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Staat und Familien Familien- und Kinderarmut in Deutschland | Familie und Politik | bpb.de

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Staat und Familien Familien- und Kinderarmut in Deutschland

Frank Bertsch

/ 24 Minuten zu lesen

Familien verantworten Lebensentwürfe und Alltagsbewältigung selbstständig, sind jedoch keineswegs autonom. Die benötigten Rahmenbedingungen sind nicht hinreichend gegeben. Es gibt in Deutschland einen breiten unteren Rand von prekären Lebenslagen von Familien.

I. Familien als Träger des Gemeinwesens

Familien haben viele Gesichter. Je nach der Perspektive werden sie sehr unterschiedlich wahrgenommen. In ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen sind sie anders zu beschreiben als aus persönlichen Erfahrungen und Empfindungen.

Familien bilden eine Reihe kleiner leistender Gemeinschaften in "Familiennetzen", die ihre Lebensentwürfe in der Generationenfolge selbst verantworten und ihren Alltag selbst bewältigen. Sie agieren selbstständig, sind jedoch keineswegs autonom. Sie erbringen unter dem Einsatz ihrer humanen und materiellen Ressourcen Leistungen, wobei sie die sie umgebenden privaten und sozialen, marktlichen und kommunalen Infrastrukturen nutzen. Familien erbringen für ihre Kinder Leistungen der Betreuung, Erziehung und Bildung und haben zugleich einen zunehmenden Bedarf an externer Ergänzung und Unterstützung. Sie prägen spezifische Haushalts- und Lebenstile aus und passen diese an veränderte Lebensbedingungen an. Sie entwickeln sich in der Kontinuität lebenslanger Prozesse. In ihren Lebensläufen entstehen Brüche und Neuorientierungen. Ihre Lebensentwürfe sind offener, flexibler und vielfältiger geworden, zugleich aber risikoreicher und weniger stabil.

Piorkowsky umreißt die Funktionen der Familienhaushalte (privaten Haushalte) sehr prägnant. "Private Haushalte, insbesondere Familienhaushalte, sind in mehrfacher Hinsicht die grundlegenden Subsysteme von Wirtschaft und Gesellschaft: Sie sind Anbieter von Produktionsfaktoren und Nachfrager von Konsumgütern sowie Produzenten personaler Pflege- und Versorgungsleistungen für die Haushaltsmitglieder, sie treffen Entscheidungen über die Familienbildung und den Generationenverbund sowie über die Bildung von Human-, Geld- und Sachvermögen, sie sind primäre Sozialisationsinstanzen für die nachwachsende Generation und Stätten der Alltagskultur sowie Elemente basaler politischer Strukturen und Prozesse. Insofern sind Privathaushalte die wirkliche Grundlage von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und entscheidende Träger regionaler wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung."

Auf der einen Seite sind Familien für eine selbstverantwortende Gesellschaft, für eine marktwirtschaftliche Verfassung und für einen demokratischen Staatsaufbau konstitutiv. Auf der anderen Seite erfordern ihre Existenzbedingungen die Ausbildung einer Kultur- und Sozialstaatlichkeit, die Strukturen mit der Emanzipation der Frauen nachhaltiger abstimmt, die Leistungsentfaltung der Familienhaushalte fördert und Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen sichert. Die Erfüllung des freiheitlichen Gesellschaftsvertrags beruht auf einer Balance effizienter gegenseitiger Leistungsbeiträge. Das Niveau der Beiträge ist auf beiden Seiten entwicklungsfähig. Eine Balance ist noch längst nicht erreicht. Verbessert werden muss vor allem das Qualitätsmanagement der Gesellschaftspolitik.

II. Armut von Familien und Kindern

Verarmungsprozesse sind längst nicht mehr auf wenige soziale Schichten begrenzt. Sie sind sozial entgrenzt, jedoch nicht unumkehrbar. Lebensverhältnisse können sich heute im Verlauf eines Lebens mehrfach ändern.

Armut wird heute individualisierter wahrgenommen. Neben der Versorgungslage der Familienhaushalte erfährt die Situation der Familienmitglieder Beachtung. Eltern und Kinder werden in Armutskrisen zunehmend als handelnde Akteure ihrer Lebenswelten erkannt. Diese Sichtweise hat die Ansatzpunkte der Gesellschaftspolitik erweitert. In ihren Mittelpunkt sind Maßnahmen gerückt, die Selbsthilfe ermöglichen und mobilisieren. Armutsprävention hat einen neuen Stellenwert erhalten. Zu dieser gehören Bildung, Beratung und Beteiligung, das Erlernen persönlicher Bewältigungsstrategien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ebenso wie die Reorganisation der Infrastrukturen in kommunalen Lebensräumen. Armutsbekämpfung erfolgt nicht mehr allein über Einkommenstransfers, sondern ebenso über die Wiederherstellung von wirtschaftlicher und sozialer Handlungsfähigkeit. Armutsprävention und Armutsbekämpfung knüpfen an Spielräumen von Lebenslagen an; mit Optionen, die Defizite benennen, Verhaltens-, Lern- und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, Reserven an humanen Fähigkeiten und materiellen Ressourcen mobilisieren und Angebote an externer Hilfe erschließen.

Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse der Familien haben sich in West- wie in Ostdeutschland ausdifferenziert. Die Einkommensverteilung in Ostdeutschland gleicht sich der in Westdeutschland an. Einkommensunterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern betrafen Ende der neunziger Jahre vor allem den oberen und nur geringfügig den unteren Einkommensbereich. Die Familieneinkommen von Ehepaaren mit Kindern unterscheiden sich von denen allein erziehender Eltern sehr deutlich. Alleinerziehende sind häufiger in unteren Einkommensschichten zu finden, Ehepaare mit Kindern dagegen häufiger in höheren Einkommensschichten (auch im Vergleich zu Paaren ohne Kinder). Infolge rigider Arbeitsmärkte, fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten und unzureichender Unterhaltszahlungen geraten viele allein erziehende Frauen trotz stabilisierender öffentlicher Einkommenstransfers in Einkommensarmut und Unterversorgungslagen. Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse eines großen Teils der allein erziehenden Frauen belegen eine soziale Segmentierung. Es gibt ebenso Familiengruppen mit einer hohen Wohlstandsposition wie Familiengruppen in der Grauzone prekärer wirtschaftlicher Lebensverhältnisse oder in unmittelbaren Unterversorgungslagen. Fest steht, dass es einen breiten unteren Rand prekärer und von Armut geprägter Lebenslagen gibt.

Der Bundesregierung, die in ihrem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht Armut über alternative Maße der Einkommensverteilung (ergänzend über die Vermögensverteilung) und über Ungleichheiten der Lebensbedingungen (ungleiche Bildungs- und Erwerbschancen und Formen der sozialen Ausgrenzung) zu identifizieren sucht, gelingt kein schlüssiger Ausweis von Armutszahlen. Ende 1998 erhielten ca. 570 000 Familien mit etwa einer Million Kindern (unter 18 Jahren) laufende Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe). 1999 waren rund 1,2 Millionen Familien mit schätzungsweise 2 Millionen Kindern überschuldet. Außerdem spricht der Elfte Kinder- und Jugendbericht ". . .von etwa 250 000 überschuldeten Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland" . Mangelnde Zahlungsfähigkeit (Überschuldung) und ihre Folgewirkungen bilden ein hartes Indiz für Armut. Gelänge es, auf unterschiedliche Weise identifizierte Armutsgruppen von Überschneidungen zu bereinigen, läge das Niveau der Armutszahlen für Familien und Kinder sehr viel höher. So wachsen in Deutschland zum Beispiel drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche in Familien auf, in denen mindestens ein Elternteil suchtmittel-, insbesondere alkoholabhängig ist. Es wird Zeit, dass sich in Deutschland eine Konvention der Identifizierung und Messung von Armut über Lebenslagen herausbildet (nicht über Maße der Einkommensverteilung), die eine Beurteilung der zahlenmäßigen Entwicklung von Armut ermöglicht. "Leibfried und Leisering bezeichnen Deutschland als eine '70-20-10-Gesellschaft', ein Urteil, das man mit einer gewissen Variation auf nahezu alle Industrienationen anwenden kann: 70 Prozent der Bevölkerung sind nie arm gewesen, 20 Prozent rutschen immer wieder einmal unter die Armutsgrenze, während 10 Prozent praktisch als dauerhaft arm anzusehen sind."

Durch hohe Armutsrisiken gefährdet sind insbesondere folgende Bevölkerungsgruppen: Schulabbrecher und beruflich gering qualifizierte Jugendliche und Erwachsene (häufig aus zugewanderten Familien); Familien mit Langzeitarbeitslosen; Schwangere; allein erziehende Frauen; junge Familien mit kleinen Kindern, Migranten- und kinderreiche Familien.

Armut auslösende Faktoren bilden in erster Linie: Arbeitslosigkeit und niedrige Erwerbseinkommen, Probleme der Haushaltsführung und des Marktverhaltens (Bildungs- und Kompetenzdefizite bei der Haushaltsorganisation sowie auf Konsum- und Kreditmärkten) sowie kritische familiale Lebensereignisse (vor allem Problemlagen infolge einer Schwangerschaft und der Geburt eines Kinder oder infolge Trennung bzw. Scheidung). Auslösende Faktoren bilden auch berufliche Bildungsdefizite, Erkrankung und Unfall sowie Probleme von zugewanderten Familien.

In Verarmungsprozessen entsteht ein enger werdender Handlungsrahmen mit einer Einschränkung von Spielräumen der Lebensverwirklichung, an den sich Familienhaushalte anzupassen haben. Ihnen wird ein diszipliniertes haushälterisches Verhalten abverlangt. Prioritäten müssen neu geordnet werden. Die Zwecke der Einkommensverwendung verändern sich. Auch die Einkommensverteilung auf die Familienmitglieder ändert sich. Unter Restriktionen versuchen Eltern zumeist die Deckung der gewohnten Lebenshaltung ihrer Kinder sicherzustellen. Einkommensarmut zieht häufig eine Destabilisierung anderer Lebenslagenbereiche nach sich, etwa der Gesundheit, der sozialen Integration und der Wohnverhältnisse. Schlechte Wohnlagen grenzen Familien aus und beeinträchtigen die Entwicklung von Kindern.

Kinderarmut betrifft die gesamte Lebenssituation von Kindern. Eine isolierte Betrachtung würde verdecken, dass sich Versorgungslagen einzelner Familienmitglieder über den Gesamthaushalt ausformen. Selbst in wirtschaftlich armen Familien können Versorgungslagen sehr unterschiedlich sein. Bei dieser Differenzierung spielen die Beziehungen innerhalb der Familie und in Familiennetzen sowie die Ausschöpfung von Angeboten der sozialen Infrastruktur eine wesentliche Rolle. Gerade in armen Familien sind Kinder Gegenstand der Sorge und des Schutzes. Es gibt sehr viel mehr Eltern, die sich einschränken, um Kindern das Erforderliche zu geben, als Eltern, die an ihren Kindern "sparen". Kinderarmut steht dann erst am Ende einer von Eltern nicht mehr zu handhabenden Krisenlage. Möglichkeiten und Fähigkeiten der Familien, ihre Kinder ausreichend zu versorgen, nehmen mit der Dauer und Tiefe von Armutslagen ab (Kumulation). Zwar dürfte die Verbleibdauer in Armutslagen heute eher rückläufig sein, im Zeitablauf können sich Armutskrisen jedoch wiederholen. "Eine überraschend große Anzahl von Menschen überwindet die Armut - umgekehrt machen viel mehr Menschen als bislang angenommen irgendwann im Leben die Erfahrung, arm zu sein."

"Insbesondere in Familien mit multiplen Problemlagen, beispielsweise bei Vorliegen von Sucht oder Überschuldung, kann Armut zu schlimmen Mangellagen bei Kindern führen". Dies gilt auch bei innerfamilialer Gewalt. Kinder erleben dann nicht nur ihren eigenen Mangel, sondern auch das Unvermögen ihrer Eltern, Probleme zu bewältigen, was Kinder entmutigt und sie in ihrer Entwicklung zurückwirft.

Kinderarmut beschädigt das Selbstwertgefühl der Kinder, beeinträchtigt die Ausbildung ihrer Fähigkeiten und ihrer persönlichen Autonomie und gefährdet das Niveau ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung. Die Erfahrung von Armutslagen kann aber auch findig machen und zu Überlebensfähigkeit erziehen. Gut funktionierende Eltern-Kind-Beziehungen und geeignete Lebensumgebungen können für Kinder Benachteiligungslagen ein Stück weit ausgleichen.

III. Für ein föderatives Projekt gegen Familien- und Kinderarmut

1. Vorteile einer föderativen Vernetzung

Drei Motive vor allem sind es, die angesichts der Dimension der Armutsfrage eine integrierte Strategie gegen Armut nahe legen: die breite Sicherung der Chancen eigenständiger Lebensbewältigung, die Verteidigung des inneren Friedens der Gesellschaft und die Flankierung fortschreitender Modernisierungsprozesse in der Wirtschaft. Punktuelle Interventionen gegen Armut werden dem Problem nicht gerecht. Erforderlich ist eine über alle staatlichen Ebenen vernetzte Strategie der vorbeugenden und nachgehenden Armutsbewältigung. Ihr Aufbau setzt politischen Gestaltungswillen und eine politische Verständigung der Parteien und der Gebietskörperschaften voraus. Das föderative Projekt bedarf des Gerüstes staatlicher Prozessorenrollen. Es verlangt ein selbstständiges Projektmanagement auf allen staatlichen Ebenen. Nach dem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist es eine Aufgabe der Bundespolitik, den Projektfindungsprozess einzuleiten.

Erfolg wird das föderative Projekt dann haben, wenn freie gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure an der Gestaltung der Maßnahmen partnerschaftlich beteiligt und für eigene Projektbeiträge gewonnen werden. Wenn man beobachtet, mit welchem Engagement gesellschaftliche und kommunale Akteure heute mit knappen Mitteln Armut bekämpfen, dann ist vorhersehbar, dass das föderative Projekt die Arbeit der Träger befruchten und aktivieren wird. Das Projekt wird die Reorganisation der relevanten Trägergruppen beschleunigen. Der föderative Prozess wird eine Erneuerung der Strukturen des Risiko- und Krisenmanagements bewirken.

2. Organisation des föderativen Prozesses

Die Zivilgesellschaft fordert von staatlichen Verwaltungen in zunehmendem Maße Dienstleisterqualitäten. Dazu gehören Fähigkeiten zur Übernahme einer Prozessorenrolle unter gleichbedeutenden pluralen Akteuren bei der Aushandlung und Umsetzung gesellschaftlich relevanter Lösungen. Aufbau und Umsetzung einer Strategie gegen die Familien- und Kinderarmut erfordern von staatlichen Stellen Qualitäten eines unternehmenden Managements. Die Aufgabe besteht darin, auf den verschiedenen staatlichen Ebenen simultane Prozesse vorbeugender und nachgehender Armutsbewältigung zu initiieren, zu koordinieren und zu moderieren. Zur Strategie gehören Joint Ventures unter der Beteiligung staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure.

Im Zentrum steht ein verantwortliches politisches Projektgremium von Bund und Ländern. Diesem zugeordnet werden themenbezogene Arbeitsgremien mit Vertretern des Bundes, der Länder, der Kommunen und der zu beteiligenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen. Maßnahmenbeiträge des Bundes können in einer Projektgruppe abgestimmt werden, in der Ministerien mit gesellschaftspolitischen Zuständigkeiten vertreten sind (Zuständigkeiten z. B. für Kinder und Jugendliche, für Bildung und Arbeit, für Gesundheit und Verbraucher, für Familien, Frauen und Senioren, für Städtebau, Umwelt und Wohnen). Maßnahmenbeiträge der einzelnen Länder können in entsprechenden Länderprojektgruppen vorbereitet werden (in diesen sind auch Zuständigkeiten für Kultur und für lebensräumliche Infrastrukturen vertreten). Es könnte eingewandt werden, dass eine solche Organisation zu aufwendig oder zu schwerfällig sei. Dies müsste aber nicht zutreffen. Der Staatsapparat ist in der Lage, komplexe Arbeitsgremien aus seinem Bestand aufzubauen. Deren Effizienz hängt in erster Linie vom Gestaltungswillen der politischen Führungen ab. Auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltungen können Maßnahmenbeiträge als Ergebnis von Sozialverträglichkeitsprüfungen entstehen.

Erste Schritte erfordern eine Verständigung auf ein gemeinsames Zielkonzept und einen begrenzten Katalog vorrangiger Aufgaben in einem ersten Zeitabschnitt. Operative Effizienz verlangt eine Prioritätensetzung in der Sache (alles andere als eine Addition aller denkbaren Aufgaben). Politische Entscheidungen sollten von sozialwissenschaftlichen Voten unterstützt werden. Maßnahmenkonzepte werden auf der Grundlage des Ziele- und Aufgabenkanons von den Gebietskörperschaften im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeiten und in Zusammenarbeit mit freien gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren konkretisiert. Interaktionen auf den staatlichen Ebenen (zwischen jedem Land und seinen Kommunen sowie zwischen Bund und Ländern) sichern die Qualität, die Auswahl, die finanzielle Förderung und die Ergebnisprüfung der umzusetzenden Maßnahmen. Bund und Länder klären, welche Maßnahmen einer wissenschaftlichen Begleitung bedürfen.

In einem ersten Zeitabschnitt könnte sich das interdisziplinäre Projekt auf Schwerpunkte konzentrieren: etwa auf die Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern, auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, auf die Reaktionsfähigkeit von Einkommenstransfersystemen und Kreditversorgungssystemen auf kritische wirtschaftliche Lebenslagen, auf die wirtschaftliche Bildung und Beratung von Familienhaushalten sowie auf die Reorganisation der Wohnquartiere in sozial benachteiligten Stadtgebieten.

Das föderative Projekt hat zu anderen Handlungsfeldern Verbindungen herzustellen: etwa zum Bündnis für Arbeit und zu der zu erneuernden Arbeitsmarktpolitik, zu Reformbestrebungen im Gefolge der internationalen Pisa-Studie, zu den Kinder-, Jugend- und Familienpolitiken des Bundes und der Länder, zur Städtebau-, Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik.

Die Organisation des föderativen Projekts wird einen Motivations- und Mobilisierungsschub auslösen.

3. Mobilisierung personaler und finanzieller Ressourcen

Die Entfaltung des föderativen Projekts erfordert ebenso die Mobilisierung personalen Engagements wie die Einwerbung privater und öffentlicher Gelder. Die Bereitstellung von Steuermitteln darf nicht die wichtigste Komponente des Projekts sein. Die sozialstaatlichen Prozessoren müssen die Fähigkeit besitzen, die Mitwirkung der Zivilgesellschaft und der Wirtschaftsgesellschaft zu erschließen. Erst dann erreichen sie viele Menschen ihrer Zielgruppen. Davon hängt der Erfolg der Strategie ab.

Selbstverständlich erfordern die Maßnahmen des Projekts auch eine Bereitstellung staatlicher Finanzmittel. Pessimisten werden sagen, dass dies bei der gegebenen hohen Staatsverschuldung und enger werdenden Finanzierungsspielräumen auf der konjunkturellen Talsohle nicht möglich ist. Sie plädieren für ein "Laissez-faire" in einer Situation, in der gerade ein weiterer Armutsschub entsteht. Optimisten werden anführen, dass sich eine Strategie vorbeugender und nachgehender Armutsbewältigung langfristig selbst finanziert, weil sie Kompetenzen wirtschaftlicher Selbstbewältigung wesentlich erhöht und Haushalte aus Unterversorgungslagen befreit, mithin eine Abkoppelung von Teilen der Bevölkerung von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung verhindert.

Die Gebietskörperschaften müssen nicht auf reicher sprudelnde Steuerquellen im kommenden Konjunkturaufschwung warten. Die Startphase des föderativen Projekts lässt sich über eine Umschichtung innerhalb der Haushalte vieler Gebietskörperschaften finanzieren. Außerdem kann das Steueraufkommen mittels Abbau ungerechtfertigter Steuervergünstigungen erhöht werden. Seit langem gefordert wird beispielsweise eine Ablösung des einkommensteuerlichen Ehegattensplittings durch eine angemessenere steuerliche Berücksichtigung der wechselseitigen Unterhaltsgewährung von Eheleuten. Das Ehegattensplittung verstößt gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Seine Verteilungswirkung privilegiert Besserverdienende. Eine Modifikation könnte ein jährliches Steuermehraufkommen von zwei bis drei Milliarden Euro bewirken.

Es wird Maßnahmenbereiche geben - etwa die der Prävention dienende wirtschaftliche Bildung von Kindern -, die zusätzliche finanzielle Mittel in einem nur begrenzten Umfang erfordern. Viele einzelne Maßnahmen auf der kommunalen Ebene können in einem Finanzierungsmix privater und öffentlicher Mittel realisiert werden - etwa durch die Schaffung und das Betreiben von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung unter der Beteiligung von Wirtschaftsbetrieben. Insbesondere die verbrauchernahe regionale Wirtschaft (Kreditinstitute, Handel, Handwerk, Wohnungsgesellschaften u. a.) sollte sich mehr als bisher in Standortstrategien gegen Armut einbinden lassen.

In Deutschland gibt es einen aufgestauten Bedarf für örtliche und regional verwurzelte Stiftungen, welche die gemeinnützige Arbeit von freien Trägern, Kirchengemeinden und Kommunen auf konkreten Feldern mit finanzieren. Nach der Verbesserung des rechtlichen Rahmens für Stiftungen müssen Anstöße zu einer breiten Kultur lokaler Stiftungen gegeben werden, auch für Zwecke der Armutsprävention und -bekämpfung. Bewährt haben sich "Stadtstiftungen" oder "Bürgerstiftungen" mit einer Vielzahl von Stiftern. Ein föderatives Projekt kann dazu beitragen, mehr vermögende Bürger als Stifter zu gewinnen.

4. Wirtschaftliche Bildung bei Kindern und Jugendlichen

Vom Ziel gleicher Bildungschancen für Kinder unterschiedlicher sozialer Schichten ist Deutschland weit entfernt. Die internationale Pisa-Studie der OECD stellt fest, dass die Entwicklung von Kindern in Deutschland, deren Bildungschancen und Bildungskarrieren, noch immer weitgehend von der sozialen Herkunft abhängen. Die Studie stellt in doppeltem Sinn ein Armutszeugnis aus.

Die gegenwärtige Diskussion lässt einen wesentlichen Aspekt in den Hintergrund treten: den der wirtschaftlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Marktteilnahme und soziale Integration stehen bei Kindern und Jugendlichen in einem engen Verhältnis. Mit der Verfügung über eigene Kaufkraft auf Konsummärkten verwirklichen sich Kinder und Jugendliche nicht allein als Verbraucher, sondern ebenso als selbstständige Akteure in ihren Lebenswelten. Kinder und Jugendliche sehen sich als Zielgruppen des Moden-, Marken-, Musik- und Freizeitmarketings von Wirtschaftsunternehmen zunehmend umworben. "Das Marketing macht sich dabei die Spontaneität und Unvoreingenommenheit, Risikobereitschaft und Offenheit von Kindern und Jugendlichen zunutze, um seine Absatzziele zu erreichen." Die offensiv inszenierte Werbung klärt weniger über den Nutzen von Produkten auf, als dass sie symbolische Attribute kreiert (Kult-Marketing), die Eigenidentität begründen, Präsentation in der sozialen Umgebung bewirken und kulturellen Status oder Lifestyle ausdrücken sollen. Auf der einen Seite werden Kinder und Jugendliche früh von der Wirtschaftswerbung angesprochen und in die Rolle von Konsumenten gedrängt, auf der anderen Seite agieren sie in hohem Maße ohne ein hinreichendes wirtschaftliches Wissen. Wirtschaftsunternehmen entziehen sich vielfach ihrer Marktverantwortung für ihre Zielgruppen. Eine Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf die spätere Rolle eigenständiger Haushaltsführung findet nicht statt. Selten nur wird ein reflektiertes und kontrolliertes Marktverhalten eingeübt. Kindern und Jugendlichen wird insgesamt gesehen eine wirtschaftliche Allgemeinbildung vorenthalten.

Die Positionierung des Ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung ist überaus deutlich. "Die Defizite an wirtschaftlicher Bildung und deren Folgen weisen darauf hin, dass Maßnahmen der Überschuldungs- und Armutsprävention in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen durch Eltern und Schulen, durch die verbrauchernahe Wirtschaft, in der Verantwortung der Medien, im Rahmen der sozialen Trägerarbeit und in staatlichen Verantwortungsbereichen wesentlich gezielter ergriffen werden sollten. Kinder und Jugendliche müssen die wirtschaftlichen Bedingungen einer Haushaltsgründung, den Umgang mit Einkommen, mit Kreditangeboten und vermögensbildenden Angeboten erlernen können. Nur dann können sie eine souveräne Verbraucherrolle einnehmen."

Bildungsauftrag der Kindergärten

Es gilt, in Kindern früh Fähigkeit zu wecken, die auf die Anforderungen einer Informations-, Wissens- und Wirtschaftsgesellschaft vorbereiten. Mit Kindern als "Akteuren ihrer eigenen Entwicklung" sollten bereits im Vorschulalter Verhaltensweisen eigenen Beobachtens, Schlussfolgerns, Entscheidens und Handelns erprobt werden. Es sollte ihnen die Bereitschaft nahe gebracht werden, auf Veränderungen zu reagieren, mit Übergangssituationen umzugehen, Konfliktlösungen auszuhandeln und aus Fehlern zu lernen. Natürlich ist dies mit Sprachfertigkeit und Ausdrucksfähigkeit verbunden. Die pädagogische Aufgabenstellung grundlegender Bildung betrifft Eltern ebenso wie ErzieherInnen in den Kindergärten. Pädagogische Konzepte sollten dafür weiterentwickelt, erprobt und in der Breite der Kindertagesbetreuung angewandt werden. Die Weiterbildung von ErzieherInnen sollte gewährleistet, die Trägergruppen der Kindertagesbetreuung sollten vom föderativen Projekt in ihren Bemühungen unterstützt werden.

Bildungsauftrag der Schulen

Die Vermittlung einer wirtschaftlichen Allgemeinbildung wird in der schulischen Bildung seit langem vernachlässigt. Dies gilt für alle Schulformen und Schulstufen in fast allen Bundesländern. Die Bildungsdefizite führen zu Armutsrisiken, die das Niveau und die Qualität der Lebensführung im späteren Leben wesentlich beeinträchtigen können. Das föderative Projekt gegen Armut sollte über die Landesregierungen (Kultusminister) darauf hinwirken, dass Schulen die wirtschaftliche Allgemeinbildung in ihre Unterrichtspläne aufnehmen. Der Bildungsauftrag der Schulen kann bei knappen Personaldecken dezentral und flexibel mit internem und externem Lehrpersonal bewältigt werden. Pilotprojekte bestätigen, dass auf der regionalen Ebene ein Potenzial an fachlich qualifiziertem Personal mit pädagogischen Fähigkeiten vorhanden ist, das für Kurse an Schulen mobilisiert werden kann. Zu denken ist an Fachleute hauswirtschaftlicher Träger, der Verbraucher- und der Schuldnerberatungsstellen, der (Familien-)Bildungsstätten, von Hochschulen, Kammern, Unternehmen und Verbänden (z. B. Vortragsdienst der Sparkassen). Berührungsängste darf es nicht geben.

Allianzen mit freien Akteuren

Das föderative Projekt sollte mit freien Akteuren Allianzen knüpfen, welche die Anlage eines souveränen wirtschaftlichen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen unterstützen. Zu denken ist an die Zusammenarbeit mit Medien und freien Bildungseinrichtungen, mit Organisationen der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit, mit Wohlfahrtsverbänden, mit Trägergruppen der Verbraucherarbeit, der hauswirtschaftlichen Bildung und der Schuldnerberatung - konsequenterweise aber auch mit verbrauchernahen Wirtschaftsgruppen wie Finanzdienstleistern, Einzelhändlern und Markenfirmen. Das innovative Armutspräventionsprogramm des Bundesfamilienministeriums kann hierfür als beispielgebend gelten. "Krisen" - sagt Walt Whitman Rostow - "meistert man am besten, indem man ihnen zuvorkommt."

5. Familie und Beruf in frühen Familienphasen

Junge Frauen und Männer suchen Familie und Beruf zu vereinbaren. Junge Eltern benötigen daher die doppelte Perspektive einer kontinuierlichen Beschäftigung und einer zuverlässigen Tagesbetreuung für ihre Kinder. An beidem mangelt es. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern unter drei Jahren und auch unter sechs Jahren - sagt der Erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - ist deshalb niedrig, weil geeignete Arbeitsplätze und Kinderbetreuungsplätze fehlen. Diese Defizite lösen bei jungen Eltern - unter ihnen viele allein erziehende Frauen - Verarmungsprozesse aus.

Die Vereinbarkeitsprobleme unterscheiden sich in den alten und neuen Bundesländern. In den neuen Bundesländern ist zwar die Infrastruktur der Kindertageseinrichtungen für alle Altersstufen in einem insgesamt ausreichendem Maße vorhanden. Dort fehlen aber in großem Umfang Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze für Frauen. In den alten Bundesländern ist das Kapazitätsdefizit an Kindertageseinrichtungen und an Plätzen mit einer Ganztagsbetreuung nicht zu übersehen. Zugleich fehlen geeignete Arbeitsplätze für Frauen - ganz besonders für allein erziehende Frauen. Junge Eltern erleben einen unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen entstehenden familialen Verarmungsprozess als kulturellen Schock.

Komponenten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Vor allem die alten Bundesländer müssen ihre finanziellen Mittel für den Auf- und Ausbau der Kindertagesbetreuung deutlich aufstocken. Dies gilt auch für die Hortbetreuung. Bei Halbtagsschulen mangelt es an einer Abstimmung der Schulzeiten mit den Arbeitszeiten der Eltern und an einer zuverlässigen Hortbetreuung. Dies bedarf der Korrektur - umso mehr, als es insgesamt gesehen an einer Ausdehnung des Angebots an Ganztagsschulen für schulpflichtige Kinder fehlt.

Kommunen können ihr Qualitätsmanagement verstärken und in Zusammenarbeit mit freien Trägern der Kindertagesbetreuung auf eine flexiblere Abstimmung der Betreuungszeiten mit den Zeitbudgets der Eltern, auf eine Ausdehnung der Ganztagsbetreuung, auf bessere Versorgungs- und Bildungsleistungen für Kinder und auf spezifische Angebote in Problemgebieten und Problemlagen hinwirken.

Außerdem sollte der finanzielle Spielraum der Jugendämter erweitert werden, um im Falle von Niedrigeinkommen bei Eltern auch Kosten einer Ganztagsbetreuung von Kindern im Kleinkind- oder Vorschulalter fördern zu können.

Das Bündnis für Arbeit kann eine moderierende Rolle übernehmen. Unternehmen und Betriebe sollten ermutigt werden, bei Schwangerschaft und Elternschaft ihrer Mitarbeiterinnen längerfristige Produktivitätserwartungen an die Stelle kurzfristiger Produktivitätserwägungen zu setzen. Geeignete Teilzeitarbeitsplätze für Frauen sollten verstärkt außerhalb des Rahmens geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und auch für höher qualifizierte Beschäftigungen angeboten werden. Eine flexible Arbeitszeitgestaltung muss auch für Bezieher von Niedrigeinkommen möglich sein. Betriebe - gerade auch der mittelständischen Wirtschaft - sollten sich im Interesse der Vereinbarkeit der beruflichen und familiären Aufgaben ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine Zusammenarbeit mit professionellen Trägern von Kindertageseinrichtungen einlassen.

Arbeitsämter müssen außerdem ihre Bemühungen um eine Vermittlung von Arbeitsplätzen für allein erziehende Frauen mit kleinen Kindern und für junge Eltern erfolgreicher gestalten.

Das föderative Projekt kann die Rahmenbedingungen junger Elternschaft entscheidend verändern. Dies allein reicht freilich nicht aus. Junge Männer müssen dem emanzipierten Lebensstil ihrer Frauen mehr Verständnis entgegenbringen.

6. Standortspezifische Profile gegen Armut

Für Kommunen gibt es gute Gründe, die soziale Qualität ihrer Lebensstandorte nachhaltig zu verteidigen. Eine gleichrangige soziale, ökologische und ökonomische Entwicklung spielt im Wettbewerb der Standorte eine entscheidende Rolle. Die Wahrung der eingangs genannten Generationenbalance erfordert eine nachhaltige Stärkung der Lebensbedingungen der Familien, von Kindern und Jugendlichen. Es finden sich daher auch viele Ansätze der Armutsprävention und Armutsbekämpfung. Was den Kommunen jedoch fehlt, ist ein zusammenhängendes Profil der Maßnahmen, sind standortspezifische Konzepte sich systematisch ergänzender Lösungen als Bestandteile der Sozialplanung und lebensräumlichen Entwicklungsplanung. Angesichts der Belastungen der Kommunen durch Armut sollte eine Prozesssteuerung der Maßnahmen zur Vermeidung und Überwindung von Armut etabliert werden.

Sozialverträgliche Entwicklungsplanungen der Kommunen

Dass eine solche Prozesssteuerung möglich ist, zeigen die viel beachteten "Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Sozialverträglichkeit als Bestandteil kommunaler Entwicklungsplanung" . "Segregation, Anonymität, Isolation, fehlende kleine Netze wirken sich zerstörerisch auf die soziale Leistungsfähigkeit und Verantwortlichkeit von Menschen aus und verursachen erhebliche gesellschaftliche ,Reparaturkosten'. Deshalb ist auf die Gestaltung der Lebensräume frühzeitig planend Einfluss zu nehmen." Die Empfehlungen setzen Standards für kooperative Beteiligungs- und Planungsprozesse, die "soziale, wirtschaftliche, ökologische und räumliche Gesichtspunkte" integrieren. Verantwortlich vertreten werden Belange der Sozialverträglichkeit in Gemeinden bzw. Stadtteilen "insbesondere von den Sozial-, Jugend-, Gesundheits- und Wohnungsdezernaten". Dies reicht nicht aus. Kommunen sollten ausdrückliche Verantwortlichkeiten für eine Generationenpolitik aufweisen: für eine Kinder- und Jugend-, Frauen-, Familien- und Seniorenpolitik. Bürgerschaftliche Beteiligung kommt "aus den Bereichen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kirchen, freie Träger, Vereine und Selbsthilfegruppen". Die räumliche Sozialverträglichkeitsprüfung ". . .qualifiziert Planungsprozesse und führt letztendlich dazu, strukturelle Störungen mit (sozialen) Folgekosten zu minimieren und möglichst zu verhindern". Sie konkretisiert Maßnahmen, die es umzusetzen gilt.

Das föderative Projekt gegen Familien- und Kinderarmut sollte kommunale Maßnahmenkonzepte gegen Armut gezielt fördern. Das Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die Soziale Stadt" bietet hierfür zwar nicht den einzigen, aber einen besonders geeigneten Rahmen.

7. Haushaltskredit für Familien in der Aufbauphase

"Bei der Geburt eines (weiteren) Kindes" - stellt der Erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung fest - "entsteht nicht nur ein Betreuungsbedarf, sondern auch ein erhöhter Bedarf an Finanzmitteln für Güter des täglichen Bedarfs und für langlebige Konsumgüter, nicht zuletzt auch für Wohnraum. Gerade in dieser Phase geht aber die Erwerbstätigkeit der Eltern, in der Regel der Frauen, zurück, insbesondere wenn nicht auf Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zurückgegriffen werden kann. Verstärkt gilt dies für allein Erziehende. Es entsteht eine ,Schere' zwischen dem finanziellen Bedarf und Deckungsmöglichkeiten. In dieser Lebensphase junger Familien, in der einerseits nur Kosten anfallen, andererseits Ersparnisse vergleichsweise gering sind, wird die finanzielle Deckungslücke häufig durch Kreditaufnahme geschlossen. Kredite eröffnen damit jungen Familien mit vergleichsweise niedrigem Einkommen einen Vorgriff auf künftig erwartetes Einkommen. Kredite bergen jedoch auch erhebliche Risiken."

Diese Überschuldungsrisiken sucht der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesfamilienministerium auszuschalten. In seinem Gutachten "Gerechtigkeit für Familien" schlägt er im Rahmen seines Modells eines Drei-Generationen-Vertrags vor, Eltern in besonderen wirtschaftlichen Bedarfssituationen einen Vorgriff auf künftiges Einkommen über lang laufende, gesicherte Kredite zu ermöglichen - im Sinne einer bedarfsgerechten intertemporalen Umverteilung von Liquidität. Der überbrückende Familienkredit könnte - so der Wissenschaftliche Beirat - an die Geburt eines Kindes, an den Beginn eines neuen Lebensabschnitts des Kindes, aber auch an die Situation der Alleinerziehung gebunden werden. Dieser Vorschlag behält auch dann seine Bedeutung, wenn der langfristige Ausgleich der Liquiditätsversorgung von Familien nicht - wie es der Wissenschaftliche Beirat vorschlägt - über einen öffentlichen Fonds, sondern marktwirtschaftlich erfolgt.

Dass der Gedanke des Wissenschaftlichen Beirates zur Diskussion gestellt wird, kommt nicht von ungefähr. Die Bedeutung der Kreditversorgung privater Haushalte hat in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten ständig zugenommen. Bei unstetigen Erwerbs- und Lebensverläufen sind flexibel überbrückende Kredite für eine kontinuierliche Liquiditätsversorgung vieler wirtschaftsschwacher Haushalte unentbehrlich geworden. Hinzu kommt der spezifische längerfristige Liquiditätsbedarf junger Familien zur Sicherung der Kindesentwicklung und für den Aufbau eines funktionsgerechten Familienhaushalts.

Das politische Führungsgremium des föderativen Projekts könnte mit der Kreditwirtschaft einen allgemeinen Kreditrahmen für junge Familien (mit Kindern im Kindesalter) vereinbaren, bei dessen Ausschöpfung lang laufende Marktkredite mit gezielten staatlichen Fördermaßnahmen verbunden werden. Zu denken wäre an flankierende Maßnahmen wie eine Bürgschaftsübernahme, eine Zinssubvention oder eine Kreditversicherung, die geeignet sind, die Bonität wirtschaftsschwacher junger Eltern zu erhöhen, die Kreditkosten der Kreditinstitute zu senken und das Überschuldungsrisiko des Kreditnehmers entscheidend zu mindern. Mit einem besonderen Haushaltskredit für junge Familien würde dem Risiko, in frühen Familienphasen in Verarmungsprozesse zu geraten, auf eine wirksame Weise entgegengewirkt.

8. Marktverantwortung der Finanzdienstleister

Das föderative Projekt hätte das Mandat, mit Finanzdienstleistern auch unterhalb der Ebene des hier diskutierten Vorschlags Absprachen zu treffen. Zu beobachten ist eine Segmentierung des Marktes der Finanzdienstleistungen. Produktive Finanzdienstleistungen richten sich überwiegend an wirtschaftsstarke Haushalte. Wirtschaftsschwachen Haushalten stehen im Wesentlichen nur Girokonten mit Überziehungslinien und Ratenkredite zur Verfügung. Die Führung eines "Girokontos auf Guthabenbasis" ist für arme Haushalte heute eine Voraussetzung zur Teilnahme am wirtschaftlichen Leben (im Frühjahr 2000 gab es rund 1,1 Millionen Konten). Dies ist längst nicht allen armen Haushalten möglich. Bei überschuldeten Haushalten (1999 etwa 2,77 Millionen Fälle) beispielsweise wird dies erst dann gewährleistet sein, wenn der Pfändungsschutz für Guthaben auf "Girokonten auf Guthabenbasis" zeitlich wesentlich erweitert und inhaltlich verbessert wird.

Finanzdienstleister haben für die wirtschaftliche Bildung von Kindern und für die Versicherungs-, Kredit- und Anlagenberatung von Jugendlichen eine originäre Verantwortung. Sie haben diese Marktverantwortung auch gegenüber wirtschaftsschwachen Haushalten und armen (überschuldeten) Kunden.

9. Kindbezogene Einkommenstransfers bei niedrigen Familieneinkommen

Kindbezogene Fördersysteme sollten flexibler und realitätsnäher auf sich ausdifferenzierende Lebenslagen von Familien antworten. Das Armutsrisiko junger Familien (mit Kindern im Kindesalter) wird auch deshalb nicht aufgefangen, weil das in die Transfersysteme eingebaute Reaktionsvermögen der Systeme bei einer Änderung der Einkommensverhältnisse von Familien zu gering ist. Der Sozialhilfe vorgelagerte Transferleistungen, wie Wohngeld, Kindergeld, Erziehungsgeld, private Unterhaltszahlungen und staatliche Unterhaltsvorschüsse, reagieren - trotz unbestreitbarer Leistungsverbesserungen in der laufenden Legislaturperiode - immer noch zu wenig auf ein Abgleiten in prekäre wirtschaftliche Lebenslagen und schließlich in Armut. Von einem föderativen Projekt kann eine Überprüfung der Fördersysteme unter Allokations- und Effizienzgesichtspunkten erwartet werden. Gefordert ist eine größere Leistungsdifferenzierung der Fördersysteme nach Lebenslagen.

Von vorrangiger Bedeutung bei der geplanten Sozialhilfereform wird eine realitätsgerechte Anhebung der Regelsätze von Kindern und Erwachsenen auf Betragshöhen sein, die eine einfache Lebensführung tatsächlich ermöglichen. Die Nationale Armutskonferenz konnte nachweisen, dass Regelsätze der Sozialhilfe heute nicht mehr eine vollwertige Ernährung zulassen. Besonders gefährdet sind die Gesundheit und die Entwicklung von Kindern. Das föderative Projekt, in dem die staatlichen Ebenen wie die gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind, könnte in die Vorbereitung der anstehenden Sozialhilfereform einbezogen werden.

Von mehreren Seiten werden Vorschläge unterbreitet, Kinder und Jugendliche (bis 18 Jahre) ganz aus der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) herauszunehmen und deren sozialkulturelle Mindestbedarfe vollständig über eine der Sozialhilfe vorgelagerte Transferleistung abzudecken. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre etwa ein bei Niedrigeinkommen aufgestocktes Kindergeld (Kinderfördergeld), das mit steigendem Einkommen auf einen allgemeinen Sockel zurückgeführt wird.

Die Zunahme von Armutsrisiken und Armutskrisen in einer sich unbarmherzig wandelnden Welt ruft nach neuen politischen Handlungsoptionen, nach einer Verständigung auf eine Strategie und nach politischem Mut zu ihrer Umsetzung. Der Entwurf des föderativen Projekts gegen Familien- und Kinderarmut zeigt, dass die große Aufgabe bewältigt werden kann. Die Zeit drängt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Elfter Kinder- und Jugendbericht, Bericht der Sachverständigenkommission über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Vorabdruck des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Berlin 2002, B.II.1.1.1 Familiale Lebensformen heute, S. 204 ff.

  2. Vgl. Michael-Burkhard Piorkowsky, Präventive Einkommens- und Budgetberatung. Das Bundes- und Landesmodellprojekt in Rostock - Evaluationsbericht, Deutsche Gesellschaft für Hauswirtschaft (Hrsg.), Materialien Band I, Bonn 2000, S. 40.

  3. Lebenslagen in Deutschland - Erster Armuts- und Reichtumsbericht, Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 14/5990 vom 8. 5. 2001, Teil A, Kap. II und III, S. 66 ff. und S. 80 ff.

  4. Vgl. ebd., S. 34 ff.

  5. Vgl. ebd., S. 74 f.

  6. Vgl. Dieter Korczak, Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999, Schriftenreihe des BMFSFJ (Hrsg.), Band 198, Berlin 2001, S. 105 f., 134 f.

  7. Elfter Kinder- und Jugendbericht (Anm 1), B. III. 2.2 Risiken und Belastungen: Konsumdruck, Ausgrenzung und Verschuldung, S. 257.

  8. Vgl. Elfter Kinder- und Jugendbericht (Anm 1), B. IX. 1.2.4 Alkohol-, Nikotin-, Drogenmissbrauch, S. 435 f.

  9. Anthony Giddens, Die Frage der sozialen Ungleichheit (The Third Way and its Critics), in: Ulrich Beck (Hrsg.), Edition Zweite Moderne, Frankfurt/M. 2001, S. 124 f.

  10. Vgl. Michael-Burkhard Piorkowsky, Verarmungsgründe und Armutsprävention bei Privathaushalten, in: Materialien zur Familienpolitik Nr. 11, Lebenslagen von Familien und Kindern, BMFSFJ (Hrsg.), Berlin 2001; Dieter Korczak, Marktverhalten, Verschuldung und Überschuldung privater Haushalte in den neuen Bundesländern, Schriftenreihe des BMFSFJ (Hrsg.), Band 145, Stuttgart 1997.

  11. Vgl. Lothar Krappmann, Kinderarmut, in: Materialien (Anm. 10); Irmhild Kettschau, Armut in Familien - hauswirtschaftliche und haushaltswissenschaftliche Aspekte, in: Materialien (Anm. 10).

  12. A. Giddens (Anm. 9), S. 103.

  13. Tatjana Rosendorfer, Umgang mit Geld in der Familie als Armutsfaktor für Kinder, in: Materialien (Anm. 10).

  14. Vgl. Ute Sacksofsky, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Gestaltung des Familienlastenausgleichs nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998, Rechtsgutachten im Auftrag des BMFSFJ, vervielfältigtes Manuskript, Frankfurt/M. 2000; ferner Werner Heun, Expertise über die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die gesetzliche Ausgestaltung des Kinderlastenausgleichs, Rechtsgutachten im Auftrag des BMFSFJ, vervielfältigtes Manuskript, Göttingen 2000.

  15. Vgl. Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung GmbH an der Universität Hannover, Aufbau von Zweckvermögen zur Förderung von familienbezogenen Projekten und Maßnahmen in den kommunalen Lebensräumen, in: Netzwerk Rundbrief des Netzwerks für örtliche und regionale Familienpolitik, Hannover 1997.

  16. Vgl. Pisa-Studie der OECD = Bildungsuntersuchung Pisa (Programme for International Student Assessment) der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2001; Martin Spiewak, Die Schule brännt, sowie: Zeitchancen, Der Schulschock, in: DIE ZEIT, Nr. 50 vom 6. 12. 2001.

  17. Tatjana Rosendorfer, Kinder und Geld, Frankfurt/M. 2000.

  18. Vgl. L. Krappmann (Anm. 11); Lucia Reisch, Die Freiheit nehm" ich mir, in: Jung, lässig & pleite?, Aktion Jugendschutz - Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg (Hrsg.), Stuttgart 2001; Naomi Klein, Keine Macht den Marken!, in: DIE ZEIT Nr. 12 vom 15. 3. 2001; Elfter Kinder- und Jugendbericht (Anm. 1), B. III. 2.2 Risiken und Belastungen: Konsumdruck, Ausgrenzung und Verschuldung, S. 254 ff.

  19. Lebenslagen in Deutschland (Anm. 3), B.I.3 Prävention und Bekämpfung von Überschuldung - Wirtschaftliche Bildung, S. 150.

  20. Vgl. Edith Kesberg, Kinderbetreuung - Der Schlüssel zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Familienpolitische Informationen der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen Nr. 1, Bonn 2002.

  21. Elfter Kinder- und Jugendbericht (Anm. 1), B.IV.2.2 Bildung als Aufgabe der Kindertageseinrichtungen, S. 292 f.

  22. Vgl. M.-B. Piorkowsky (Anm. 10).

  23. Elfter Kinder- und Jugendbericht (Anm. 1), B. I. 5.1 Kindertageseinrichtungen; B. II. 2.4 Familienergänzende Angebote; B. III. 6 Kindertagesbetreuung, S. 192 ff., 228 f. und 264 ff.

  24. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Sozialverträglichkeit als Bestandteil kommunaler Entwicklungsplanung, in: NDV Nachrichtendienst Nr. 9, Frankfurt/M. 2001.

  25. Lebenslagen in Deutschland (Anm. 3), S. 90.

  26. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ, Gerechtigkeit für Familien - Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleis"tungsausgleichs, Schriftenreihe des BMFSFJ (Hrsg.), Band 202, Stuttgart 2001, 7.4 Intertemporale Umverteilung, 7.4.1, 7.4.3, 7.5.5.1 Maßnahmen zum Ausgleich der Prozesschancen, S. 211 ff. und 230 ff.

  27. Vgl. Udo Reifner, Armut in der Kreditgesellschaft, in: Materialien (Anm. 10).

  28. Vgl. Bericht der Bundesregierung zum "Girokonto für jederman", Bundestag-Drucksache 14/3611 vom 9. 6. 2000.

  29. Vgl. D. Korczak (Anm. 6).

  30. Vgl. Nationale Armutskonferenz für die Bundesrepublik Deutschland, Sozialpolitische Bilanz, Armut von Kindern und Jugendlichen. 2.7 Ernährung, Stuttgart 2001, S. 33 f.

Diplomvolkswirt, geb. 1937; Ministerialrat a. D., Publizist.

Anschrift: 53639 Königswinter, Dahlienweg 4.

Veröffentlichungen u. a.: Private Haushalte unter dem Einfluss wechselnder sozioökonomischer Leitbilder, in: NDV Nachrichtendienst (2001) 10; Armut in Familien - Fragen an den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft (dgh), 2001) 1.