Einleitung
Während die Politiker auf der Bühne über Nebensächliches streiten und sich die Bürger auf den Rängen langweilen, zerbirst am Grunde des Gebäudes das Fundament
I. Keine Zukunft ohne Kinder
Miegels Theater und unsere Gebäude sind Sinnbilder einer Gesellschaft, die nicht wahrnimmt, dass ihr das Fundament und damit auch die Zukunft, dass ihr der Nachwuchs langsam aber sicher abhanden kommt. Sie sind Sinnbilder einer Gesellschaft, die nicht bemerkt, dass ihr schon bald die Menschen fehlen werden, die in Zukunft die Wirtschaft betreiben, die immer zahlreicher und älter werdenden Alten versorgen und die überhaupt in der Lage sein werden, die Alltagsaufgaben von morgen zu bewältigen. Die Gründlichkeit, mit der wir diesen Tatbestand verdrängen, lässt Zweifel aufkommen, ob uns die Zukunft überhaupt interessiert. Miegel ist schließlich nicht der Erste, der uns mit den katastrophenträchtigen Zukunftsprognosen konfrontiert. Die Ergebnisse der Hochrechnungen der Bevölkerungswissenschaftler sind seit Jahren bekannt. Wir wissen, dass in Europa nur Spanien eine noch schwächere Geburtenrate aufweist als die Bundesrepublik (1,2 gegenüber 1,3)
Aus historischen Gründen ist es in Deutschland noch immer schwierig, bevölkerungspolitische Maßnahmen vorbehaltlos zu diskutieren. Hinzu kommt, dass eine politische Kultur, die verantwortliche Politiker dazu verleitet, überwiegend in Vierjahreszyklen zu denken, nicht darauf angelegt ist, mittel- und langfristige Herausforderungen ernsthaft anzunehmen, wenn die Lösungen kurzfristig Kosten verursachen. Doch die bereits heute fest programmierten demographischen Brüche lassen unserer Gesellschaft keine Alternative als die, sich ihren Auswirkungen jetzt zu stellen.
Wenn wir dem gegenwärtigen Trend des Geburtenschwundes entgegensteuern wollen, müssen wir die Hürden beseitigen, die potenzielle Eltern daran hindern, mehr Kinder großzuziehen, bez. die Hilfen geben, die sie veranlassen könnten, dies doch zu tun. Wir müssen die Regeln und Rahmenbedingungen ändern, die zur Sicherung der Geschlechter- und Generationenfolge Frauen und Männern vor Zeiten bestimmte Rollen auferlegten.
Das in unserer Kultur seit Jahrtausenden geltende Geschlechterarrangement, das die Männer und die Gemeinschaft von der Verantwortung für den gesellschaftlichen Nachwuchs weitgehend entlastet, ist zu einer geradezu lebensbedrohlichen Falle geworden. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass das traditionelle Muster zur Regeneration der Gesellschaft, das zwar nicht gerecht war, aber immerhin lange funktioniert hat, den veränderten Bedingungen eines seit dem 20. Jahrhundert wirksamen sozialen Wandels nicht mehr standhalten kann. Es stimmt nicht mehr, "dass Kinder allemal geboren werden", wie noch Konrad Adenauer meinte, und es führt in eine gesellschaftspolitische Sackgasse, Kinderkriegen und Kindergroßziehen als Privatsache und letztlich als die Angelegenheit nur von Frauen und Müttern zu betrachten. Es ist höchste Zeit, dass wir die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder neu bedenken; dass wir die Zeit und die Zuwendung, die sie brauchen, und die Betreuung und Bildung, die aus ihnen erst vollwertige Mitglieder der Gesellschaft machen, zwischen Vätern und Müttern und den Einrichtungen der Gesellschaft anders verteilen.
Der geheime Geburtenstreik vor allem der gut ausgebildeten Frauen steht in direktem Bezug zu der Schlusslichtposition,
Wir wissen inzwischen, dass Frauen, denen die Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, mehr Kinder bekommen.
Nicht alle der Faktoren, die bei dem weltweit zu beobachtenden Rückgang der Geburtenzahlen eine Rolle spielen, sind so gut beeinflussbar wie - das lehren uns die europäischen Vergleichszahlen - der Kernfaktor "Kinderbetreuung". Die Versorgung unseres Landes mit einem zumindest bedarfsgerechten Angebot an ganztägigen Krippen, Kindertagesstätten und Schulen ist die derzeitig einzig wirksame Möglichkeit, mehr Frauen zu veranlassen, sich ihre Kinderwünsche zu erfüllen; sie würde darüber hinaus Lösungen für eine ganze Reihe anderer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme bieten:
1. Die längst überfällige Einlösung des Auftrages des Grundgesetzes (GG Art. 3, 2) und der Verpflichtungen, die Deutschland aus der 1985 erfolgten Ratifizierung des Menschenrechtsabkommens "Zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau" eingegangen ist, würden in einem der wichtigsten Punkte erfüllt.
2. Der Arbeitskräftemangel insbesondere an qualifizierten Arbeitskräften, der schon heute für den Standortfaktor Deutschland höchst bedenklich ist und angesichts der bevorstehenden Bevölkerungsentwicklung dramatische Ausmaße annehmen wird, würde durch die Einbeziehung qualifizierter Frauen ins berufliche Leben spübar geringer.
3. Als Wirkung einer Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen kann mit einer wirksamen Reduzierung der Arbeitslosigkeit im Dienstleistungssektor und bei Geringqualifizierten gerechnet werden.
II. Ist die Bundesrepublik reformfähig?
Bereits Anfang der siebziger Jahre hatte sich Hildegard Hamm-Brücher, eine der bedeutendsten deutschen Bildungspolitikerinnen, diese Frage gestellt und an die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes bei der Realisierung der schon damals überfälligen Reformen im Bildungsbereich appelliert.
Die Zuständigkeit für Schule und Jugend liegt dem Grundgesetz zufolge zunächst bei den Ländern. Glücklicherweise ist die Frage der Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern inzwischen zum Thema bei Politikern, Wissenschaftlern und Staatsrechtlern
Ein bedenkenswertes Beispiel bietet uns die kleine Schweiz, welche die gleichen Bevölkerungsprobleme und die gleiche föderale Zuständigkeitsstruktur hat wie die Bundesrepublik. Nach zehn Jahren unermüdlicher öffentlicher Diskussions- und Aufklärungsarbeit hat das Schweizer Parlament, der Nationalrat, am 17. April dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, das den Bund verpflichtet, über einen Zeitraum von zehn Jahren einen Betrag von jährlich 100 Millionen SF Beihilfe an schulische und vorschulische Einrichtungen (insbesondere an Krippen) zu vergeben, welche ganztägige Bildung und Betreuung anbieten wollen. In den ersten vier Jahren der Laufzeit des Förderprogramms sollen zusätzlich 400 Millionen SF Darlehen gewährt werden. Über weitere Darlehen wird später entschieden. Für zwei Drittel der erforderlichen Zusatzmittel müssen die pädagogischen Einrichtungen mit Hilfe anderer Zuwendungsgeber selbst aufkommen. Um Verwaltungskosten gering zu halten, werden die Gelder von einer Bundesbehörde verwaltet und direkt an die beantragenden Schulen oder Einrichtungen ausbezahlt, wobei die Kantone nur gehört werden sollen.
Dieses in der Parlamentarischen Initiative "An-stoßfinanzierung für familienergänzende Betreuungsplätze" vom 27. März 2002
Ein der deutschen Bevölkerungszahl entsprechender Finanzzuschuss würde pro Jahr 783,2 Millionen Euro betragen, insgesamt über zehn Jahre verteilt also 7,8 Milliarden Euro plus in den ersten vier Jahren 33,133 Milliarden Euro Darlehen. Das ist viel Geld und ist dennoch wenig angesichts der unkalkulierbaren Kosten, die drohen, wenn es nicht angelegt wird. Auch könnten die staatlichen Zusatzkosten durchaus auf vertretbarem Niveau gehalten werden: durch weitsichtige Investitionen in Kinder statt in kinderlose Ehen
III. Eine Zukunft für unsere Kinder
Dass der bedarfsgerechte Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsplätzen in Krippen und Tagesstätten nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den Arbeitsmarkt und für die Gleichstellung der Geschlechter von zentraler Bedeutung ist, hat sich inzwischen bei den gesellschaftlichen Akteuren herumgesprochen.
In den meisten europäischen Ländern und in den USA sind außerdem Schulpsychologen und qualifizierte pädagogische Berater bei allen wichtigen Entscheidungen, die Schüler und Schülerinnen betreffen, mit einbezogen. In Schweden erhalten Schulleiter und Klassenlehrer eine spezielle Zusatzausbildung, die sie als Organisationsexperten und Manager, aber auch als professionell geschulte Menschenführer qualifiziert. Für die Beurteilung und die Entwicklungsschritte der Schüler und Schülerinnen sind dort regelmäßige Informations- und Beratungsgespräche zwischen Schülern, Klassenlehrern und Eltern von weitaus größerer Bedeutung als Zensuren und Schulnoten.
Die Lebensumstände von Kindern haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Die Instabilität, Mobilität und die Diskontinuität der Familien hat sich, wie auch die Zahl der allein erziehenden Eltern, in nie da gewesener Weise erhöht. Armut, Migration und Berufstätigkeit der Mütter bestimmen für viele Kinder den Alltag schon im Kleinkindalter, Mütter und Eltern sind - aus welchen Gründen auch immer - ihren erzieherischen Aufgaben oftmals nicht gewachsen. Wenn sich die Schule und die vorschulische Bildung und Erziehung ändern muss, dann gerade auch für die Kinder aus allen Schichten, die zuhause nicht das Maß an Förderung und Zuwendung bekommen können, das sie für eine positive menschliche Entwicklung brauchen.
Zur Sicherung der Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir mehr Kinder und folglich mehr Ganztagseinrichtungen. Die Kinder aber brauchen mehr Zeit, mehr Zuwendung und mehr kindgerechte Bildung und Betreuung - deswegen mehr und bessere Ganztagsschulen sowie Ganztagskindergärten.