden war, ihre Initiativen nicht nur auf die Adaption an das Vorgegebene begrenzte, sondern inzwischen in eine kulturell produktive Situation mündet, die über das Reproduktive hinausgehen könnte. Internetverweise des Autors: www.zzf-pdm.de www.polwiss.fu-berlin.de www.berlinerdebatte.de www.zonentalk.de