I. Einleitung
Die schärfere Konturierung der von der Europäischen Union angestrebten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) rückt zunehmend in den Mittelpunkt der europapolitischen Debatte. Was in der vergangenen Dekade noch eher als ein "nice to have"-Anhang zu den Prämissen einer EU-Vertiefung und -Erweiterung sowie der Herstellung einer funktionierenden monetären Integration verhandelt wurde, scheint nun allmählich in das Stadium der konzeptionellen und operativen Präzisierung überzugehen. Mit der GASP will sich die EU als ein internationaler Akteur profilieren, der mit einer Stimme zu reden und entschlossen zu handeln in der Lage ist.
Der Weg dorthin ist angesichts der noch ungeklärten Frage des Verhältnisses zwischen nationalstaatlicher Souveränität und institutionalisierter Supranationalität innerhalb der Union sowie nicht zu übersehender divergierender Interessenlagen wichtiger EU-Mitgliedsstaaten zwar sehr schwierig. Doch niemand stellt in Frage, dass dessen ungeachtet die Europäische Union gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Grundsatzpositionen und Strategien entwickeln muss, um ihre überregionalen Ziele
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet deshalb aber mehr als die politische Flankierung des Strebens nach guten Handelsbeziehungen oder nach dialogorientierten "strategischen Partnerschaften" mit Nicht-EU-Staaten und den außereuropäischen Regionen. Sie impliziert eine proaktive europäische Politik auf der weltpolitischen Bühne, z. B. bei der Vermittlung in internationalen Konflikten, bei der klaren Positionierung in weltpolitisch wichtigen Fragen (wie etwa bei der Auseinandersetzung mit dem extremistischen Islamismus und seinen Schutzmächten) sowie bei der Einforderung und Anwendung des zur Verfügung stehenden völkerrechtlichen Instrumentariums (Resolutionen und Sanktionen) zum Schutz der Menschenrechte, auf deren universalen Geltungsanspruch sich der europäische Gedanke wesentlich gründet. Dazu gehört aber auch der Aufbau eigener Kriseninterventionskräfte, mit denen man die als notwendig erkannten Maßnahmen zur Sicherung des Friedens und der eigenen Sicherheit durchführen kann. Klar ist, dass die Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Vermittlung einzelstaatlicher Interessendivergenzen mit dem Ziel eines homogenen kollektiven Handelns zum grössten Nutzen aller Mitgliedsstaaten voraussetzt. Der Erfolg einer solchen Politik hängt deshalb maßgeblich vom Integrationsniveau der EU ab. Allerdings besteht ein Wechselverhältnis zwischen (wirtschaftlicher, politischer, kultureller) Integration hier und GASP dort: Im günstigen Fall verstärken sich beide gegenseitig.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, in welchem Maße die Chinapolitik der Europäischen Union als Element einer wirkungsvollen
II. Die theoretische Blaupause: Das Konzept der "umfassenden Partnerschaft mit China" von 1998 und seine jüngsten Adjustierungen
Das bisher umfassendste Strategiepapier zur europäischen Chinapolitik wurde im März 1998 von der EU-Kommission unter dem Titel "Für eine umfassende Partnerschaft mit China" veröffentlicht.
1. stärkere Einbindung Chinas in die internationale Gemeinschaft;
2. Förderung der Transformation Chinas in eine offene und auf Rechtsstaatlichkeit gegründete Gesellschaft;
3. stärkere Integrierung Chinas in die Weltwirtschaft;
4. Verstärkung des finanziellen Engagements Europas in China;
5. Verbesserung der Sichtbarkeit der Europäischen Union in China.
In Teil A wird der politische Dialog mit der VR China konkretisiert. Dabei wird u. a. die Einrichtung eines jährlich stattfindenden Gipfeltreffens der EU-Regierungschefs und der chinesischen Regierung vorgeschlagen. Der sino-europäische Dialog innerhalb des ASEM-Prozesses (Asia-Europe Meeting; ein 1996 eingerichtetes Dialogforum der Europäischen Union und der ASEAN+3 [Japan, China, Südkorea] - Staatengruppe) soll aufgewertet, wichtige globale Fragen - wie die Reform der Vereinten Nationen, nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle, illegale Immigration, Drogenhandel und Geldwäsche sowie Menschenrechte und Umweltschutz - sollen gemeinsam diskutiert werden. Auch gibt die EU zu Protokoll, in ihrem Streben nach einer größeren Rolle bei der Behandlung regionaler Sicherheitsprobleme in Asien stärker mit China im Rahmen des ASEAN Regional Forum zusammenarbeiten zu wollen. Gemeinsam mit China will sie nach Lösungen für den Koreakonflikt suchen sowie existierende Spannungen zwischen den Staaten Südostasiens ausräumen helfen. Explizit begrüßt die EU jeden Schritt auf dem Weg zu einer friedlichen Lösung der Taiwanfrage. Letztlich unterstreicht sie in diesem Teil, ein wachsames Auge auf die Garantie der Autonomie und der Freiheiten Hongkongs zu haben sowie die Einführung des universalen Wahlrechts in der neuen Sonderverwaltungsregion zu unterstützen.
Das Ziel einer offenen und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft soll vor allem auf dem Weg eines offen geführten Dialogs sowie durch eine darauf aufbauende systematische Projektkooperation erreicht werden. Das Papier verweist in Teil B dabei zunächst auf den nach einer kurzen Unterbrechung im November 1997 wieder aufgenommenen Menschenrechtsdialog zwischen der EU und China und konstatiert eine neue Bereitschaft der chinesischen Führung, diesen engagiert und ernsthaft führen zu wollen. Der Dialog habe es der EU nicht nur ermöglicht, die Zustimmung Chinas für eine Reihe von Projekten zur Stärkung der Herrschaft des Rechts sowie zur Förderung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bevölkerung zu erlangen; seit seiner Aufnahme habe es zudem ermutigende Zeichen für eine zunehmende Hinwendung der VR China zu den Normen des VN-Menschenrechtsregimes gegeben - vor allem durch die Unterschrift Beijings unter den VN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dem Menschenrechtsdialog müsse es darum gehen, China zur vollumfänglichen Ratifizierung der maßgeblichen VN-Pakte und Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu veranlassen sowie mehr Projekte zum Zwecke seiner praktischen Umsetzung zu fördern. Programmatisch heißt es dazu in dem Strategiepapier: "Die EU ist von der Überlegenheit des Dialogs - vor geeigneten Foren - über die Konfrontation überzeugt. Die EU und China sollten deshalb freimütig, offen und im gegenseitigen Respekt über ihre Differenzen reden."
Der umfangreichste Teil C definiert verschiedene Maßnahmen, mit denen die Weltmarktintegration Chinas vorangetrieben werden soll. Hier stehen vor allem Eckpunkte und Projekte zur Beschleunigung eines chinesischen WTO-Beitritts auf der Agenda, der auch im Zentrum der außenwirtschaftlichen Interessen der EU gegenüber China steht. In diesem Kontext strebt die EU eine wirksame Unterstützung der chinesischen Regierung bei der weiteren Transformierung ihres Wirtschafts- und Sozialsystems an. Schließlich soll das EU-Engagement in China weiter vertieft und das öffentliche Bewusstsein in der VR China für dieses Engagement durch gezielte Einzelmaßnahmen geschärft werden.
Seit seiner Verabschiedung ist das Konzept der "umfassenden Partnerschaft" um zwei weitere Stellungnahmen der EU-Kommission ergänzt worden, deren erste vor allem als reiner Evaluierungsbericht fungiert,
Explizit verlangt die EU hier u. a. eine Reduzierung der Anwendung der Todesstrafe, eine Reform der außergerichtlichen Administrativhaft sowie die Herstellung der Gedanken-, Wissenschafts-, Religions-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Außerdem besteht sie auf einer vollumfänglichen Anwendung des von der VR China bereits ratifizierten VN-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Bekanntlich macht die chinesische Regierung hier einen Vorbehalt gegen das Recht der freien Gewerkschaftsgründung geltend.
Vor dem Hintergrund der konzeptionellen Entwicklung der europäischen Chinapolitik seit 1995, als die EU das erste Mal ein diesbezügliches Strategiepapier veröffentlichte,
Die offizielle Darstellung des Konzeptes einer "umfassenden Partnerschaft mit China" sowie die Bewertung der daran angeschlossenen Projekte zeichnen insgesamt das Bild kooperativer und erfolgreicher Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der VR China. Die Frage ist trotzdem, ob die EU ihren politischen Handlungsspielraum gegenüber China damit wirklich ausfüllt.
III. EU-interne Probleme bei der Umsetzung einer kohärenten Chinapolitik
Das Schicksal einer kohärenten Chinapolitik (ebenso wie das einer wirkungsvollen GASP) wird sich am kollektiven Handlungswillen der beteiligten Akteure einerseits sowie an einer selbstbewussten Betonung und Einforderung der normativen Prinzipien der Europäischen Union bei der Ausgestaltung ihrer Beziehungen zur VR China andererseits entscheiden. Diese normativen Prinzipien gründen vor allem auf der Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte und von der Humanität demokratisch und rechtsstaatlich verfasster Gesellschaften. Sie nicht im Geiste einer Zivilisierungsmission in die Welt zu tragen, sondern mit den Mitteln des Völkerrechts und des streitbaren Argumentierens offensiv zu vertreten, gehört ebenfalls zu den Pfeilern europäischer Identität. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ohne den Willen aller Mitgliedsstaaten, die materiellen und normativen Ziele der Union gleichzeitig und gemeinsam zu verfolgen, wird es nicht geben können. Vor allem an der EU-Menschenrechtspolitik gegenüber China wird aber deutlich, dass es erstens kein echtes Gleichgewicht zwischen den materiellen und normativen Zielen dieser Politik gibt und dass zweitens die wichtigsten Mitgliedsstaaten an einem innereuropäischen Konsens über ein solches Gleichgewicht bisher nicht wirklich interessiert sind. Es überwiegt das ökonomisch motivierte Konkurrenzdenken.
1. Menschenrechte
Unter dem Eindruck der Geschehnisse auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989 hatte die EU in den frühen neunziger Jahren einen neuen Kurs in ihrer Menschenrechtspolitik gegenüber der VR China eingeschlagen und von der "stillen Diplomatie" der Vergangenheit Abstand genommen.
Die EU setzte zu diesem Zeitpunkt also auf Kooperation, ohne auf öffentliche Kritik verzichten zu wollen und betrachtete diese Doppelstrategie als Erfolg versprechenden Weg für die Erreichung der eigenen Ziele im Umgang mit der chinesischen Regierung. Dabei wies sie dem internationalen Recht und den von ihm geschaffenen Institutionen eine übergeordnete Bedeutung für den weltweiten Schutz der Menschenrechte zu. Diese Haltung dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die VR China spätestens seit Mitte der neunziger Jahre engere Beziehungen zur EU anstrebte und ihr sogar einen Menschenrechtsdialog anbot, der erstmals im Januar 1995 stattfand. Denn hier drohte aus der Sicht Beijings die Formierung einer politischen Kraft, die durch ihre enge Bindung an die USA die Gefahr einer politischen Stigmatisierung und Marginalisierung der VR China auf der internationalen Bühne zu vergrößern drohte.
Obwohl Beijing die Europäische Union 1995 noch nicht von ihrer Zustimmung zu einer Verurteilung der VR China in Genf abbringen konnte und daraufhin den gerade begonnenen Menschenrechtsdialog mit Brüssel wieder beendete, begann sich das Blatt schon bald zu wenden. Ein Jahr später nämlich drängte Frankreich plötzlich massiv auf die Verschiebung eines EU-Resolutionsbeschlusses gegen China, um den Abschluss lukrativer Airbus-Geschäfte im Rahmen eines Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng in Paris nicht zu gefährden. 1997 war Frankreich dann definitiv nicht mehr dazu bereit, der Aufforderung des Europäischen Parlaments zur Verabschiedung einer chinakritischen Resolution zu folgen. Wieder ging es u. a. um Aufträge für das Airbus-Konsortium, diesmal anlässlich eines Besuchs des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in Beijing. Dieser Entscheidung Frankreichs schlossen sich Spanien, Italien, Griechenland und auch Deutschland an. Als sich eine andere Staatengruppe unter der Führung Dänemarks und der Niederlande trotzdem auf das Einbringen einer Resolution in Genf einigte, zeigte sich die Spaltung der Europäischen Union in dieser Frage in aller Deutlichkeit. Für die VR China war es anschließend ein Leichtes, durch diplomatischen, vor allem aber wirtschaftlichen Druck die politisch weniger schwergewichtigen "Abweichler" innerhalb der Union zur Räson zu bringen.
Seit 1997 kommt die EU den Aufforderungen des Europäischen Parlaments zur Verabschiedung eines gegen die VR China gerichteten Resolutionsentwurfes nicht mehr nach.
2. Außenwirtschaftliche Konkurrenz
Zweifellos ist die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union gegenüber der VR China eine Resultante aus den konkurrierenden handelspolitischen Interessen der EU-Mitgliedsstaaten.
Eine besondere Note erhält die außenwirtschaftliche Konkurrenz der EU-Mitgliedsstaaten durch ihre unterschiedliche Positionierung in der Frage der Waffenexportpolitik. So besteht seit 1989 - als letztes Relikt der damaligen EU-Sanktionsmaßnahmen gegen die chinesische Regierung wegen der Geschehnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens - ein Waffenembargo gegenüber der VR China, dessen Bestimmungen 1994 noch einmal bestätigt und präzisiert wurden. Ungeachtet einiger Lieferungen von so genannter dual use-Technologie hat die Europäische Union dieses Embargo bisher aufrechterhalten. Es steht jedoch schon seit geraumer Zeit unter dem Druck jener EU-Länder, die eine starke Waffenindustrie und eine dementsprechend einflussreiche Rüstungslobby besitzen (v. a. Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien). Auch die VR China drängt auf Aufhebung des Embargos. Dass es bisher noch nicht gefallen ist, hat eher mit politischem Kalkül als mit Prinzipientreue zu tun: In diesem Fall gerieten die Europäische Union und die Einzelnen nationalen Regierungen ins Kreuzfeuer ihrer chinakritischen Öffentlichkeiten, weil man ihnen die Aufrüstung einer angeblich expansionistisch ambitionierten Regierung vorwerfen würde, die zudem die Menschenrechte verletze. Vor allem die nördlichen EU-Mitgliedsstaaten, die selbst über keine nennenswerte Rüstungsindustrie verfügen, verweigern sich deshalb einer Aufhebung des Waffenembargos und bekräftigen damit die Spaltung der Europäischen Union in der Chinapolitik.
Vor diesem Hintergrund haben es in den letzten Jahren vor allem Deutschland, Frankreich und Großbritannien erfolgreich verstanden, ihre bilateralen Beziehungen mit der VR China zu vertiefen. Gleichzeitig gelang es der VR China unter Ausnutzung der besagten außenwirtschaftlichen Konkurrenz der EU-Mitgliedsstaaten, unbequeme Themen wie die der Menschenrechte auf die europäische "Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners" zu verlagern und damit spürbar zu entschärfen.
Tatsächlich strebt jeder EU-Mitgliedsstaat nach einer solchen "strategischen Partnerschaft", auch wenn bisher nur Frankreich Wert darauf gelegt hat, eine entsprechende Übereinkunft mit der chinesischen Seite schriftlich niederzulegen.
IV. Elemente einer aktiven Chinapolitik
Politik ist die Kunst des Möglichen - mit dieser Binsenweisheit verwerfen viele Politiker und Experten jede prinzipielle Kritik an der derzeitigen Chinapolitik der EU. Demnach sei es nicht möglich, beim gegenwärtigen Stand der politischen Integration der Europäischen Union und der Dialogbereitschaft der chinesischen Regierung mehr chinapolitische Kohärenz zu erreichen als auf dem eingeschlagenen Weg des Aufbaus einer dialog- und praxisorientierten "umfassenden Partnerschaft". Allerdings muss sich die Effizienz dieses Konzepts, wie bereits mehrfach betont, sowohl an der Realisierung der grundlegenden materiellen und normativen Ziele der im EU-Vertrag ausdefinierten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik messen lassen,
Dies vorausgesetzt, bleibt die Frage, wie sich eine kohärente und proaktive Chinapolitik von der bisherigen Praxis unterscheiden sollte. Mit Blick auf die Menschenrechtsproblematik ist erstens eine Rückkehr zu der zumindest in den frühen neunziger Jahren gezeigten Bereitschaft erforderlich, Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte in der VR China den Verfahren und Sanktionsmechanismen des relevanten internationalen Rechts zu unterwerfen. Europäische Chinapolitik darf sich nicht in "stiller Diplomatie" bzw. "kritischen Dialogen" hinter verschlossenen Türen und in praktischer Zusammenarbeit erschöpfen, sondern muss - unter strikter Berufung auf geltendes Völkerrecht - auch für die europäische Definition von der Universalität der Menschenrechte gegenüber China (und natürlich gegenüber allen anderen Staaten) entschlossen eintreten.
Die These, solche Resolutionen seien nutzlos, weil sie niemals zur Abstimmung in der VN-Kommission gelangen können und ohne direkten Einfluss auf die Menschenrechtspraxis vor Ort bleiben, ist unbewiesen. Angesichts der hohen Sensibilität der chinesischen Regierung für diese Form der öffentlichen Anklage und ihrer Mitte der neunziger Jahre unter dem Eindruck der internationalen respektive europäischen Kritik vollzogenen Wende zu einer aktiveren Menschenrechtspolitik ist eher das Gegenteil richtig. Noch problematischer ist der Vorwurf, Resolutionen an die VN-Menschenrechtskommission stellten lediglich einen Akt symbolischer Politik dar, der in erster Linie für das Publikum zu Hause gedacht sei. Dieser Vorwurf verrät ungeachtet mancher Berechtigung ein weit gehendes Unverständnis bezüglich der normativen Autorität des Völkerrechts, der sich auch die VR China nicht entziehen kann. Die Ratifizierung der beiden VN-Menschenrechtspakte von 1966 in den Jahren 1997/98 durch die chinesische Regierung belegen das hinreichend. Zu solchen Schritten sieht sich die VR China nicht gezwungen, weil sie sich etwa den besseren Argumenten der europäischen Staaten in "kritischen Dialogen" hinter verschlossenen Türen beugt. Sie tut dies vielmehr, weil sie ein anerkanntes Mitglied der Staatengemeinschaft sein und sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, die durch internationales Recht kodifizierten Normen dieser Gemeinschaft zu missachten. Eine solche Kritik entfaltet ihre Wirkung jedoch vor allem durch jene vielgescholtene "symbolische Politik" auf VN-Ebene, von der sich die Europäische Union bewusst entfernt hat.
Ein anderer Vorwurf, der in diesem Zusammenhang von den Kritikern der Kritiker der VR China häufig erhoben wird, verweist auf die allgemeine moralische Doppelbödigkeit des Menschenrechtsarguments: Nie würden alle Staaten in gleicher Weise zur Verantwortung gezogen, immer unterliege die Einforderung der Menschenrechte strategischen Sekundärinteressen und werde im Zweifelsfall diesen untergeordnet. Aus völkerrechtlicher Perspektive verfehlt aber auch dieses Argument sein Ziel. Dass der Menschenrechtsgedanke immer wieder politischen Opportunitätsüberlegungen zum Opfer fällt, ist ja gerade ein Grund für seine Fortentwicklung und Institutionalisierung im internationalen Recht, an dem alle Staaten mitwirken und das alle Staaten bindet. Wichtig ist natürlich, dass der Zugriff auf das internationale Recht konsistent erfolgt und nicht selbst wieder opportunistisch ausfällt. Wenn also die Staaten der Europäischen Union mit zweierlei Maß messen, weil sie China von der Kritik ausnehmen, während sie andere Staaten damit nicht verschonen, so ist dies energisch zu kritisieren, darf aber keinesfalls die Position jener stärken, die nur noch in der "stillen Diplomatie" - gewissermaßen die institutionalisierte Unterbietung des internationalen Rechts - eine erfolgreiche Strategie zum Schutz der Menschenrechte sehen.
Zweitens - und mit dem vorher Gesagten eng verbunden - muss eine proaktive Chinapolitik der Europäischen Union darauf achten, Politik und Wirtschaft streng zu trennen.
Von einer solchen Geschlossenheit der Europäischen Union wird es zudem abhängen, ob man das im Konzept der "umfassenden Partnerschaft mit China" sich selbst gesetzte Ziel einer stärkeren sino-europäischen Zusammenarbeit bei der Lösung sicherheitspolitischer Probleme in Asien erreichen kann. Nur wenn die chinesische Führung erkennt, dass sie es mit einem starken Gegenüber zu tun hat, das notfalls auch gegen die Interessen Beijings zu handeln bereit und fähig ist, wird sie die EU überhaupt als einen relevanten Gesprächspartner ernst nehmen. Umgekehrt dürfte der Einfluss der EU auf die VR China mit zunehmender Geschlossenheit spürbar steigen. Da die EU - anders als die Vereinigten Staaten - keine geostrategischen Interessen in Asien hat, würde eine starke Europäische Union dort wahrscheinlich mehr (friedens)politische Glaubwürdigkeit besitzen als jeder andere Akteur. Dies könnte die EU z. B. für eine aktive Rolle bei der Lösung der Taiwanfrage oder bei der Befriedung der Territorialkonflikte in der Region des Südchinesischen Meers nutzen.
Insgesamt gilt, dass die wichtigste Voraussetzung für eine proaktive Chinapolitik und eine (dadurch geförderte) wirkungsvolle GASP der weiteren politischen Integration der Union bedürfen. Diese Integration ist jedoch ohne die erklärte und insbesondere praktizierte Einsicht ihrer Mitgliedsstaaten, dass dazu ein solidarisches, kollektives Handeln erforderlich ist, nicht zu haben. So gesehen denkt man in Berlin, Paris, London oder Rom noch längst nicht "europäisch" genug.