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Globaler Dschihad? | Wertepluralismus und Toleranz | bpb.de

Wertepluralismus und Toleranz Editorial Was für den Westen zählt, oder: Sind amerikanische Werte auch unsere Werte? Ein Krieg "jeder gegen jeden": Terror und die Politik der Angst Globaler Dschihad? Zum Verhältnis von Wissenschaft, Technologie und Globalisierung in der arabischen Welt Zivile oder herrschaftliche Religion?

Globaler Dschihad? Die Freund-Feind-Unterscheidung im Islam und in der Theorie des Gesellschaftsvertrags

Hendrik Hansen

/ 25 Minuten zu lesen

Neue globale Konflikte werfen die Frage auf, wo zwischen Islamismus, islamischem und westlichem Politikverständnis die entscheidenden Konfliktlinien verlaufen. Nicht erst der islamistische Terrorismus geht von einer Zweiteilung der Welt aus.

Einleitung

Der Autor dankt der Fritz Thyssen Stiftung für die Unterstützung des Forschungsprojekts "Politik und Ökonomie in der Globalisierungsdebatte und in der Ideengeschichte. Die Bedeutung von Aristoteles, Adam Smith und Karl Marx für die Bestimmung des Stellenwerts der Politik im globalen Wettbewerb", in dessen Rahmen der Aufsatz entstanden ist.

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  • I. Die Globalisierungsdiskussion nach dem 11. September

    Die Welt schien so einfach geworden zu sein: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sollte die globale Marktwirtschaft Wohlstand und Demokratie bis in die letzten Winkel der Erde bringen. Gestritten wurde darüber, ob der globale Markt sich selbst reguliert oder ob er von globalen demokratischen Institutionen gezähmt werden muss - unbestritten blieb aber, dass als Grundlage der Globalisierung ausschließlich das individualistische Werteverständnis in Frage kommt. Diese Grundlage schien so selbstverständlich zu sein, dass sie auch durch Samuel P. Huntingtons Warnung vor einem drohenden "Kampf der Kulturen" nicht ernsthaft erschüttert werden konnte.

    Die Anschläge vom 11. September 2001 und der darauf folgende "Krieg gegen den Terror" führen jedoch schmerzhaft vor Augen, dass der globale Anspruch, mit dem das individualistische Staats- und Gesellschaftsverständnis vertreten wird, keinen weltweiten Zuspruch findet und dass sich vor allem in der islamischen Welt ein vehementer Widerstand gegen diesen Anspruch regt. Die Globalisierungsdiskussion wird nicht umhinkommen, in Zukunft diese Konflikte zu thematisieren, die zumindest teilweise durch die Konkurrenz globaler Ansprüche hervorgerufen werden. Die Frage ist jedoch, wo überhaupt die entscheidenden Konfliktlinien verlaufen.

    Die Orientierungslosigkeit in dieser Frage wird daran deutlich, dass mindestens drei konkurrierende Antworten angeboten werden. Zahlreiche Repräsentanten der westlichen Länder, insbesondere Präsident Bush, betonen erstens, dass der Islam eine friedliche Religion sei und der Konflikt allein zwischen dem Westen und dem islamistischen Terrorismus bestehe. Der Terrorismus beruhe auf einem Fundamentalismus, der sich nur zufällig des Islam bediene. Dem wird, zweitens die These von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Islam und westlichem Denken entgegengehalten: So hat Huntington in seinem bereits zitierten Buch die Auffassung vertreten, dass die westlichen und die islamischen Gesellschaftskonzepte einander entgegengesetzt seien; weil sie zugleich mit einem universellen Anspruch vertreten werden, ergebe sich daraus ein kaum vermeidbarer Kampf der Kulturen. Der islamistische Terror lässt sich aus dieser Sicht als eine besondere Ausdrucksform dieses Kampfes verstehen. Drittens schließlich wird - unter anderem von der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy - die entscheidende Trennlinie innerhalb der westlichen und der islamischen Welt gesehen: Sowohl das westliche als auch das islamische Denken könnten in einem friedliebenden Sinne verstanden und gelebt werden. George W. Bush und Osama Bin Laden verkörperten hingegen die kriegerische Ausdeutung des jeweiligen Denkens und stellten damit beide in gleicher Weise eine Gefahr für den Weltfrieden dar. Die Grundlage dieser Gemeinsamkeit bildet nach Roy das manichäische Weltbild von Bush und Bin Laden, das sich in besonderer Weise in ihrem gemeinsamen Grundsatz "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich" zeigte.

    Der Widerspruch zwischen diesen Deutungen der gegenwärtigen Lage fordert dazu heraus, die Gesellschafts- und Politikkonzepte des Westens, des Islam und des Islamismus zu vergleichen, um die Konfliktlinien klarer zu bestimmen. Für die Analyse des islamischen Politikverständnisses ist das Konzept des Dschihad ein wichtiger Ausgangspunkt: Der Dschihad dient nicht nur den Terroristen als Schlagwort, sondern spielt allgemein im Islam eine bedeutende Rolle, weil er aus der für den Islam grundlegenden Freund-Feind-Unterscheidung resultiert (Abschnitt II). Doch gerade in der Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung weist der Islam eine entscheidende Ähnlichkeit mit der für das westliche Staatsverständnis prägenden Theorie des Gesellschaftsvertrags auf (Abschnitt III). Nicht so sehr die Unterschiede, sondern diese Gemeinsamkeit begründet die Schwierigkeit, die westliche und islamische Länder im Umgang miteinander haben. Problematisch ist die Freund-Feind-Unterscheidung aber nicht allein, weil sie eine neue Form des Ost-West-Konflikts zwischen westlichen und islamischen Ländern hervorrufen kann, sondern zudem, weil diese Unterscheidung den Nährboden für Ideologien jeglicher Art bildet - vom Marxismus über den Nationalsozialismus bis hin zum Islamismus (Abschnitt IV).

    II. Dschihad und Freund-Feind-Unterscheidung im Islam

    Der Dschihad wurde nicht erst von islamistischen Terroristen erfunden, sondern spielt bereits im Koran und in der klassischen islamischen Lehre eine bedeutende Rolle. Der Begriff bezeichnet allgemein den Einsatz der Gläubigen für den Islam, wobei dieser Einsatz nicht von vornherein militärisch verstanden werden muss. Nach klassischer Lehre wird vielmehr zwischen dem großen und dem kleinen Dschihad unterschieden: Der große Dschihad ist der innere Kampf des Einzelnen, in dem er seine Begierden überwindet und den Verführungen, die ihn vom Pfad des rechten Glaubens abbringen können, widersteht. Der kleine Dschihad hingegen ist der nach außen gerichtete Kampf gegen Ungläubige; nur auf ihn trifft die gängige Übersetzung "heiliger Krieg" zu.

    Die Unterscheidung von großem und kleinem, innerem und äußerem Dschihad darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Koran dem kleinen Dschihad die mit Abstand größere Bedeutung zukommt: Bis auf wenige Ausnahmen bezeichnet der Begriff dort den Krieg, den Mohammed und seine Anhänger von Medina aus gegen die "Ungläubigen", insbesondere gegen die polytheistischen Stämme in Mekka, führten und der der Verbreitung des Islam und der Einigung der arabischen Halbinsel diente. Die Pflicht zum heiligen Krieg wird im Koran immer wieder hervorgehoben: "Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt." Der Kampf für die Verbreitung des Islam bedeutet für den Muslim die Prüfung seiner Rechtgläubigkeit: "Und hätte Allah gewollt, wahrlich, er hätte selbst Rache an ihnen (den Ungläubigen, H. H.) genommen; jedoch wollte er die einen von euch durch die anderen prüfen." (Sure 47, Vers 5). Erst im Einsatz des Lebens beweist sich die völlige Hingabe des Menschen an Gott; der Lohn für diesen Einsatz ist das Paradies (8, 5-7; 3, 148-151). Grundlage des Kampfes ist ein "Geschäft" mit Gott (9, 112); wer sich vor dem heiligen Krieg drückt, hält in diesem "Vertrag" die eigene Leistung zurück und verliert in der Konsequenz die Aussicht auf das Paradies (9, 38). Im Unterschied jedoch zum Vorgehen islamistischer Terroristen unterliegt der heilige Krieg nach dem Koran einer Begrenzung durch Regeln: Nicht alles ist erlaubt; insbesondere darf "ein Gläubiger . . . keinen Gläubigen töten" (4, 94 f.), und der Krieg gegen Juden und Christen darf nur so lange geführt werden, bis diese sich der politischen Herrschaft der Muslime unterworfen haben und als Gegenleistung für die Möglichkeit, ihre Religion weiter auszuüben, Tribut zahlen (9, 29).

    Doch für die Beantwortung der Frage, ob nicht nur vom Islamismus, sondern auch vom Islam eine Gefahr für den Weltfrieden ausgeht, können diese Zitate aus dem Koran nicht genügen: Es kommt darauf an, den systematischen Stellenwert des Dschihad im Islam zu verstehen und die Frage zu beantworten, ob die Pflicht zum heiligen Krieg umgedeutet werden kann zu einer Pflicht zur inneren Glaubensanstrengung, zum großen Dschihad. Dies lässt sich nur unter Rückgriff auf das Grundanliegen des Islam beantworten.

    Der Anspruch des Islam ist es, durch die Herrschaft der göttlichen Gesetze die beste menschliche Gemeinschaft hervorzubringen: "Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet, was rechtens ist, und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah" (3, 106). Wahre Gemeinschaft beruht auf dem unbedingten Glauben an den einen Gott, der sich in der Beachtung der Pflichten und Regeln, die Gott dem Menschen auferlegt hat, äußert. Die Gesamtheit der offenbarten Pflichten und Regeln bildet das göttliche Gesetz, die Scharia, die in der islamischen Tradition aus dem Koran und aus der Sunna, d. h. der Sammlung der Aussprüche Mohammeds und der Beschreibungen seiner Lebensweise, abgeleitet wurde. Die Befolgung der Scharia bringt den Frieden hervor, der die beste Gemeinschaft auszeichnet und der auf der weltlichen Ebene das höchste Ziel ist.

    Den göttlichen Gesetzen kommt somit im islamischen Glauben eine zentrale Stellung zu: Da die Gesetze unmittelbar als Gottes Wille verstanden werden, ist ihre Befolgung Gottesdienst im wahren Sinne des Wortes - sie ist nicht ein Bestandteil des Islam unter anderen, sondern das Leben nach den Gesetzen ist der ganze Islam: "Das ganze Leben des Muslim ist in das Gefüge der sari'a eingebaut. Die sari'a, das Gesetz, ist zu bezeichnen als die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allahs. Ja, man hat - mit einiger Übertreibung - sagen können, die koranische Offenbarung habe nur Gottes Gesetz mitgeteilt, nicht aber Gott selbst offenbart." Aus dieser zentralen Stellung des Gesetzes folgt, dass es idealerweise das gesamte Rechtswesen der Gemeinschaft bestimmt. Das gottgemäße Leben wird in der Gemeinschaft der Muslime geführt; eine Trennung von Staat und Kirche wie im Christentum ist deshalb nicht möglich: "Religiöse und politische Gemeinschaft sind eins: Das Staatsvolk ist Gottesvolk, das religiöse Gesetz (shari'a) Staatsgesetz."

    Die Gemeinschaft, die nach dem göttlichen Gesetz lebt, verwirklicht den Frieden - wo hingegen das Gesetz nicht befolgt wird, herrschen Krieg und Unordnung. Entsprechend unterscheidet der islamische Glaube zwischen zwei Reichen: dem "Reich des Islam" (Dar al-Islam) und dem "Reich des Krieges" (Dar al-Harb). Dies ist die islamische Variante der Freund-Feind-Unterscheidung: Freund ist in erster Linie derjenige, der sich ebenfalls zum islamischen Glauben bekennt und somit der Gemeinschaft aller Muslime (der Umma) angehört; in zweiter Linie ist es derjenige, der sich als Jude oder Christ der politischen Herrschaft des Islam unterwirft und gegen Zahlung einer Abgabe den Status eines Schutzbürgers erhält, als der er die Erlaubnis hat, seine Religion weiter auszuüben (Koran 9, 29). Wer hingegen die Herrschaft des Islam ablehnt, lehnt die Ordnung ab, die allein geeignet ist, den Menschen Frieden zu bringen: Er verweigert sich Gottes Willen und der von ihm allen Menschen befohlenen Ordnung und kann somit von den Gläubigen nur als Feind angesehen werden. Der Kampf gegen ihn ist Dschihad. Diesen Kampf zu führen ist göttliche Pflicht: Wenn die Scharia die beste Ordnung für alle Menschen ist, dann ist es unabdingbar, dass diejenigen, die dies erkannt haben, für die Ausweitung dieser Ordnung auf die gesamte Welt kämpfen. Das Ziel ist in letzter Konsequenz die Weltherrschaft des islamischen Gesetzes: "Und kämpfet . . ., bis alles an Allah glaubt" (8, 40).

    Das Konzept des Dschihad ist somit wesentlicher Bestandteil des islamischen Glaubens. Zwar kann das "Reich des Krieges", das die Ungläubigen bilden, temporär zum "Reich des Vertrags" werden, mit dem man in friedlicher Koexistenz lebt. Doch diese Möglichkeit besteht nur, solange die Islamisierung dieser nichtislamischen Staaten aussichtslos ist. Ein genereller Verzicht auf Expansion käme hingegen der Aufgabe des universellen Anspruchs gleich: Anders als im Judentum soll das islamische Gesetz gerade nicht allein für ein auserwähltes Volk gelten, sondern für alle Menschen. Der reformierte Euro-Islam, der auf die Lehre von den zwei Reichen und damit auf die gewalttätige Expansion verzichtet, ist aus politischer Sicht zwar zu begrüßen, doch dieses liberale Verständnis des Islam wird von der breiten Masse der Muslime nicht geteilt. Und es ist tatsächlich fraglich, was vom Islam und dem ihn prägenden Verständnis des göttlichen Gesetzes übrig bleibt, wenn man ihn auf eine Privatreligion reduziert. Andererseits wäre es voreilig, würde man den Grund für mögliche Konflikte zwischen dem Islam und dem Westen allein auf Seiten des Islam suchen. Der Westen kennt zwar offiziell nicht das Konzept des heiligen Krieges, doch die dem Dschihad zugrunde liegende Freund-Feind-Unterscheidung spielt auch in der Vertragstheorie, die für das westliche Verständnis von Politik und Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist, eine zentrale Rolle.

    III. Die Freund-Feind-Unterscheidung in der Vertragstheorie

    Der Vergleich des islamischen mit dem (neuzeitlichen) westlichen Politikverständnis wirft zunächst eine Schwierigkeit auf: Das Letztere beruht nicht auf Glaubensinhalten, die von allen Bürgern geteilt werden, sondern gerade auf der Ablehnung verbindlicher Glaubensinhalte. Der mit dem Islam verbundene Anspruch, den ganzen Menschen in allen Bereichen seines Lebens erfassen zu wollen, ist aus der Perspektive des westlichen Staatsverständnisses als Angriff auf die Freiheit des Individuums strikt abzulehnen; dem Bürger eines Staates sollen vielmehr nur soweit Vorschriften gemacht werden, wie dies für das Zusammenleben erforderlich ist. Der unterschiedlichen Reichweite der Gesetze entspricht ihre jeweilige Begründung: Während der Islam die Gesetze auf Gott zurückführt, wird ihr Ursprung im westlichen Staatsverständnis in den Individuen gesehen. Danach wird der Staat gerade nicht auf eine Transzendenz zurückgeführt, sondern auf die freie Übereinkunft der Individuen, die sich von ihrem Kosten-Nutzen-Kalkül leiten lassen. Die Idee des Gesellschaftsvertrags, die somit für das westliche Politikverständnis grundlegend ist, weist aber eine entscheidende formale Parallele zum Islam auf: Auch der Vertrag beruht wesentlich auf einer Freund-Feind-Unterscheidung; wie die Scharia erhebt er Anspruch auf universelle Geltung und ist damit seiner Natur nach expansionistisch.

    Den Ausgangspunkt aller Vertragstheorien bildet der Naturzustand, in dem keine staatliche Macht existiert, welche die Gewalttätigkeit der Individuen zähmt. Diesem Zustand versuchen sie durch vertragliche Übereinkunft über die Gründung einer bürgerlichen Gesellschaft zu entrinnen. Hobbes schildert anschaulich, wie im Naturzustand jeder den anderen als Gefährdung der eigenen Existenz ansieht und deshalb ein allgemeines Misstrauen herrscht: "Und wegen dieses gegenseitigen Misstrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden." Da jeder auf diese Weise präventiv Krieg führt, herrscht im Naturzustand der "Krieg eines jeden gegen jeden" (ebd., S. 96). Mit dem Gesellschaftsvertrag wird der Krieg beendet - bei Hobbes dadurch, dass jeder auf sein "Recht auf alles", das er im Naturzustand besitzt, verzichtet, und dieses Recht dem Souverän überträgt. Doch das Recht, das erst mit dem Vertrag geschaffen wird, gilt nur innerhalb des durch den Vertrag gegründeten Staates und gegenüber auswärtigen Vertragspartnern. Allen fremden Staaten und Individuen gegenüber, mit denen man nicht in einem Vertragsverhältnis steht, besteht der Naturzustand - und damit der Kriegszustand - fort: "Wird aber einem Unschuldigen, der kein Untertan ist, irgendein Übel zugefügt, so ist dies kein Bruch des natürlichen Gesetzes, wenn es dem Staate nützt und ohne Verletzung des früheren Vertrages geschieht. Denn alle Menschen, die keine Untertanen sind, sind entweder Feinde, oder sie haben aufgrund früherer Verträge aufgehört, es zu sein. Aber gegen Feinde, die nach Urteil des Staates in der Lage sind, ihm zu schaden, darf nach dem ursprünglichen natürlichen Gesetz rechtmäßig Krieg geführt werden" (ebd., S. 242).

    Ähnlich argumentiert Kant. Der Zweck des bürgerlichen Vertrags liegt für ihn zwar nicht in der Herbeiführung eines konkreten Nutzens (bei Hobbes: die Sicherung des Überlebens), sondern in der Durchsetzung des Rechts als solchem, denn das Recht ist "das oberste Prinzip . . . , von welchem alle Maximen, die ein gemeines Wesen betreffen, ausgehen müssen, und das durch kein anderes eingeschränkt wird" . Doch die Grundstruktur ist die gleiche wie bei Hobbes: Am Anfang steht der Naturzustand, gekennzeichnet durch eine "allseitige Gewalttätigkeit und daraus entspringende Not"; diese Not bewegt ein Volk dazu, "sich dem Zwange, den ihm die Vernunft selbst als ein Mittel vorschreibt, nämlich dem öffentlichen Gesetze zu unterwerfen und in eine staatsbürgerliche Verfassung zu treten" . Doch der Frieden, der durch den Vertrag geschaffen wird, gilt nur für diejenigen, die der Aufforderung zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes nachkommen. Wer sich dieser Aufforderung verweigert, den kann man weiterhin "als einen Feind behandeln" . Nach außen hin bleibt der Kriegszustand also bestehen, mehr noch: Der ganze Staat ist darauf angelegt, den Rechtszustand gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Kant betont, dass der Rechtszustand nicht als ein Mittel zur Förderung der Wohlfahrt des Volkes missverstanden werden darf, sondern dass umgekehrt "die Wohlhabenheit der Bürger" dazu dient, "den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks zu sichern" . Das Ziel jedoch ist es, alle Feindschaft zu überwinden und "in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten" oder einen "rechtliche(n) Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht" zu schaffen. Wenngleich also die verschiedenen Vertragstheorien sich auf die Analyse der Gestaltung der Binnenverhältnisse zwischen den Bürgern eines Gemeinwesens konzentrieren, wird kein Zweifel daran gelassen, dass nach außen hin der Kriegszustand solange fortbesteht, bis es einen globalen Weltvertrag gibt.

    Die Theorie des Gesellschaftsvertrags beruht somit - ähnlich wie der Islam - auf einer Zwei-Reiche-Lehre: Nach innen hin stiftet der Vertrag Freundschaft zwischen den Bürgern und damit Frieden; alle, die außerhalb des Vertrags stehen, bleiben aber weiterhin Feinde und bilden das "Reich des Krieges". Wie dem Islam geht es der Vertragstheorie um die Begründung des Friedens, und in gleicher Weise beruht diese Begründung auf einer Freund-Feind-Unterscheidung: Freund ist, wer sich den Gesetzen unterwirft - Feind, wer sich dagegenstellt. Mehr noch: Auch der Gesellschaftsvertrag erhebt seiner Natur nach Anspruch auf universelle Gültigkeit und ist somit expansionistisch. Denn das Reich des Krieges bleibt, solange es existiert, eine Bedrohung des Vertragsgebietes. Die Überlegung, die die Vertragspartner dazu bewogen hat, den Vertrag einzugehen (nämlich: der Bedrohung ein Ende zu setzen), muss sie in gleicher Weise dazu bewegen, die noch verbliebenen Feinde in den Vertrag zu integrieren - notfalls unter Anwendung der Gewalt, zu der der Kriegszustand legitimiert.

    Doch das Ziel der Ausweitung des Vertrags ergibt sich nicht allein aus einem Kalkül, sondern auch aus dem universellen Geltungsanspruch, mit dem das Menschenbild vertreten wird, das der Vertragstheorie zugrunde liegt. Alle Vertragstheorien beruhen auf dem Grundsatz, den der Sophist Protagoras in die Worte fasste: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dies bildet den Kern der Vertragstheorie: Alle Handlungsnormen und alle gemeinschaftlichen Institutionen werden aus den Ansichten und Bedürfnissen der Individuen heraus begründet; die politische Gemeinschaft wird auf die Präferenzen der Individuen als den letzten unhintergehbaren Maßstab zurückgeführt. Der Vertrag soll die Individuen in der Verwirklichung ihrer Präferenzen fördern und sie deshalb nur soweit einschränken, wie dies notwendig ist, damit die anderen Individuen ihre Präferenzen verwirklichen können: "Ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, . . . nicht Abbruch tut."

    Dieses Zitat verdeutlicht die beiden zentralen Werte, auf denen der Vertrag beruht: die Freiheit und die Gleichheit; Letztere kommt in der gleichen Zuweisung von Rechten an die Bürger zum Ausdruck. Diese Werte können nicht ihrerseits Gegenstand von Verhandlung und Übereinkunft sein, da sie doch das Prinzip der Übereinkunft, den Vertrag, allererst begründen sollen. Vielmehr werden der Individualismus - und damit Freiheit und Gleichheit - als evident und selbstverständlich angesehen; sie werden mit dem Anspruch auf universelle Geltung vertreten und entsprechend offensiv in die Welt getragen.

    Der Gesellschaftsvertrag bietet folglich nicht eine Form des Zusammenlebens an, neben der noch andere bestehen können, die auf einer anderen Begründung beruhen, sondern die Form menschlichen Zusammenlebens: Vertrag oder Krieg - tertium non datur! Toleranz kann es immer nur zwischen den Vertragspartnern geben, weil sie den Vertrag (und damit die Gegenseitigkeit) bereits voraussetzt. Die Konsequenz besteht darin, dass nicht nur zum Zweck der Selbstverteidigung versucht wird, das Vertragsgebiet auszuweiten, sondern auch aus der Überzeugung heraus, das bessere Verständnis von Staat und Gerechtigkeit in der Welt zu verbreiten. In diesem Sinne kommt z. B. die für Entwicklungshilfe zuständige Bundesministerin zu dem Schluss, dass "die Menschenrechte überall notfalls auch militärisch durchzusetzen" sind.

    IV. Die Freund-Feind-Unterscheidung als Grundlage ideologischen Denkens

    Die formale Parallele zwischen dem Islam und der Theorie des Gesellschaftsvertrags hinsichtlich der Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung hat erhebliche Konsequenzen sowohl für den politischen Alltag als auch für das grundsätzliche Verständnis von Politik. Für den politischen Alltag erwachsen aus ihr erhebliche Schwierigkeiten im innenpolitischen Umgang westlicher Länder mit muslimischen Einwanderern und im außenpolitischen Umgang mit islamischen Ländern. Die Begründung der Gesetze von Gott her ist aus vertragstheoretischer Sicht ebenso inakzeptabel, wie es deren Begründung vom Subjekt her für den Islam ist. Während Länder, in denen die Scharia geltendes Recht ist, aus westlicher Sicht gegen fundamentale Menschenrechte verstoßen, ist das westliche Rechtsverständnis aus islamischer Sicht von Gottlosigkeit und Dekadenz geprägt. In Ermangelung der Möglichkeit, dem anderen sein Rechtsverständnis aufzuzwingen, kann es innerhalb der jeweiligen Sichtweise nur zu einer (vorübergehenden) Duldung des Gegners kommen; Frieden und gegenseitige Akzeptanz würden eine Toleranz erfordern, für deren Begründung ein übergeordneter Standpunkt als tertium comparationis erforderlich wäre.

    Noch gravierender sind die Konsequenzen für das grundsätzliche Politikverständnis, die sich aus der Tatsache ergeben, dass der Freund-Feind-Unterscheidung auch in den Ideologien eine zentrale Bedeutung zukommt und dass die menschenverachtende Haltung der Ideologien sich gerade aus der Freund-Feind-Unterscheidung heraus entwickelt. Das entscheidende Merkmal der Ideologien des Kommunismus, des Nationalsozialismus und des Islamismus ist es, dass sie die Bekämpfung des Feindes zur eigentlichen Aufgabe der Politik erklären. Alle Probleme werden auf die Existenz des Feindes zurückgeführt, und die gesamte Geschichte wird als ein Existenzkampf gedeutet.

    In der vertragstheoretischen Geschichtsdeutung verläuft die Weltgeschichte linear: Ausgehend vom Naturzustand kommt es zum Vertragschluss zwischen einzelnen Individuen zugunsten des Staates, der aber selbst nicht Vertragspartner ist, und durch Ausweitung des Vertrags am Ende idealerweise zum Weltvertrag, zum "ewigen Frieden" (Kant). Demgegenüber gehen die Geschichtsmodelle der Ideologien von einem positiven Anfangsstadium aus, das erst durch das Auftreten eines Feindes aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Der Feind bewirkt nicht nur eine existenzielle Bedrohung derer, die das Gute verkörpern, sondern bedroht auch zugleich die Existenz der Menschheit: Als Verkörperung des Prinzips des Bösen kann er nur auf Kosten des Guten bestehen und ist somit von Natur aus parasitär. Wenn er sein Werk vollenden und das Gute vernichten würde, müsste er hernach selbst zugrunde gehen. "Die Guten" befinden sich demgegenüber in einer Notwehrsituation: Ihr Überleben erfordert die totale Vernichtung des Feindes, und diese Vernichtung ist moralisch legitim, weil der Feind ohnehin nicht eigenständig überleben kann. Erst nach dessen Vernichtung stellt sich der ursprüngliche gute Zustand wieder her - wobei die Menschen sich dann aber aufgrund der Geschichtserfahrung des Wertes dieses Zustandes in höherem Maße bewusst sind.

    Dieses Geschichtsmodell liegt gleichermaßen dem Marxismus, dem Nationalsozialismus und dem Islamismus zugrunde:

    - Bei Marx kommt es im Urkommunismus aus nicht näher erklärten Gründen zur Entstehung des Privateigentums, das die Differenz zwischen Besitzenden, die nicht arbeiten (Kapitalisten), und Arbeitern, die nichts besitzen (Proletarier), schafft. Die Dynamik des Ausbeutungskampfes zwischen diesen Klassen bestimmt die Weltgeschichte; erst die Abschaffung des Privateigentums und die Vernichtung der Kapitalisten im "rohen Kommunismus" ermöglicht das Erreichen des vollendeten Kommunismus.

    - Nach Hitler herrschte ursprünglich ein natürlicher Auslesekampf zwischen den Rassen, der die Grundlage für die Schöpfung von Kultur bildete. Erst mit den Juden tritt eine Rasse auf, die mit einer Mischung aus Feigheit und Raffiniertheit das Prinzip des offenen Kampfes unterläuft; sie profitiert von den kulturellen Leistungen anderer Rassen, zersetzt aber zugleich deren Kampfkraft und zerstört damit die Grundlage dieser Leistungen. Erst die Vernichtung des Judentums erlaubt die Rettung der Menschheit und die Durchsetzung der von der Natur gewollten Ordnung.

    - Im Islamismus war der ursprüngliche gute Zustand die Offenbarung der göttlichen Gebote durch die Propheten: Allah hat das Gesetz allen Menschen zu ihrem Wohl gegeben und den Gläubigen den Auftrag erteilt, für die Umsetzung seiner Gebote in der Welt Sorge zu tragen. An der Erfüllung dieses Auftrags werden sie gehindert, seit Juden und Amerikaner im Bündnis den Islam zu vernichten drohen. Ihre Waffe ist ihr ökonomisches Denken, zu dem sie im Zuge der Globalisierung die gesamte Welt verführen wollen: Die Zuwendung zu den irdischen Gütern und das damit verbundene Kosten-Nutzen-Kalkül zersetzen die Unbedingtheit des Gottesglaubens und zerstören damit die Grundlage für die Herrschaft der göttlichen Gesetze. Der Weltverschwörung gegen den Islam kann nur mit der Vernichtung der Feinde begegnet werden; diese Vernichtung ist ein Gebot Gottes, und der mit dem Ziel der Vernichtung geführte Kampf wird von ihm im Jenseits reichlich belohnt.

    Inwiefern bildet nun die Freund-Feind-Unterscheidung der Vertragstheorie die Grundlage für diese ideologischen Welt- und Geschichtsdeutungen? Allen drei Ideologien ist gemeinsam, dass sie die Freund-Feind-Unterscheidung gegen die Idee wenden, dass der Vertrag eine politische Gemeinschaft begründen könne. Aus ihrer Sicht sind die Feinde nicht mehr diejenigen, die außerhalb des Vertrags stehen, sondern solche, die den Vertrag schließen bzw. ihn als Begründung der politischen Gemeinschaft anführen:

    - Aus kommunistischer Sicht wird im vertragstheoretisch begründeten Staat eine bloß formale Freiheit geschützt. Da nur die Herrschenden über die Mittel verfügen, um diese Freiheit zu nutzen, ist diese in Wahrheit nichts anderes als die Freiheit der Kapitalisten zur Ausbeutung der Arbeiter. Die Vertragstheorie und die aus ihr abgeleiteten Menschenrechte erweisen sich aus dieser Perspektive als Propaganda zur Legitimation bürgerlicher Herrschaft.

    - Aus nationalsozialistischer Sicht ist die Vertragstheorie eine Erfindung des Judentums, das mit Hilfe der (mit dem Vertrag untrennbar verknüpften) Idee der Gleichheit die natürlichen Hierarchieunterschiede zwischen den Rassen aufheben will. Die Gleichheit des Vertrags ist nur die Vorstufe zur vollständigen Gleichmacherei des Kommunismus. Dieses Ideal der Gleichheit richtet sich gegen das Gesetz der Natur, das den Kampf und damit die Ungleichheit von Siegern und Besiegten fordert. - Während im Kommunismus somit der Vertrag das Werkzeug der Herrschenden zur Verhinderung der wahren (materialen) Gleichheit darstellt, ist er im Nationalsozialismus umgekehrt das Werkzeug der Schwachen zur Verhinderung der von der Natur gewollten Ungleichheit.

    - Auch der Islamismus wendet sich gegen das Vertragsdenken: Der Vertrag ist für ihn der Inbegriff eines pervertierten Gemeinschaftsverständnisses, das die Gemeinschaft aus der Nutzenmaximierung der Individuen statt von Gott her begründet. Die damit verbundene Überzeugung, dass das Individuum sich selbst genügt, ist Ausdruck des Unglaubens schlechthin. Der Vertrag stellt sich aus dieser Sicht als Bündnis der Ungläubigen gegen den wahren Glauben dar; der Jude als Inbegriff des Berechnenden und der Amerikaner als Inbegriff des dekadenten Kapitalisten sind die Protagonisten dieses zu bekämpfenden Bündnisses.

    Das Gemeinsame, das die drei Ideologien im Vertrag bekämpfen, ist der Egoismus: Der Grundgedanke der Vertragstheorie ist es, Gemeinschaft aus einem Kosten-Nutzen-Kalkül heraus zu erklären. Bleibt die von der Theorie versprochene Wirkung aus, wird dies von den Ideologien genutzt, um die Freund-Feind-Unterscheidung gegen den Vertrag zu wenden: Der Vertrag wird dann als raffinierte Erfindung zur Unterdrückung und Vernichtung "der Guten" - seien es die Proletarier, die "Arier" oder die rechtgläubigen Muslime - entlarvt. Der Vertrag stiftet nicht Frieden unter denen, die bis dahin Feinde waren, sondern wird zur entscheidenden Waffe der Feinde in ihrem Kampf gegen "die Guten". Diese Weltsicht beruht zwar vollständig auf der Projektion der eigenen Vorurteile auf die Welt statt auf der Wahrnehmung der Wirklichkeit, doch immerhin liefert die Vertragstheorie mit ihrer Freund-Feind-Unterscheidung eine wichtige Grundlage für diese Projektion, indem sie den Ideologien die Kategorien an die Hand gibt, die diese gegen den vertragstheoretisch begründeten Staat richten können.

    V. Ergebnis

    Alle drei eingangs angeführten Deutungen des Verhältnisses von islamistischem Terrorismus, Islam und westlichem Politikverständnis erweisen sich somit als unbefriedigend. Es ist zwar richtig, dass eine entscheidende Grenze zwischen dem Islamismus und dem Islam verläuft: Der Islamismus ist ideologisch, insofern er die gesamte Wirklichkeit auf den einen Punkt der Bekämpfung des Feindes - das Bündnis von Amerika und Israel - reduziert. Doch der Islam ist alles andere als das friedliche Gegenstück zum Islamismus: Der Koran liefert an zahlreichen Stellen die Aufforderung zum Dschihad, und vor allem ist mit der Zwei-Reiche-Lehre die Freund-Feind-Unterscheidung konstituierender Bestandteil des islamischen Glaubens. Hieraus lässt sich aber wiederum nicht auf einen Gegensatz zum westlichen Denken schließen: Die Vertragstheorie, der für das westliche Politikverständnis eine entscheidende Bedeutung zukommt, wird wie der Islam mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit vertreten; auch sie zielt im Ergebnis auf Weltherrschaft durch Überwindung der Feinde des Vertrags. Der Unterschied in der Begründung der Gesetze, die den Frieden garantieren sollen, darf also nicht die formale Gemeinsamkeit vergessen lassen: die Freund-Feind-Unterscheidung in Verbindung mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit des eigenen Denkens. Nicht nur der Islam, sondern auch das westliche Vertragsdenken beruht auf dieser Unterscheidung, die zugleich den Anknüpfungspunkt für das ideologische Denken bildet. Dies erklärt die Ähnlichkeit der Rhetorik von George W. Bush mit der von Bin Laden; doch Arundhati Roy übersieht in ihrem Eifer den wichtigen Unterschied: dass Bin Laden - anders als Bush! - die ideologische Variante der Freund-Feind-Unterscheidung vertritt und die Bekämpfung des Feindes nicht als eine Aufgabe der Politik ansieht, sondern als die Aufgabe schlechthin.

    Im Kern lassen sich die verschiedenen Konfliktlinien also auf das Freund-Feind-Denken zurückführen, das die tiefere Gemeinsamkeit des westlichen, islamischen und islamistischen Politikverständnisses darstellt; und diese Gemeinsamkeit ist gefährlich, weil sie nicht nur auf Seiten der Ideologien die Tendenz fördert, die Schuld für die Konflikte beim jeweils Anderen und die Lösung der Konflikte im Kampf gegen den Anderen zu sehen. Auch jenseits des ideologischen Denkens besteht die Gefahr, dass westliche und islamische Länder sich wechselseitig als Bedrohung des eigenen Staatsverständnisses und damit als Feinde wahrnehmen.

    Aber ist ein Politikverständnis jenseits des Freund-Feind-Denkens überhaupt möglich? Zieht nicht jedes politische Denken zugleich eine Grenze zwischen dem Freund, der diesem Denken zustimmt, und dem Feind, der es ablehnt? Nach Carl Schmitt ist dies gerade der Inbegriff von Politik: durch die Abgrenzung vom Feind die Homogenität der Gemeinschaft zu schaffen. Doch es ist sicher kein Zufall, dass gerade Schmitt in so starkem Maße vom ideologischen Denken angezogen wurde. Eine Überwindung dieses Verständnisses von Politik müsste an der Wurzel der Freund-Feind-Unterscheidung ansetzen: nämlich deren Prinzip, politisches Denken in letzter Konsequenz auf ein nicht weiter begründbares Dogma zurückzuführen. Dieser Dogmatismus ist es, der nur noch die Unterscheidung zwischen Befürworter und Gegner, Freund und Feind erlaubt. Streben nach rationaler Begründung und Einsicht erlauben hingegen die Überwindung der Differenz zwischen Bekenntnis und Ablehnung. Nur ein politisches Denken, das bis zum letzten Punkt nach Erkenntnis strebt, wäre somit in der Lage, das Verharren in den Freund-Feind-Schablonen - mit allen ihren Konsequenzen - zu verhindern. Der Islamismus ist das Gegenstück zu einem solchen Denken: Der durch ihn gerechtfertigte Terror ist gerade Ausdruck der Verweigerung jeder Auseinandersetzung mit den eigenen Dogmen. Diese Verweigerung der Reflexion offenbart die eigentliche Feigheit der Islamisten. Hierauf nur mit dem "kleinen Dschihad" gegen den Terror reagieren hieße, nur den halben Kampf zu führen. Der eigentliche Kampf, zu dem die Ideologien herausfordern, ist der "große Dschihad": das Ringen um die Überwindung des eigenen Dogmatismus.

    Fussnoten

    Fußnoten

    1. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien 1996.

    2. Vgl. ebd., S. 334-350.

    3. Vgl. Arundhati Roy, Wut ist der Schlüssel. Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 28. 9. 2001.

    4. Eine Darstellung des Dschihad im klassischen Islam findet sich z. B. bei: Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999, S. 51-85; Anton Schall, Gott, Welt und Mensch im Koran, in: Jürgen Schwarz (Hrsg.), Der politische Islam. Intentionen und Wirkungen, Paderborn u. a. 1993, S. 71-85; Peter Antes, Ethik und Politik im Islam, Stuttgart u. a. 1982, S. 38 f.

    5. Zu dieser Unterscheidung: Khalid Duran, Überall Pflicht. Der Kleine und der Große Dschihad, in: FAZ vom 10. 10. 2001; Heinz Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart, München 2000, S. 87 f.; B. Tibi (Anm. 4), S. 73; P. Antes (Anm. 4), S. 78 f.

    6. Zu den Ausnahmen vgl. Muhammad Saïd Al-Ashmawy, L‘islamisme contre l‘islam, Paris-Kairo 1989, S. 89 f.

    7. Sure 47, Vers 4. Der Koran wird in der Übersetzung von Max Henning, Stuttgart 1960, zitiert. Es gibt für den Koran keine einheitliche Verszählung, so dass es zwischen verschiedenen Ausgaben zu Abweichungen kommt. - An folgenden Stellen im Koran wird ebenfalls zum heiligen Krieg aufgerufen (Auswahl): 2 , 186-188, 212-214, 247; 3 , 148-152, 160-164; 4 , 76, 79, 91, 103; 8 , 40, 61-70; 9 , 1-15, 24-29, 38-41, 112.

    8. Vgl. M. S. Al-Ashmawy (Anm. 6), S. 91 f.; B. Tibi (Anm. 4), S. 74 f.

    9. Bin Laden missachtet diesen Grundsatz, wenn er die Auffassung vertritt, dass bei Attentaten der Tod von Muslimen in Kauf genommen werden muss, sofern nur so das Ziel der Vernichtung Amerikas erreicht werden kann ("Interview with Bin Laden - ,World‘s Most Wanted Terrorist`Ö", 1999, www.abcnews.com).

    10. Die Tatsache, dass die Scharia sich auf mehrere Quellen stützt, die sich zum Teil widersprechen, erklärt die - zum Teil erheblichen - Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsschulen. Vgl. z. B. Konrad Dilger, Das Rechtsverständnis im Islam und seine politische Dimension, in: J.'Schwarz (Anm. 4), S. 55-70.

    11. Vgl. B. Tibi (Anm. 4), S. 80.

    12. Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam. Eine Einführung, Stuttgart 1997, S. 54.

    13. Ludwig Hagemann, Artikel "Islam", in: Adel Theodor Khoury/Ludwig Hagemann/Peter Heine, Islam-Lexikon. Geschichte, Ideen, Gestalten, Freiburg i. Br. 1999, Bd. 2, S. 402.

    14. Zu dieser Zweiteilung der Welt im Islam vgl. u. a. B. Tibi (Anm. 4), S. 76-82.

    15. Vgl. Koran 9, 1-4; B. Tibi (Anm. 4), S. 81.

    16. In Deutschland wird eine solche reformierte Sicht des Islam unter anderem vom "Zentralrat der Muslime in Deutschland" unter dem Vorsitz von Nadeem Elyas vertreten; vgl. auch B. Tibi (Anm. 4); M. S. Al-Ashmawy (Anm. 6).

    17. So kennzeichnet A. T. Khoury den Anspruch der Scharia, vgl. Artikel "Gesetz", in: A. T. Khoury/L. Hagemann/P. Heine (Anm. 13), Bd. 2, S. 296.

    18. Thomas Hobbes, Leviathan, Übersetzung von W. Euchner, Frankfurt/M. 1984, S. 95 (Kapitel 13).

    19. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 4: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, S. 154/A 252.

    20. Und im Übrigen auch wie bei John Locke, dessen "Second Treatise on Government" im angelsächsischen Bereich, insbesondere in den Vereinigten Staaten, von allen Vertragstheorien den größten Einfluss gewonnen hat.

    21. I. Kant (Anm. 19), S. 169/A 278, Hervorhebung im Original.

    22. Ders., Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf, in: ders. (Anm. 19), S. 203/BA 18.

    23. Ders., Gemeinspruch (Anm. 19), S. 155/A 253, Hervorhebungen im Original.

    24. Ebd., S. 169 f./A 279, Hervorhebungen im Original.

    25. Ebd., S. 145/A 235 f.

    26. Der Freiheit jedes Gliedes der Gemeinschaft als Mensch und der Gleichheit als Untertan fügt Kant als drittes Prinzip a priori des bürgerlichen Zustands die Selbständigkeit als Bürger hinzu (ebd., S. 145-153/A 235-249).

    27. Heidemarie Wieczorek-Zeul auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg im November 2001 (zit. nach dem Artikel "Rortys Parteitag", in: FAZ vom 21. 11. 2001).

    28. Zum Verständnis des ideologischen Bewusstseins und zur vergleichenden Interpretation von Marxismus und Nationalsozialismus siehe Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 2000, S. 275-284.

    29. Zu Marx‘ Geschichtsverständnis siehe vor allem die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von 1844, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 40, Berlin 1985, S. 465-588 (zum Geschichtsprozess insbesondere S. 510-546). Zur Interpretation siehe den Aufsatz des Verfassers: Karl Marx, Humanist oder Vordenker des GULag?, in: Volker Gerhardt u. a. (Hrsg.), Politisches Denken - Jahrbuch 2002, Stuttgart-Weimar 2002.

    30. Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, München 1942², insbesondere Kapitel 11: "Volk und Rasse". Zur Interpretation siehe B. Zehnpfennig (Anm. 28), S. 127-152.

    31. Einen Überblick über die Positionen verschiedener islamischer und islamistischer Gruppen mit zahlreichen Quellentexten gibt Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen - Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994. Im Internet sind zwei Interviews mit Osama Bin Laden verfügbar: To Terror‘s Source - John Miller‘s 1998 Interview With Osama Bin Laden, und: Interview with Bin Laden - "World‘s Most Wanted Terrorist", 1999, beide unter: www.abcnews.com. - Zum ideologischen Charakter des Islamismus vgl. Barbara Zehnpfennig, Ein Hass, der keine Skrupel kennt. Der radikale Islamismus hat der westlichen Lebensweise bedingungslos den Krieg erklärt, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. 11. 2001.

    32. Es muss allerdings zu denken geben, dass der Kampf gegen das materialistische und ökonomistische Denken auf der Grundlage eines "Geschäfts" mit Gott (so wörtlich im Koran: 9, 112) geführt wird.

    33. Vgl. hierzu z. B. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1958, S. 361-370.

    34. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963.

    Dr. rer. pol., Dipl.-Vwl., geb. 1966; Politikwissenschaftler an der Universität Passau.

    Anschrift: Institut für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau, Innstr. 25, 94032 Passau.
    E-Mail: Hendrik.Hansen@uni-passau.de

    Veröffentlichungen u. a.: Die wettbewerbspolitische Beurteilung horizontaler Forschungs- und Entwicklungskooperationen, Berlin 1999; Karl Marx: Humanist oder Vordenker des GULag?, in: K. Graf Ballestrem u. a. (Hrsg.), Politisches Denken - Jahrbuch 2002, Stuttgart-Weimar 2002.