"Schurkenstaaten" und die "Achse des Bösen"
"Krieg gegen die Taliban - kein Krieg gegen die Muslime", so lautete die gängige westliche Rhetorik. Nur war sie bei den Bevölkerungsmehrheiten in der arabisch-islamischen Welt nicht glaubwürdig. Seit der Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation vom 29. Januar 2002 hören sie: "Our case is just, and it continues . . . Our war against terror is just beginning." Nord-Korea, Iran und Irak "constitute an axis of evil . . . I will not wait on events, while dangers gather. I will not stand by, as peril draws closer and closer."
Die Weltwahrnehmung der Bevölkerungen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ist eine andere. Die dortigen Reaktionen könnten dramatisch werden, wenn es zu einer Ausweitung der militärischen Aktionen auf weitere islamische "Schurkenstaaten" kommen sollte - Syrien, Sudan, Irak, Somalia? Die arabischen Partner der Anti-Terror-Koalition und die Türkei haben deutliche Zurückhaltung signalisiert, denn sie haben den wachsenden Zorn der Straße zu fürchten. Für die innenpolitische Stabilität in den arabischen Ländern verheißt dies nichts Gutes. Die Europäische Union könnte sich bald mit neuen Krisenherden an ihrer Mittelmeer-Südflanke konfrontiert sehen.
Unsere arabischen Nachbarn bieten ein verwirrendes Spektrum von anhaltender ökonomischer Unterentwicklung und sozialer Verelendung. Insbesondere in den Slumgürteln der urbanen Ballungsräume wachsen die politischen Spannungen. Oppositionelle Bewegungen bedienen sich dabei fundamentalistischer Parolen - je unreflektierter, desto massenwirksamer: "Der Islam ist die Lösung", lautet der Kampfruf aus den Moscheen. "Gute Musliminnen sein, wird uns von unseren Problemen befreien", hört man von Studentinnen an den Universitäten.
Unbefriedigende Reformansätze
Auslöser ist die desolate wirtschaftliche Situation und der Mangel an Lebensperspektiven. Sie sind Folge der verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitiken der vergangenen Jahrzehnte. Dies gilt für die früheren staatssozialistischen Ansätze (z. B. in Algerien, Ägypten, Syrien) ebenso wie für die Feudalregime (z. B. Marokko, Jordanien), für Erdöl- wie für Nicht-Erdöl-Staaten. Vielfach kam es zu einer fatalen Gemengelage planwirtschaftlicher und marktwirtschaftlicher Elemente ohne den angemessenen Einsatz der jeweils dazugehörigen Steuerungsinstrumente: Planwirtschaft ohne effektive zentrale Kontrolle, Marktwirtschaft ohne den dafür erforderlichen institutionellen Rahmen wie Rechtssicherheit, eine unabhängige Justiz und eine weisungsungebundene Zentralbank.
Auch die neueren Reformversuche in Richtung auf "marktfreundlichere" Politiken seit den achtziger Jahren, üblicherweise im Geberkonzert unter Federführung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, blieben ausnahmslos hinter den Erwartungen zurück. Denn nirgendwo bildeten sich durchsetzungsfähige Reformkoalitionen. Die bisherigen Machteliten - von der politischen Führung über die Beamtenapparate, die Staatsbetriebe bis zu den staatlich kontrollierten Gewerkschaften und der Armee als vorhersehbare Reformverlierer
Die Folge ist, dass die arabische Welt mit Ausnahme einiger Erdölemirate im internationalen Entwicklungswettlauf mit den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas zurückgeblieben ist und weiter zurückfällt. Nur Subsahara-Afrika weist noch unbefriedigendere Ergebnisse auf. So liegt das Pro-Kopf-Einkommen für Singapur über 24 700 US-Dollar, für Südkorea bei 8 910 US-Dollar, für Malaysia bei 3 380 US-Dollar, für Thailand bei 2 010 US-Dollar. Für Ägypten, das industriell am weitesten entwickelte arabische Land, aber beträgt es nur 1 490 US-Dollar, für Marokko 1 180 US-Dollar, für Syrien 990 US-Dollar, für den Sudan unter 300 US-Dollar und für Burundi 110 US-Dollar. Für die drei größten lateinamerikanischen Länder Argentinien, Brasilien und Chile lauten die Werte 7 440, 3 570 bzw. 4 600 US-Dollar
Den Herausforderungen der Globalisierung stehen die arabischen Länder unvorbereitet gegenüber. Zentrale Verteilungskonflikte um Land, Wasser und Energieressourcen sind in der Region ungelöst. Keine Entwicklungsregion erlebte so viele militärische Konfrontationen: neben dem palästinensisch-israelischen Dauerkonflikt den Irak-Iran-Krieg, den zweiten Golfkrieg gegen den Irak, die Kämpfe um Spanisch-Sahara, die Bürgerkriege im Jemen, im Libanon und in Algerien. Im Durchschnitt werden jährlich rd. 15 Prozent der Bruttosozialprodukte für Militärausgaben verwandt.
Dabei wird das wichtigste Produktivitätspotenzial beharrlich vernachlässigt: das Humankapital und seine Innovationsfähigkeit. Forschung, Entwicklung und technologische Innovation verlangen nicht nur Geld, sondern vor allem auch Entfaltungsspielräume. Das bedeutet Freiheit des kritischen Denkens und politisch-gesellschaftliche Spielräume für Kreativität. Eben diese werden aber von den autoritär-paternalistischen Herrschaftssystemen verweigert. Die Bildungssysteme sind quantitativ aufgebläht, aber qualitativ desolat. Vorherrschender Lernstil ist immer noch das mechanische Auswendiglernen.
Ein wesentliches Entwicklungshemmnis ist die Analphabetenrate: 52 Prozent in Marokko, 45 Prozent in Ägypten, 33 Prozent in Algerien, 30 Prozent in Tunesien, 26 Prozent in Syrien. Demgegenüber liegt Korea bei zwei Prozent, die Philippinen und Thailand bei je fünf, Malaysia bei 13 Prozent.
Soziale Frustrationen und Islamischer Fundamentalismus
Trotz des Rückgangs der Geburtenraten werden sich die Bevölkerungen im südlichen Mittelmeerraum in den nächsten dreieinhalb Jahrzehnten nochmals verdoppeln. Wachsende soziale Spannungen sind damit vorprogrammiert. In Algerien, Ägypten, Syrien und Jordanien stellen die Jugendlichen 60-80 Prozent der Arbeitslosen. Frustationen über fehlende Lebensperspektiven entladen sich immer wieder gewalttätig. Nach dem entwicklungspolitischen Scheitern der Großideologien des Arabischen Nationalismus, des Panarabismus und des Arabischen Sozialismus
Während der letzten zwei Jahrhunderte war diese vom westlichen Kolonialismus untergraben worden, dies hatte bohrende Selbstzweifel ausgelöst. Verwirklichte doch der Westen zivilisatorisch, was der Orient hätte verwirklichen müssen, getreu der koranischen Offenbarung, die den Muslimen die triumphierende Stellung in der Welt verheißen hatte.
In der internationalen Konkurrenzsituation vor allem auch mit den Schwellenländern anderer Weltregionen ringt man in der muslimischen Welt um eine tragfähige Interpretation von Koran und Sunna, der überlieferten Lebenspraxis des Propheten Mohammed als Staatslenker in Medina, die als Vorbild und Richtschnur rechten Handelns gilt. Dies soll auch "islamischen" Volkswirtschaften
Weitere Herausforderungen ergeben sich aus den ökologischen Veränderungen und dem zunehmenden Wassermangel, die ebenfalls einen wachsenden Migrationsdruck ausüben: von den Sahelländern auf Nordafrika, und von dort weiterwirkend auf Europa.
Herausforderungen an die Europäische Gemeinschaft
Die EU ist auf die voraussehbaren Krisenszenarios in Bezug auf Handel, Energieversorgung, Migrationsströme, Drogenexport und Terrorismus wenig vorbereitet. Wichtig wäre eine weitsichtige Krisenprävention über eine breitgefächerte wirtschaftliche, soziale, technisch-wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit. Dabei ginge es um die Einbeziehung insbesondere auch vieler nichtstaatlicher Gruppen auf beiden Seiten des Mittelmeers. Ziel müsste es sein, tiefgreifende und langfristig angelegte Veränderungen zur Auflösung elementarer Entwicklungsblockaden auf den Weg zu bringen. Entsprechende Ansätze in der arabischen Welt sollten ermutigt und gegen den internen repressiven Druck der herrschenden Regime abgestützt werden. Vorrangig wäre die Förderung eines zivilgesellschaftlich-demokratischen Umfeldes, welches Freiheit des Denkens und der Person zulässt, Innovationen und Kreativität fördert und sie nicht als Bedrohung bisheriger etablierter Machtpositionen wahrnimmt und blockiert.
Die strategische Chance einer euro-arabischen Partnerschaftsuniversität
Eine zentrale Rolle käme der Stützung eines leistungsfähigen, qualitativ hochwertigen, kritischem und innovativem Denken gegenüber offenen Bildungswesens im primären, sekundären und tertiären Bereich
Solche Angebote wären zu verknüpfen mit euro-arabischen Dialogforen, die es ermöglichen, unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftstraditionen zu diskutieren. Das jährliche Finanzvolumen wäre durchaus übersehbar. Es entspräche etwa den Kosten der technischen Sanierung und Modernisierung von drei Düngemittelfabriken, wie wir sie routinemäßig in der bilateralen deutschen Finanziellen Zusammenarbeit problemlos durchführen. Die Entwicklungsimpulse einer euro-arabischen Partnerschaftsuniversität im Sinne der Beeinflussung, Ermutigung und Abstützung der arabischen geistigen Eliten wären hingegen unvergleichlich tiefgreifender und nachhaltiger.
In diesem Rahmen könnte sich auch ein vertrauenvoller Dialog über zahlreiche drängende Herausforderungen entfalten - beginnend bei den unübersehbaren Problemen der ökologischen Veränderungen und ihren Folgewirkungen auf die geographischen Verschiebungen heutiger Siedlungsgebiete und den damit entstehenden internen und grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen.
Der Barcelona-Prozess
Zweieinhalb Monate nach den israelisch-palästinensischen Vereinbarungen von Oslo
Es geht um eine großräumige Vision: die Schaffung einer euro-mediterranen Freihandelszone bis zum Jahr 2010 als einer "Zone des Friedens und der Stabilität" in Anerkennung fundamentaler Prinzipien wie Menschenrechte, Demokratie, Verständigung zwischen den Völkern und Entwicklung einer Zivilgesellschaft.
Europäisch-amerikanische Rivalitäten
Die EU sieht den Barcelona-Prozess als einen komplementären Beitrag zum nahöstlichen Friedensprozess, während die USA und Israel einem stärkeren europäischen Engagement im arabisch-israelischen Konflikt zurückhaltend bzw. explizit ablehnend gegenüberstehen. Dies ist verständlich angesichts der grundlegenden politischen Linie der EU, wie sie schon in der Erklärung des Europäischen Rats vom Juni 1980 in Venedig zum Ausdruck kommt, der unter Bezug auf die Entschließungen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats (Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten) Anerkennung fordert für das "Existenzrecht und das Recht auf Sicherheit aller Staaten der Region einschließlich Israels sowie der Gerechtigkeit für alle Völker, was die Anerkennung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes beinhaltet"
Demgegenüber treten die USA als Schutzmacht Israels auf und werden als eine solche auch im arabischen Bewusstsein wahrgenommen.
Frankreich wiederum betont seine spezifischen Interessen im westlichen Mittelmeer, aus dem es amerikanische Einflüsse herauszuhalten sucht, und pflegt seine historischen Beziehungen zu den Maghreb-Ländern. Spanien - nicht von ungefähr Gastgeber der Konferenzen von Madrid und Barcelona - bemüht sich um eine herausgehobene Vermittlerrolle zwischen Europa und der arabischen Welt, mit der es eine gemeinsame Geschichte von sieben Jahrhunderten verbindet.
Irritationen des Nahost- Friedensprozesses
Es zeigte sich bald, dass der Barcelona-Prozess nicht vom Nahost-Friedensprozess trennbar war. Störungen in ersterem schlugen immer wieder auf die Weiterentwicklung des letzteren durch. So kam es schon Anfang 1997 zum Konflikt über den Austragungsort der zweiten euro-mediterranen Außenministerkonferenz. Syrien verweigerte ein Zusammentreffen mit dem Vertreter Israels auf arabischem Territorium, ungeachtet des intensiven Interesses Marokkos an der Gastgeberrolle. Schließlich einigte man sich auf Malta. Im März 1997 eskalierte das Problem der jüdischen Siedlungen am Rande Ostjerusalems. Die Arabische Liga rief zum Boykott der Beziehungen zu Israel auf. Der Disput beherrschte das Treffen in Malta - in Anwesenheit von Arafat und dem israelischen Außenminister Levy - und blockierte die Einigung über ein Abschlusskommuniqué. Letzteres konnte erst einen Monat später nach einem Ringen um Formulierungen zum Nahost-Friedensprozess, zu Menschenrechten, illegaler Einwanderung und Terrorismus veröffentlicht werden. Der Sprecher der arabisch-mediterranen Gruppe bezeichneten die Lage des Barcelona-Prozesses als "fragil" bis "festgefahren"
Anlässlich eines informellen Ministertreffens in Palermo im Juni 1998 artikulierte die arabisch-mediterrane Gruppe indessen ihr Interesse an der Weiterverfolgung des Barcelona-Prozesses ungeachtet des Stockens des Nahost-Friedensprozesses. Dieser Konsens wurde bestätigt auf der euro-mediterranen Ministerkonferenz von Stuttgart im April 1999 unter Teilnahme einer Delegation Libyens und Mauretaniens (als Gäste der deutschen Präsidentschaft mit Beobachterstatus). Es kam zu einem Austausch von Sichtweisen zur Lage im Nahen Osten und zu Überlegungen hinsichtlich konkreter Fortschritte im Barcelona-Prozess.
Ungeachtet der Fortführung der Verhandlungsroutinen forderte die EU-Kommission - einem allgemeinen Unbehagen am schleppenden Umsetzungsprozess der Barcelona-Deklaration Ausdruck gebend - im September 2000 eine "Wiederbelebung" (reinvigoration).
Nicht von ungefähr lag der Höhepunkt des Friedensprozesses - die 1995er Vereinbarungen von Oslo (d. h. "Oslo II", nach den Verhandlungen in Oslo 1993: "Oslo I") - nur zweieinhalb Monate vor der Barcelona-Konferenz. Kritische Beobachter diagnostizieren für das euro-mediterrane Projekt "process without progress. It is commonplace to state that the Barcelona Process is the only multilateral forum (outside the United Nations) where the parties in conflict in the Middle East meet. Considered in these terms the perpetuation of the process is, itself, an achievement and a contribution to the Middle East peace process."
Umsetzungsprobleme der Barcelona-Erklärung
Die Umsetzung der Barcelona-Deklaration soll im Wesentlichen auf zwei Ebenen erfolgen: Zum einen geht es um den formalen Rahmen bilateraler Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den Partnerländern.
Zum anderen sollen die Partnerländer ihre Handelsschranken untereinander abbauen und über einen erweiterten Süd-Süd-Handel - bislang nur sechs Prozent ihres gesamten Handelsvolumens
Die EU sieht den politischen Dialog und die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen als wesentliche Elemente für den Erfolg der euro-mediteranen Partnerschaft: Menschenrechte, Demokratie, good governance und Rechtsstaatlichkeit - dies angesichts erheblicher Widerstände der regierenden Eliten, die eher einen "Prozess kontrollierter Pluralisierung als einen Wandel zur Demokratie" anstreben.
"Weiche" Sicherheit
Weiterhin umfasst die Barcelona-Agenda gemeinsame Bemühungen um die Bekämpfung von Drogenhandel, organisierter Kriminalität, Terrorismus und illegaler Zuwanderung, also der die EU beunruhigenden Aspekte der "soft security". In der Sicht der EU-Kommission: "The security threats in the MED, as perceived by the EU, are not military ones, neither today nor in the next 10-20 years, notwithstanding speculations about the possible threat of missiles being fired at Europe by ,fanatic regimes' in Northern Africa. The real threats derive from increasing population, inability to employ the growing numbers of young people, illegal immigration, persistent poverty, environmental hazards, water scarcity, food shortages, urban chaos etc. Therefore, the response to the risks has to be primarily of a socio-economic nature. Europe has to ,shake up' the MED societies in such a way that they are better able to face the challenges of the next century. They need, each in its own particular way, to undergo profound system changes."
Es geht also um Reformen auf allen Ebenen im Bereich wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, unternehmerischer Effizienzsteigerung, einer neuen Rolle des Staates und der Administration, eines modernisierten Finanzsektors, eines reformierten Erziehungswesens - und das Ganze im Rahmen grundlegender Freiheitsrechte.
Einen hohen Stellenwert für die EU hat auch der Umweltschutz, der naturgemäß eine regionale Kooperation unumgänglich macht: z. B. Wasserknappheit, Abfallbeseitigung, Küstenschutz, Artenvielfalt und Desertifikation.
Finanzielle Zuwendungen und personelle Engpässe
Im Gegenzug für Reformbemühungen bietet die EU Anreize in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen, die für den Zeitraum 1995-1999 4,4 Mrd. Euro betrugen. Hinzu kamen Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Höhe von 4,8 Mrd. Euro. Für den Zeitraum 2000-2006 wurden 5,35 Mrd. Euro an Zuschüssen zur Verfügung gestellt,
Die Mittel werden nicht nach Länderquoten verteilt, sondern entsprechend dem Reformfortschritt der einzelnen Länder, die damit in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Von Fall zu Fall werden die Mittel mit Stabilitäts- und Strukturanpassungshilfen anderer Geber wie der Weltbank, des IMF oder des Arab Fund verbunden und in den Politikdialog zu vordringlich erscheinenden Reformschritten eingebracht. Bei zwölf Partnerländern stehen pro Land durchschnittlich weniger als 100 Mio. Euro pro Jahr an Zuschüssen zur Verfügung - offenbar kein entscheidender finanzieller Anreiz für Reformmaßnahmen, zumal wenn sie einer Partnerregierung innenpolitisch als prekär erscheinen.
Hinzu kommt die notorisch knappe Personalkapazität der EU-Kommission im entwicklungspolitischen Feld, was eine differenzierte Projekt- und Programmidentifizierung, Implementierung und Evaluierung, wie sie etwa in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit ihren Tausenden von Mitarbeitern in einem komplexen Institutionengefüge möglich und üblich sind, kaum zulässt. Entsprechend unbefriedigend sind oft die Zielgenauigkeit und die Umsetzung der EU-Programme.
Vorläufige Ergebnisse
Die Reformfortschritte waren bislang begrenzt. Die Partnerländer sind weit davon entfernt, internationale Wettbewerbsfähigkeit erreicht zu haben und der künftigen EU-Konkurrenz im Zuge der stufenweisen Handelsliberalisierung innerhalb der euro-mediterranen Freihandelszone standhalten zu können. Noch zähflüssiger gestaltet sich der Übergang zu zivilgesellschaftlichen Strukturen, ungeachtet des anstehenden oder bereits erfolgten Generationenwechsels der politischen Führungseliten im arabischen Raum.
Wegen der schwachen Stellung des Europäischen Parlaments fehlt zudem ein umfassendes politisches Mandat für ein deutlicheres Eintreten für Demokratie, Menschenrechte und die Entwicklungsorientierung staatlichen Handeln. Solche Initiativen verursachen üblicherweise diplomatische Kosten, die man eher zu vermeiden sucht. Auch bindet der anhaltende israelisch-palästinensische Konflikt die knappe Ressource "politische Aufmerksamkeit". Doch wären entwicklungspolitische Fortschritte billiger und langfristig wirksamer als die Perspektive eventuell erforderlich werdender flächendeckender humanitärer Katastrophenhilfen und Dauersubventionen für weiter wachsende Bevölkerungen - ganz zu schweigen von Abwehrmaßnahmen gegen Drogenhandel, Migrationsströme und Terrorismus.
Langfristig nicht zu unterschätzen ist die positive Wirkung etablierter Routinen. In zahlreichen euro-mediterranen Arbeitsgruppen, Konferenzen, Worksshops etc. treffen Beamte, Geschäftsleute, Wissenschaftler und Journalisten mit ihren arabischen Kollegen zusammen und erörtern technische Fragen wie Fischereiprobleme, Denkmalschutz, Umweltfragen, Kommunikationstechnologien, Probleme von Film und Fernsehen u. a. Entsprechend wachsen Netzwerke zwischen Industrie- und Handelskammern, wissenschaftlichen Instituten, Medien, Stadtverwaltungen etc.
Kritische Perspektiven
Die geographischen Gegebenheiten lassen die Option einer sich abschließenden "Festung Europa" nicht zu. Die bisherigen Ergebnisse können nicht voll befriedigen. Denkbar wäre ein ganzer Fächer von erweiterten Kooperationsszenarios, einer deutlichen Verstärkung der Bildungsförderung einschließlich der oben skizzierten Euro-Arabischen Partnerschaftsuniversität über Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen in diversen landwirtschaftlichen und industriellen Sektoren, Umwelt- und Ressourcenschutz (insbesondere angesichts der Ausbreitung der Wüsten) bis hin zu einem umfassenden, finanziell wesentlich besser ausgestatteten "Marshall-Plan", der auch versuchen könnte, auf den Nahost-Friedensprozess einzuwirken und einen wirtschaftlichen Überlebensschirm für Konfliktparteien anzubieten, die zu Recht oder zu Unrecht befürchten, zu marginalisierten ökonomischen Verlierern einer Friedensregelung zu werden.
Im Kern geht es um die Ermutigung und Stützung wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Such-, Lern- und Innovationsprozesse. Für die Unternehmen bedarf es der Förderung einer Innovationskultur mit Ausrichtung auf internationale Wettbewerbsfähigkeit, neue Technologien und Produkte. Trotz eines in manchen Ländern wie Tunesien, Ägypten und Jordanien existierenden beachtlichen technologischen und unternehmerischen Potenzials gelingt es angesichts der repressiven politischen Rahmenbedingungen nicht, dieses zu technologiegeleiteten gesamtwirtschaftlichen Wachstumsstrategien zu bündeln, wie es die ost- und südostasiatischen Schwellenländer beispielhaft vorgeführt haben.
Die EU scheut die diplomatischen, partiell auch die finanziellen Kosten einer entschlosseneren Eingriffstiefe im Sinne einer Geber-Konditionalität. Bei Weiterverfolgung der bisherigen, relativ zurückhaltenden EU-Linie ist zu erwarten, dass die Produktionsstrukturen in den arabischen Ländern auch in der laufenden Dekade nicht die Schwelle globaler Wettbewerbsfähigkeit erreichen.
Im Falle einer eher unwahrscheinlichen EU-Agrarmarktliberalisierung eröffnen sich den arabischen Ländern zwar einerseits Exportchancen im Bereich klassischer Südfrüchte (Wein, Oliven, Zitrusfrüchte) sowie von Obst und Gemüse, Fisch und Baumwolle auf Kosten bisheriger südeuropäischer Anbieter. Doch würden die Araber infolge der bis 2010 vorgesehenen Handelsliberalisierung ihrerseits unter Wettbewerbsdruck seitens der effizienter produzierenden nordeuropäischen Erzeuger von Getreide, Fleisch, Eiern und Milchprodukten geraten.
Insgesamt ist deshalb mit einer erheblichen Freisetzung von Arbeitskräften in den arabischen Mittelmeerländern zu rechnen, wenn in der geplanten Euro-Mediterranen Freihandelszone auch deren Handelsbarrieren gegen EU-Industrieprodukte fallen werden. Selbst für relativ fortgeschrittene Länder wie Tunesien und Marokko rechnet man mit einer Freisetzung von bis zu 50 Prozent der Beschäftigten in der internationalen nicht wettbewerbsfähigen Klein- und Mittelindustrie.
Die zögernde Wahrnehmung zukünftiger Krisenpotenziale seitens der EU begünstigt Strategien eines "Business as usual", d. h. der Fortführung bislang EU-intern konsensfähiger Kooperationsroutinen seitens der Brüsseler Kommission - dies durchaus nahe liegend angesichts der langwierigen Entscheidungsprozesse und der divergierenden Interessen der EU-Mitgliedsländer. Allenfalls neigt man zu einer Option eines "Mehr vom Bisherigen". Solche Routinen minimieren zwar EU-interne Konflikte, laufen aber Gefahr, mittelfristig zu Begleitern in ökonomische und politische Krisenszenarios zu werden.
Die vorhandenen wie die bevorstehenden Risiken legen es nahe, die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, dass die Wohlstandsvision der Barcelona-Deklaration nicht voll realisierbar ist.
Produktiver wäre eine dezidiertere Umsetzung des in den EU-Assoziationsabkommen vereinbarten politischen Dialogs. Dabei ginge es vor allem um die Öffnung der Regime für innovative Prozesse nicht nur auf der Ebene der Leistungssteigerung der Unternehmen, sondern auch der Schaffung der dafür erforderlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat dazu erkärt: "Die Dimension der anstehenden sozialpolitischen Kosten der ökonomischen Transformation erfordert möglicherweise nicht nur umfangreichere Finanztransfers . . ., sondern vordringlich auch den Versuch einer wirksameren Einflussnahme auf sensitive Fragen politischer Partizipation und der Freisetzung bislang blockierter Kreativitätspotenziale im weitesten Sinne . . . Die Auflösung von Innovationsblockaden muss primär von gesellschaftlichen Prozessen innerhalb der Mittelmeerländer selbst ausgehen; ein vielfältiges Geflecht von Kooperationsbeziehungen in wirtschafts-, sozial-, wissenschafts- und kulturpolitischen Interaktionsfeldern zwischen EU und den Partnerländern auf staatlicher und nichtstaatlicher Ebene kann und sollte solche gesellschaftlichen Transformationsprozesse ermutigen und stützen."
Die jüngsten Entwicklungen des Nahost-Konflikts verdeutlichen die Notwendigkeit einer klareren europäischen strategischen Perspektive angesichts der unabweislichen Anforderungen, die auf die EU zukommen. Eine Weiterentwicklung des Barcelona-Prozesses erscheint nicht vorstellbar ohne eine international koordinierte Deeskalation der israelisch-palästinensischen Dauerkonfrontation. Eine weitere Aufschaukelung des Konflikts gefährdet nicht nur die politische Stabilität einer Reihe arabischer Regierungen, sondern diejenige der gesamten Region. Sporadische, unzureichend vorbereitete Initiativen wie die Reise des Hohen Repräsentanten für die EU-Außen- und -Sicherheitspolitik Javier Solana sowie des derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden und spanischen Außenministers Josep Piqué in den Nahen Osten im April 2002 erwiesen sich als unzureichend, um der Stimme der EU Gehör zu verschaffen. Sie demonstrierten damit zugleich sowohl die Defizite der innereuropäischen Willensbildungsprozesse wie einer angemessenen Umsetzung ihrer Entscheidungen. Wichtige neue Impulse sind künftig wohl eher vom EU-Parlament zu erwarten.
Die der Konferenz der EU-Außenminister vorgelegte "Sieben-Punkte-Ideenskizze" der deutschen Seite zur Lösung des Nahost-Konflikts im Rahmen einer Sicherheitsgarantie von USA, Russland, UN und EU schlägt vor, an das Muster der international koordinierten Balkan-Befriedung anzuknüpfen. Auch hier stellen sich die alten Fragen einer wirksamen Durchsetzung.
Noch umfassendere Herausforderungen könnten auf die EU zukommen, wenn es zu weiteren militärischen Anti-Terrorismus-Engagements gegen islamische Länder kommt, möglicherweise mit der Folge erheblicher politischer Erschütterungen des Nahen Ostens und Nordafrikas. Die Schaffung der euro-mediterranen "Zone des Friedens und der Stabilität" könnte der EU sehr viel weitreichendere Einsätze abverlangen als die bisherigen Bemühungen um die Schaffung einer Freihandelszone.