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Sicherheitspolitik Editorial Herausforderungen für die Bundeswehr Interventions- und Eskalationsproblematik bei der militärischen Konfliktbewältigung Funktionen militärischer Konfliktregelung durch die NATO Wege und Möglichkeiten künftiger europäischer Sicherheitspolitik Die Fortsetzung der NATO-Osterweiterung: Politische Stabilitätsförderung zulasten militärischer Handlungsfähigkeit?

Funktionen militärischer Konfliktregelung durch die NATO

August Pradetto

/ 27 Minuten zu lesen

Militärische Konfliktregelung ist in den neunziger Jahren zu einem wesentlichen Instrument von Bemühungen geworden, in Europa Sicherheit zu schaffen. Dabei geht es um die Neugestaltung unseres Kontinents.

I. Einleitung

Unter Funktion versteht man die Aufgabe bzw. den Zweck, der einem bestimmten Sachverhalt oder einer bestimmten Handlung zugemessen wird. Funktion ist demnach eine intentionale Kategorie. Ihre Bewertung steht allerdings im Zusammenhang mit den objektiven Auswirkungen und Ergebnissen, die erzielt werden. Anders formuliert: Bei der Funktion handelt es sich um die Zuordnung einer abhängigen Größe in einem Koordinatensystem, das selbst von dieser abhängigen Größe beeinflusst und solcherart spezifisch ausgeformt wird. Die abhängige Größe ist im hier verhandelten Fall die militärische Konfliktregelung; das Koordinatensystem besteht, erstens, in der postkommunistischen und postbipolaren "Unordnung", die vor allem geprägt ist von Transformations- und Nation-building-Prozessen im östlichen Teil Europas sowie daraus entstehenden destabilisierenden Auswirkungen; und, zweitens, im Versuch westlichen Krisenmanagements, sowohl die destabilisierenden Auswirkungen zu minimieren wie längerfristige Ordnungsvorstellungen bei der Um- und Neugestaltung Europas umzusetzen.

Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Funktion militärischer Konfliktregelung in Ex-Jugoslawien. Doch sollen auch zumindest einige Aspekte der partiell intendierten, partiell nicht beabsichtigten Auswirkungen militärischer Konfliktregelung auf jenen Akteur angesprochen werden, der den Hauptanteil der militärischen Konfliktregelung in Ex-Jugoslawien trägt: die NATO.

Eingangs werden die derzeitigen Optionen militärischer Konfliktregelung durch die NATO, wie sie in ihrem neuen strategischen Konzept von 1999 formuliert sind, dargelegt. Sie bilden aber nur die sicherheitspolitischen Schlussfolgerungen, die das Bündnis aus einer ganzen Reihe von Konflikten zog, die in den neunziger Jahren virulent wurden. Der Hauptteil der folgenden Reflexionen beschäftigt sich mit dem politischen und zeithistorischen Hintergrund der Politik militärischer Konfliktregelung wie auch mit ihrer Anwendung durch die NATO in Ex-Jugoslawien in den neunziger Jahren sowie mit der Frage nach vorrangigen Bereichen und Zielen militärischer Konfliktregelung.

II. Der politische und normative Hintergrund militärischer Konfliktregelung

Die normative Basis für militärische Konfliktregelung durch die NATO ist ihr im April 1999 verabschiedetes neues Strategisches Konzept. Es umfasst unterschiedliche Optionen militärischer Konfliktregelung. Alle diese Optionen spiegeln Konfliktlagen wider, deren Bewältigung oder Eindämmung die NATO in den neunziger Jahren als Aufgabe übernommen hatte:

- Kampfeinsätze im Rahmen eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Als Beispiel ist der zweite Golfkrieg gegen den Irak 1991 zu nennen, an dem eine Reihe von NATO-Staaten unter Führung der USA (und unter Beteiligung weiterer Staaten) teilnahmen, sowie die Luftangriffe gegen serbische Stellungen in Bosnien-Herzegowina 1994/95.

- Peace-keeping-(Blauhelm-)Einsätze, d. h. friedenssichernde Maßnahmen, im Rahmen eines UNO-Mandats zur Absicherung einer zwischen den Konfliktparteien (und eventuell Dritten) erreichten Einigung. Solche Einsätze führte die NATO schon mit den IFOR- und SFOR-Einsätzen nach dem Dayton-Abkommen vom Dezember 1995 sowie mit dem KFOR-Einsatz durch. Letzterer wurde möglich durch ein Abkommen aufgrund des Waffenstillstandes und durch politische Vereinbarungen mit der jugoslawischen Regierung nach dem Kosovo-Krieg (März bis Juni 1999).

- Von der UNO nicht mandatierte Peace-keeping-Einsätze aufgrund eines von einer Regierung bzw. den Konfliktparteien ausgesprochenen Ersuchens an die NATO. Diese Option wurde etwa durch den Makedonien-Einsatz ab August 2001 - zuerst "Essential Harvest", dann "Amber Fox" - umgesetzt.

- Militärische Einsätze aufgrund eines als von außen gewerteten Angriffs auf eines der Bündnismitglieder, wie sie nach den Terroranschlägen in New York und Washington im Beschluss der NATO vom 2. Oktober 2001 impliziert sind, den Bündnisfall nach Art. 5 zu erklären.

- Selbstmandatierte militärische Einsätze zur Erzwingung eines politischen Verhaltens. In diese Kategorie fällt der schon genannte Kosovo-/Jugoslawien-Krieg von März bis Juni 1999.

Völkerrechtlich wie auch politisch umstritten ist vor allem der letztgenannte Typ militärischer Konfliktregelung, da er sowohl über den im NATO-Vertrag vereinbarten Verteidigungs- bzw. Bündnisfall (Art. 5 Washingtoner Vertrag und Art. 51 bzw. 52 UNO-Charta) als auch über Einsätze nach Kapitel 7 der Charta (Ergreifen von Maßnahmen aufgrund von Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrats sowie Fungieren als regionale Organisation im Rahmen der Bestimmungen der Charta) hinausgeht.

Mit der Festlegung, dass out of defence, out of area sowie out of United Nations agiert werden könne, erteilt sich die NATO mit dem Strategischen Konzept von 1999 selbst die Befugnis zur militärischen Konfliktregelung, wenn sie dies für notwendig hält. Das Konzept benennt als Motive, die die Allianz zur militärischen Konfliktregelung veranlassen können, ein ganzes Spektrum von Tatbeständen: vom Völkermord bis zur schwer wiegenden Beeinträchtigung von "Sicherheitsinteressen" der NATO-Staaten. Damit hängt die eventuelle Selbstmandatierung von der jeweiligen Definition einer solchen Beeinträchtigung bzw. von der jeweiligen politischen Konstellation in der NATO bzw. von den wichtigsten Mitgliedsländern ab.

Der politisch-zeitgeschichtliche Hintergrund und die Faktoren für die genannte Strategie-Veränderung sind komplex. Die folgende Auflistung enthält keine Prioritätenabfolge.

- Möglich wurde die neue Option selbstmandatierter militärischer Konfliktregelung und damit die Option militärischer Interessendurchsetzung aufgrund massiver Machtverschiebungen, bedingt durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Die konkurrenzlose militärische Macht der NATO, vor allem der USA, eröffnete einen viel größeren Spielraum für militärisches Agieren, als dies zuvor der Fall gewesen war.

- Es gab ein Eigeninteresse der NATO, sich trotz des Wegfalls des bisherigen Feindes zu behaupten, neu zu positionieren und ihre Legitimität aufrechtzuerhalten.

- Das externe Engagement ab 1992 rückte die USA und einige europäische NATO-Mitglieder, schließlich die NATO selbst, immer mehr in den Mittelpunkt militärischer Konfliktregelung in der südosteuropäischen Region. Die Aufwertung der NATO wurde noch verstärkt, weil andere für eine militärische oder politische Konfliktregelung in Frage stehende Institutionen - z. B. die WEU oder die OSZE - zunehmend in ihren Kapazitäten und Möglichkeiten als nicht ausreichend erachtet wurden. Der institutionelle Wettbewerb wurde in wachsendem Maße von der NATO dominiert.

- Schließlich verfolgten die USA vor allem seit dem Golfkrieg 1991 das Ziel, militärische Konfliktregelung auch außerhalb der bis dato gültigen politischen und völkerrechtlichen Vorgaben zu einer Aufgabe der NATO insgesamt zu machen. Diese inhaltliche Erweiterung der NATO-Politik sollte mit einer geographischen Erweiterung Hand in Hand gehen.

III. Formen militärischer Konfliktregelung durch die NATO in Ex-Jugoslawien

Schon in Bosnien-Herzegowina wurde die militärische Konfliktregelung in praktisch vier der genannten Formen praktiziert. Ab 1992 wurden die von der UNO beschlossenen Sanktionen mit dem Einsatz militärischer Kräfte durchzusetzen versucht. Später, vor allem im Jahre 1995, versuchte man, mit "robusten" militärischen Mitteln die Beendigung von Kampfhandlungen zu erzwingen. Beides war durch VN-Mandate legitimiert. Parallel wurden Kroaten und Muslime in ihrer Auseinandersetzung gegen die Serben mit Waffen, logistischer Hilfe und Ausbildung versorgt. Dies entspricht einer selbstmandatierten militärischen Konfliktregelung auf der Ebene unterhalb des Einsatzes eigener Truppen. Nach dem Dayton-Abkommen erfolgte im Dezember 1995 - wieder unter UNO-Mandat - die Dislozierung militärischer Kräfte der NATO zur Absicherung der getroffenen Vereinbarungen.

Diese Maßnahmen konnten zwar nicht einen ethnischen Bürgerkrieg und dessen Andauern über einen Zeitraum von vier Jahren mit Zehntausenden Toten und Hunderttausenden Verletzten und Vertriebenen verhindern. Aber die militärische Konfliktregelung durch die NATO beschleunigte wenigstens die Beendigung des Krieges und den Friedensschluss. Infolge dieser Aktion wurde eine ehemalige jugoslawische Republik aufrechterhalten, die ansonsten - zumindest in den alten Grenzen - nicht mehr existieren würde. Hinsichtlich der Zielsetzung, die Flüchtlinge zurückzuführen und ihnen ihr Eigentum zu restituieren, war hingegen der Erfolg gering. Das Gleiche gilt für den beabsichtigten Aufbau von Strukturen eines gemeinsamen Staates und für die Etablierung "normaler" politischer, wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse.

Im Kosovo bzw. in Jugoslawien führte die NATO - "selbstmandatiert" - einen Krieg gegen einen souveränen Staat, nachdem Belgrad nicht bereit gewesen war, Forderungen und Ultimaten zu erfüllen, die westlicherseits im Kontext der Verhandlungen von Paris und Rambouillet aufgestellt worden waren. Das vorrangige Ziel war, die serbische Führung zur Beendigung eines Genozids und eines Bürgerkrieges zu zwingen.

Erreicht wurde, dass der Bürgerkrieg nach zweieinhalb Monaten Bombardement beendet und ein Großteil der Flüchtlinge zurückgeführt wurde sowie die Rechte der Albaner im Kosovo wieder hergestellt wurden. Darüber hinaus beeinträchtigte der vor allem aus der Luft geführte Krieg die militärische Macht Jugoslawiens in erheblichem Maße. Allerdings war das militärische Vorgehen der NATO zum Teil kontraproduktiv sowohl unter militärischen und humanitären als auch politischen Aspekten. Durch die Beschränkung der Kriegführung aus der Luft konnten anfangs die "ethnischen Säuberungen" nicht nur nicht eingedämmt werden, sondern das Morden und die Vertreibungen wurden noch erheblich intensiviert. Partiell hatten unter dem Krieg Bevölkerungsteile zu leiden, die für die Konfliktentwicklung im Kosovo nicht verantwortlich waren. Darüber hinaus gelang es nicht, jene "ethnischen Säuberungen" zu beenden, die nach dem Krieg unter anderen Vorzeichen - nämlich gegen die Serben im Kosovo - unter den Augen der NATO fortgesetzt wurden. Auch die vorgesehene Entwaffnung der UCK gelang nur partiell.

Die militärische Konfliktregelung in Makedonien ("Essential Harvest") erfolgte zwar ohne UNO-Mandat, war aber einer klassischen Peace-keeping-Aktion der Vereinten Nationen sehr ähnlich: Die NATO agierte auf Einladung der makedonischen Regierung bzw. des Präsidenten und unter Zustimmung aller relevanten Konfliktparteien. Die politische Basis war ein Waffenstillstand und ein Abkommen über den Modus der Regelung strittiger Fragen zwischen den Konfliktparteien. Die NATO sollte die Umsetzung des Abkommens gewährleisten helfen, indem sie einen sachlich und zeitlich eng begrenzten Auftrag durchführte: die freiwillige Entwaffnung einer Konfliktpartei. Nach Abschluss dieser Aktion (22. August bis 23. September 2001) wurde die Fortführung veranlasst, wobei die Basis weiterhin eine Art "Peace-keeping-Auftrag" ("Amber Fox") darstellt: Schutz der zivilen Beobachter und Beauftragten von Europäischer Union und OSZE.

IV. Funktionen militärischer Krisenregelung in Bezug auf ordnungs- bzw. staatsrechtliche und territoriale Politik

Die Interessen und Ziele, die mit einem militärischen Krisenmanagement verbunden werden, sind vielfältig und überschneiden einander. Neben Detailzielen, die sich aus der Umsetzung militärischer Maßnahmen in spezifischen Kontexten ergeben, spielen folgende allgemeinere Faktoren eine Rolle:

- Abwehr von Angriffen;

- Vermeidung von Krieg;

- Vermeidung von Vertreibung und Migration;

- Wahrung von "Stabilität";

- Wahrung, Wiederherstellung oder Schaffung einer regionalen Ordnung;

- Nachhaltige Beeinträchtigung militärischer und anderer Kapazitäten von Kräften, die dieses Stabilitätsinteresse negieren;

- Eingehen auf die öffentliche Meinung, die über den viel zitierten ,,CNN-Faktor mobilisiert und sensibilisiert ist;

- "Power projection";

- Erhalt der Glaubwürdigkeit westlicher oder internationaler Institutionen;

- Vergeltung (dies spielte nicht nur nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine Rolle; Vaclav Havel sprach dieses Motiv während des Krieges 1999 gegen Jugoslawien offen aus: Die militärische Aktion sei nicht nur Konsequenz aktueller Ereignisse, sondern Milosevic bekomme nun die Rechnung für seine Politik in den vergangenen zehn Jahren präsentiert).

Neben positiven Konsequenzen, die aus der militärischen Konfliktregelung resultieren, ist mit Blick auf die Zielsetzungen auch die partielle Kontraproduktivität zu erörtern, die ihr innewohnt. Schon die Anerkennung Kroatiens in den bestehenden Grenzen war ein Movens in der Entfesselung des Krieges zwischen Serbien und Kroatien wie auch in der bosnisch-herzegowinischen Bürgerkriegsentwicklung. Die westlicherseits betriebene militärische Konfliktregelung zugunsten der entstehenden Republiken und damit die Durchsetzung von Partikularansprüchen einzelner Eliten motivierte in einer Kettenreaktion andere politische Eliten, ebenfalls zu versuchen, die westliche militärische Konfliktregelung für ihre Interessendurchsetzung zu instrumentalisieren.

Das Eingreifen zugunsten Bosnien-Herzegowinas gegen die Wünsche der bosnischen Serben und Kroaten und gegen die politischen Führungen in Belgrad und Zagreb wurde von den albanischen Eliten im Kosovo wie eine Aufforderung dahingehend interpretiert, mit Gewalt eine analoge Entwicklung herbeizuführen. Die Entwicklung im Kosovo nach dem Dayton-Abkommen 1995 war somit - nicht nur, aber auch - Konsequenz westlicher Politik und westlichen militärischen Eingreifens.

Das Gleiche gilt für die Krisenentwicklung und die militärischen Auseinandersetzungen in Makedonien: Der von der bewaffneten Untergrundbewegung UCK bzw. den Albanern als Sieg der albanischen Sache und als Schritt auf dem Weg zur Lösung der "albanischen Frage" verstandene "Sieg" im Kosovo motivierte erst die bis dahin relativ kooperativ und partizipativ in Makedonien agierenden albanischen Eliten zu einer Radikalisierung. Ein Teil nahm nun seinerseits den bewaffneten Kampf um die "Rechte des albanischen Volkes" auf. Der Zulauf, den die nach dem erfolgreichen kosovarischen Vorbild UCK genannte "Befreiungs-Armee" auch in Makedonien gerade von jungen Menschen erhielt, verschärfte den Druck auf die albanischen "Mehrheitsparteien", ebenfalls mit radikalen Parolen und Mitteln um ihre Klientel zu werben.

Die militärische Konfliktregelung gerät insofern in ein Dilemma, als sie Teil einer Politik ist, die zu den politischen oder militärischen Ansprüchen auf Nation-building in Südosteuropa in Widerspruch steht: Während NATO und EU aus nachvollziehbaren Gründen den territorialen Status quo wahren und die bestehenden Grenzen nicht in Frage gestellt sehen wollen, wollen weite Teile der Eliten in Südosteuropa die Chance des Zusammenbruchs Jugoslawiens zur Vollendung ihres bisher in eigener Sicht nicht abgeschlossenen Nation-building nutzen. Dieses Interesse wesentlicher Teile der politischen Eliten in Ex-Jugoslawien bedingt den Versuch, entweder die territorialen Grenzen entlang der ethnischen Grenzen neu zu ziehen oder für einen Erhalt der territorialen Grenzen zu kämpfen, wenn "fremde" Ethnien im eigenen Land Selbstständigkeit, Autonomie oder Unabhängigkeit verlangen. Demgegenüber setzen NATO und EU in Südosteuropa aus der Position der Unveränderbarkeit von Grenzen ordnungspolitisch auf funktionierende multikulturelle und multinationale Gesellschaften.

Die Folgen dieses Widerspruchs zwischen intendierter Grenzveränderung und territorialem Status quo diktieren bestimmte Notwendigkeiten und Formen militärischer Konfliktregelung durch die NATO. In Bosnien-Herzegowina z. B. wurde eine staatliche Konstruktion etabliert, die von zwei der drei dort lebenden ethnischen Gruppen nicht gewünscht wird. Die Aufrechterhaltung dieser Konstruktion wird nur durch die Einrichtung eines Protektorats und einer dauerhaften militärischen Präsenz erreicht und gewährleistet.

Im Kosovo wurde entgegen den Intentionen der NATO das auf staatliche Unabhängigkeit zielende Emanzipationsstreben der Albaner gefördert und de facto eine Abtrennung der Provinz von Serbien bzw. Jugoslawien bewerkstelligt. Gleichzeitig versuchen NATO und EU - ausgehend vom Prinzip der territorialen Integrität - eine von den albanischen Eliten gewünschte Sezession und die vollständige Unabhängigkeit von Jugoslawien zu verhindern. Auch dies gelingt nur mit Hilfe der Subordination der Provinz unter einen De-facto-Protektorats-Status und einer dauerhaften militärischen Präsenz.

Ebenso ist in Makedonien zur Aufrechterhaltung des territorialen Status quo und eines albanisch-slawischen Kompromisses die militärische Konfliktregelung unabdingbar. Noch während der Waffeneinsammelaktion "Essential Harvest" mahnten NATO-Politiker aufgrund fortgesetzter bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen makedonischen Sicherheitskräften und albanischen Rebellen eine dauerhafte Präsenz an. Damit ist Makedonien der nunmehr dritte - und nimmt man die Präsenz in Kroatien und Albanien hinzu: der fünfte - Stationierungsort für NATO-Streitkräfte auf dem Balkan.

Je nachdem, ob man die westliche Politik für ethisch, humanitär, politisch und völkerrechtlich mehr oder weniger als sinnvoll erachtet, legitimieren sich die militärische Krisenregelung und die mit ihr verfolgten Ziele sowie ihre Konsequenzen mehr oder weniger: Unter der Voraussetzung, dass Nichtkrieg sowie das Ziel der Aufrechterhaltung des territorialen Status quo in Verbindung mit der Errichtung multinationaler Gesellschaften mit multinationalen staatsrechtlichen und Verfassungskonstruktionen für sinnvoll bzw. vorrangig erachtet wird, legitimiert sich die ordnungspolitische Funktion der militärischen Konfliktregelung durch die NATO. Wird jedoch das Selbstbestimmungsrecht der Völker als eine Voraussetzung für eine innere Legitimation bestehender Staaten und gesellschaftlicher Systeme - und hierüber für Frieden, Kooperation und Sicherheit in der Region - angesehen, perpetuiert militärische Konfliktregelung einen Zustand, der z. B. für die albanische Bevölkerung seit mehr als 100 Jahren anhält und in dieser Zeit immer wieder von neuem zum Kampf um Selbstbestimmung, Nation und Territorium geführt hat.

Die militärische Krisenregelung ist zu einer Bedingung für die Durchsetzung westlicher ordnungspolitischer Vorstellungen geworden. Aufgrund der Interessendivergenz zwischen den westlichen Trägern militärischer Konfliktregelung und größeren Teilen von Eliten in Ex-Jugoslawien werden NATO und EU zu einer extrem schwierigen Aufgabe gezwungen: zum State-building und zu einer spezifischen Form des multikulturellen Nation-building. Am weitgehendsten ist diese Aufgabenstellung in Bosnien-Herzegowina. Hier bedingt die über militärische Konfliktregelung herbeigeführte staatsrechtliche Situation, dass NATO, EU, OSZE, UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds und eine große Zahl weiterer Akteure unter präzedenzlosem Mitteleinsatz einen funktionierenden Staat zu konstruieren versuchen. Der Erfolg ist bisher äußerst bescheiden; d. h., der militärischen Konfliktregelung wohnt in der gegebenen Lage eine Tendenz zur sich selbst induzierenden Expansion sowie zu Weiterungen inne, die weit über das Ziel der Gewalteindämmung hinausgehen.

Die Benennung dieser Konsequenzen heißt nicht, dass "zivile" Alternativen zur militärischen Konfliktregelung problemlos wären. Der Verzicht auf militärisches Eingreifen führt zu anderen negativen Folgen, deren Konsequenzen und Kosten von NATO und EU für noch nachteiliger gehalten werden als jene, die jetzt in Kauf genommen werden.

Sinnvoll wäre für die in Südosteuropa ungelösten Probleme des Nation-building die "tschechoslowakische Lösung": eine einvernehmliche Trennung - friedlich und für beide Seiten letztlich produktiv. Die Separation der Slowakischen von der Tschechischen Republik war die Voraussetzung für die Gewinnung innerer Legitimität in beiden Gesellschaften; sie wirkt sich positiv auf die Entwicklung von Marktwirtschaft und Demokratie aus, ist die Basis für eine kooperative und gedeihliche Zusammenarbeit zwischen den beiden jetzt selbstständigen Völkerrechtssubjekten und beschleunigt solcherart auch die Integration beider Länder in europäische Institutionen.

Da eine "tschechoslowakische Lösung" jedoch weder für Bosnien-Herzegowina noch für Kosovo, noch für Makedonien in Sicht ist, bleibt nur die Absicherung der Situation des Nichtkriegs und der fragilen staatlichen Konstruktionen durch militärische Konfliktregelung mit den genannten Folgen des teilweise von den heimischen Eliten gar nicht gewünschten State-building - oder der Bürgerkrieg.

V. Funktionen der Übernahme militärischer Krisenregelung für die und Auswirkungen auf die NATO

1. Aufwertung des militärischen Faktors

Während die militärische Konfliktregelung in Südosteuropa direkt funktional und instrumentell auch als "ordnungspolitischer" Faktor verstanden wird, sind die NATO-internen Veränderungen, die sich aus der Entwicklung der militärischen Konfliktregelung und den damit verbundenen Anforderungen ergeben, mehr indirekter Natur. Die Übernahme militärischer Konfliktregelung durch die NATO sowie die politische und strategische Bedeutung, die diese militärischen Einsätze aufweisen, zeigen generell eine Aufwertung des militärischen Faktors sowie militärischer Allianzen in der internationalen Politik gegenüber nur zivilen Formen der Konfliktregelung sowie internationalen Institutionen wie UNO und OSZE. Dies kommt auch in der Kompetenzzuweisung zum Ausdruck, welche die NATO für sich im neuen Strategischen Konzept vornimmt und die über die bisherigen Aufgaben weit hinausreichen, sowie in der Eigenbeschreibung bezüglich ihrer herausragenden Stellung im Kreis sonstiger Institutionen für die europäische Sicherheit.

Diese Entwicklung folgt einer Logik: Der De-facto-Militarisierung von Entwicklungen in Teilen Europas folgt die Aufwertung des Militärischen in der Politik und im institutionellen Gefüge. Der auch dadurch bedingte Einflussverlust der Vereinten Nationen wird u. a. durch die völkerrechtliche Interpretation der NATO bei ihrem militärischen Eingreifen in Kosovo bestätigt: Sie demonstriert die Absicht der Allianz, in von ihr für notwendig gehaltenen Fällen die dem Sicherheitsrat zugeordneten Kompetenzen in der Frage militärischer Maßnahmen gegen einen souveränen Staat selbst zu beanspruchen.

Zum Teil zeigt sich indes umgekehrt in der NATO mit der Übernahme von bisher der UNO vorbehaltenen Funktionen auch die Tendenz zu einer "UNOisierung". Mit Blick auf "Essential Harvest" wurde nach den Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo sowie aufgrund der Belastungen, welche die eingegangenen Verpflichtungen mit sich bringen, von Beginn an restriktiv die Frage gestellt und beantwortet, unter welchen Bedingungen ein militärisches Engagement sinnvoll eingegangen werden kann. Für die Truppenentsendung nach Makedonien wurden Kriterien und ganz ähnliche Konditionen formuliert, wie sie in der Regel Basis von UNO-Blauhelmeinsätzen darstellen. Allerdings war die NATO im August 2001 auch in der günstigen Lage, das Mandat für die militärische Konfliktregelung so restriktiv formulieren zu können.

2. NATO-interne Differenzierung

Die Konstellation einseitiger sicherheitspolitischer und militärischer Abhängigkeit Europas von den USA auf einer breiten Basis kongruenter Interessen in der Zeit des Kalten Krieges hat sich mit dem Ende von Sowjetunion und Warschauer Pakt verändert. Verstärkt findet jene Interessen- und Politikdifferenzierung statt, die sich bereits in den sechziger Jahren angekündigt hatte und vor allem in den siebziger und achtziger Jahren stärker geworden war. Eine NATO-interne Differenzierung und Regionalisierung in der Sicherheitspolitik ist nicht zuletzt im Kontext der seit den neunziger Jahren praktizierten militärischen Konfliktregelung in Europa festzustellen. Diese Differenzierung geht in drei Richtungen:

Erstens folgt aus den neuen Gegebenheiten und den für notwendig erachteten Reaktionen militärischen Handelns das Bemühen wichtiger europäischer NATO-Mitglieder, eigenständigere Definitions- und Entscheidungskompetenzen sowie eine größere Selbstständigkeit im Gebrauch militärischer Kapazitäten zu erlangen. Dies drückt sich vor allem im Bemühen um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) sowie eine Formierung militärischer Kapazitäten aus, die von der Europäischen Union bzw. von europäischen NATO-Ländern genutzt werden können. Dem entspricht eine Divergenz in der beabsichtigten geographischen Zielrichtung militärischer Konfliktregelung, der voneinander abweichende Interessen zugrunde liegen: Während die USA entsprechend ihrem Supermachtstatus und -anspruch die NATO stärker auf Konfliktregelung zur Wahrnehmung "globaler" bzw. westlicher Interessen weltweit ausrichten wollen, tendieren die Europäer zu einer Konzentration der NATO-Kapazitäten auf die Regelung europäischer Konflikte.

Im Prinzip dürften daran auch der 11. September 2001 - die Terroranschläge auf New York und Washington - sowie der "Krieg gegen den Terror" nichts ändern, obschon zu vermuten ist, dass die "internationale Komponente" der USA eine Bestätigung erfährt. Einerseits liegt die NATO-interne "Multipolarisierung" in der Logik der europäischen Krisenentwicklung, die einen neuen Regelungsbedarf erzeugt. Paradox ist diese "Multipolarisierung" andererseits allerdings insofern, als sie aus den bisherigen Erfahrungen mit der dominanten Position der USA bei der militärischen Krisenregelung resultiert. Denn diese Suprematie in militärischen Belangen hat in doppelter Hinsicht die Abhängigkeit der europäischen NATO-Partner von den USA verdeutlicht: a) die Dependenz der Entscheidung, ob bzw. in welcher Form militärische Krisenregelung erfolgt, von den jeweiligen innenpolitischen Konstellationen in Washington, und b) daraus folgend die defizitäre Steuerungskapazität der Europäer bei der operativen Durchführung der militärischen Krisenregelung, über deren Verlauf derjenige bestimmt, der die militärische Führung innehat.

Insofern war der Kosovo-Krieg, in dem nach kurzer Zeit die Entscheidungen - von den Zielen politischer und militärischer Art bis hin zu operativen Details - nicht mehr in Brüssel, sondern in Washington getroffen wurden, nicht nur eine Demonstration US-amerikanischer Führungsqualität. Dieser Krieg war gleichzeitig ein Katalysator für Denk- und Handlungsanstöße, die kurz darauf und in größerer Intensität als zuvor auf eine eigenständigere, von den USA nicht mehr so abhängige "europäische Verteidigungsidentität" zuliefen. Indirekt hat also das militärische Krisenmanagement in Ex-Jugoslawien die Funktion wahrgenommen, europäische Streitkräfte auf den Weg zu bringen.

Zweitens zeigt der Entscheidungsprozess bezüglich der militärischen Konfliktregelung in Ex-Jugoslawien eine Binnendifferenzierung in der NATO. Die Entscheidungen werden im Wesentlichen von einer Vierergruppe getroffen: der Supermacht USA und den drei europäischen Großmächten Deutschland, Frankreich und England. Wenn eine dieser Mächte nicht zustimmt, unternimmt die NATO als Gesamtorganisation nichts. Man könnte sagen, dass diese vier Mächte in der NATO eine ähnliche Stellung einnehmen wie die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der UNO, die mit einem Veto-Recht ausgestattet sind.

Darüber hinaus erfolgt, drittens, eine Ausdifferenzierung von Machtpositionen über die Fähigkeit, militärische Kapazitäten für die militärische Konfliktregelung zur Geltung zu bringen. Großbritannien bemüht sich insbesondere, durch Zurverfügungstellung derartiger Leistungen den Anspruch auf eine europäische Führungsposition in der NATO zu unterstreichen. In der Bundesrepublik ist diese Konkurrenz u. a. an der Befürchtung ablesbar, mit den vorhandenen Kapazitäten und der materiellen wie finanziellen Ausstattung der Bundeswehr und den damit bedingten Restriktionen militärischer Handlungsfähigkeit werde man zum "Schlusslicht" unter den wichtigen NATO-Mitgliedern.

Schließlich ist im Verhältnis zwischen den USA und europäischen Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges eine Verschiebung in den wechselseitigen Wahrnehmungen und Erwartungen zu berücksichtigen. Die wichtigsten europäischen NATO-Staaten versuchen, "Herr im eigenen Haus" zu werden, d. h. Kapazitäten aufzubauen, die es ihnen ermöglichen, mit auftretenden Problemen selbstständig, ohne Hilfe von außen, fertig zu werden. Dies spiegelt die vergrößerte Unabhängigkeit und den größeren Handlungsspielraum europäischer Staaten und europäischer Politik wider. Diese Entwicklung wird von den USA im Sinne einer schon lange geforderten Übernahme größerer Verantwortung und größerer Lasten durch die Europäer im Prinzip begrüßt.

Gleichzeitig befürchten die USA, eine vergrößerte sicherheitspolitische und militärische Eigenständigkeit Europas bzw. der europäischen NATO-Mitglieder könnte zu einer Beeinträchtigung der militärischen Hegemonialstellung der USA, ihres Verhältnisses zu anderen Großmächten sowie ihrer globalen Politik führen. In diesem Kontext sind die Vereinigten Staaten bemüht, die militärische Konfliktregelung, die von europäischen Staaten gegebenenfalls auch ohne die USA bewerkstelligt wird (wie z. B. in Makedonien oder bei reduzierter US-Präsenz in Kosovo und Bosnien-Herzegowina), an die NATO-Strukturen und die NATO-Entscheidungsmechanismen zu binden. Dies wird als Garantie gesehen, dass die europäische Politik sich nicht von der US-Außen- und Sicherheitspolitik abkoppelt und US-Interessen zuwiderläuft.

3. Militärische Konfliktregelung und transatlantisches Verhältnis nach dem 11. September 2001

Die militärische Konfliktregelung ist seit dem Ende des Kalten Krieges und der Bipolarität sukzessive zu einem "normalen" Instrument der Politik geworden, und zwar in ganz verschiedenen Zusammenhängen, Funktionen und Formen. Drei Prämissen hatte dieser Prozess: Erstens ist er bedingt durch die neuen Gefährdungslagen und Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges (sicherheitspolitische Bedingung). Zweitens setzte er den Willen der NATO-Mitglieder voraus, die Organisationen auf diese neuen Gegebenheiten einzustellen und auszurichten (identitäre Bedingung). Drittens schließlich waren die Übernahme solcher Funktionen in der Praxis und das militärische Krisenmanagement außerhalb des bisherigen NATO-Einsatzgebietes, außerhalb von Art. 5 des NATO-Vertrags und außerhalb der Beschlussfassung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen möglich geworden durch die Konkurrenzlosigkeit der Macht der NATO (und vor allem der USA), die aus der Implosion der Sowjetunion und des Warschauer Pakts resultierte (machtpolitische Bedingung).

Dass das militärische Krisenmanagement sich gleichzeitig mit der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit der NATO-Staaten mit einer spezifischen Definition von Gefährdung, und in diesem Zusammenhang (artikulierten oder nicht artikulierten) Interessen verbindet und bestimmten ordnungspolitischen Vorstellungen folgt, ist evident. Mit dem Ende der sowjetischen Herrschaft ist in Europa wie international ein Machtvakuum entstanden. Eine neue Konkurrenz und ein neuer Wettlauf um jene Ressourcen und Macht haben eingesetzt, die durch den Zerfall des sowjetischen Reiches freigesetzt worden sind. Die USA und ihre Verbündeten verfügen über die größten ökonomischen, politischen, militärischen und kulturellen Potenziale, um in diese Auseinandersetzung einzugreifen. Zugleich ist diese Auseinandersetzung auch von einer verstärkten Konkurrenz unter den Beteiligten wie auch zwischen den Wirtschaftsgiganten USA/NAFTA und Europäische Union geprägt.

Wie nicht zuletzt der 11. September 2001, aber eben schon zuvor insbesondere Jugoslawien, Irak, Somalia u. a. gezeigt haben, besteht gleichzeitig eine andere Konsequenz postbipolarer Verhältnisse in einer Teilanarchisierung des internationalen Beziehungssystems sowie einer Dezentralisierung und "Privatisierung" von Gewalt. Die NATO hat in diesem Prozess seit 1991 mehr und mehr Aufgaben zugewiesen bekommen und ihr militärisches Krisenmanagement ausgeweitet. Die diesbezüglichen Grenzen der Organisation sind noch nicht genau erkennbar; die Funktionsbestimmung befindet sich noch im Fluss. Prinzipiell aber dürfte ihre Reichweite wie in der Vergangenheit dort liegen, wo sich eine Gemeinsamkeit der Mitglieder in der militärisch notwendigen Abwehr von Gefahren ergibt. Versuche dieser oder jener Seite, die NATO für partikulare Zwecke zu instrumentalisieren, sind in der Geschichte der Organisation nicht besonders erfolgreich gewesen.

In spezifischer Weise kam der letztgenannte Sachverhalt im weltweiten Antiterrorkampf nach den Terroranschlägen von New York und Washington zum Ausdruck. Zwar rief die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags aus und versicherte damit den USA, dass die Anschläge als ein Angriff auf alle Allianzmitglieder und dementsprechend als gemeinsamer Verteidigungsfall erachtet werden. Realiter blieb die Aktivität der NATO im Wesentlichen auf diese Deklaration beschränkt. Die Beteiligung von Streitkräften der Bündnispartner der Vereinigten Staaten am Krieg gegen Afghanistan und an anderen militärischen Aktivitäten erfolgte auf bilateraler Basis nach den Vorgaben aus Washington, nicht aus Brüssel. Man kann in diesem Zusammenhang von einer regelrechten Marginalisierung der NATO sprechen, die führende russische Politiker zu der Bemerkung veranlasste, die USA arbeiteten in der Antiterrorkampagne erheblich besser mit Moskau zusammen als mit den meisten ihrer europäischen Alliierten.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde gegenüber der Allianz ein ähnliches Verhältnis sichtbar, wie es Washington seit jeher gegenüber den Vereinten Nationen aufweist: Im Zweifelsfall wird einer nicht durch irgendwelche Restriktionen eingeschränkten Unilateralität der Vorzug gegeben. So wenig sich Washington durch etwaige Beschlüsse des VN-Sicherheitsrates in der Planung und Durchführung des Afghanistankrieges Einschränkungen auferlegen lassen wollte, so wenig sollte dies (auch mit Blick auf weiter gehende Zielsetzungen, z. B. in Bezug auf Irak) durch die NATO erfolgen. Gleichzeitig wurden damit nicht nur die militärischen Diskrepanzen zwischen der westlichen Vormacht und ihren europäischen Partnern, sondern auch die politischen Differenzen deutlich.

Somit kann die erstmalige Ausrufung des Bündnisfalles im Kontext der Divergenzen hinsichtlich der Perzeptionen, Analysen und Strategien im Kampf gegen den Terrorismus und seine Ursachen durchaus zu einer (nach dem Kosovo-Krieg 1999) weiteren Verstärkung des Trends zur Europäisierung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Anstrengungen auf dem Alten Kontinent führen. Dies dürfte umso mehr der Fall sein, als die Unterschiedlichkeit des Interesses Washingtons an einer NATO als Instrument US-amerikanischer Globalstrategie einerseits und andererseits des Interesses eines Großteils der europäischen Bündnispartner an einer eher auf Europa bezogenen Sicherheitsfunktion der Allianz wohl bestehen bleibt, möglicherweise sogar durch abweichende Politiken und Kalküle im Zuge des Kampfes gegen den transnationalen Terror noch akzentuiert wird.

Evident ist aber auch, dass die Übereinstimmung von Werten und Interessen zwischen den USA und den europäischen Staaten auch weiterhin den beiderseitigen Wunsch und das gemeinsame Anliegen der Aufrechterhaltung der NATO und ihrer Funktionsfähigkeit bedingt. Die Europäer wissen, dass sie u. a. in der Sicherung der Versorgung insbesondere mit Erdöl von den globalen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten abhängig sind. Sie wissen auch, dass im Ernstfall - wie z. B. im Kosovo - ohne Engagement der USA der Versuch eines europäischen Krisenmanagements wirkungslos bliebe. Ebenso klar ist, dass die USA politisch wie militärisch in einem wesentlichen Maße das Rückgrat der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperations- und Integrationsbereitschaft europäischer Staaten darstellen. Zumindest auf mittlere Frist ist dieser Hintergrund auch die Voraussetzung für die eminent wichtige Sicherheitsfunktion, welche die Allianz als kollektives System für Europa wahrnimmt. Gerade im Zuge der mit hohen Risiken und Spannungen behafteten Transformation Nordost-, Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas und darüber hinausgehend ganz Europas ist die NATO durch die Integration und Kooperation mit dem postkommunistischen Teil des Kontinents inklusive Russlands ein herausragendes Instrument sicherheitspolitischer Stabilität.

Das weiß man auch in Washington, und dieses Stabilitätsinteresse teilen die europäischen Staaten und die USA. Die USA sind sich ebenso der Tatsache bewusst, dass sie potente Bündnispartner brauchen, weil sie die Vielzahl regionaler und globaler Probleme, die nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung auftreten, nicht allein bewältigen können - wie instrumentell ihr Verhältnis zu diesen Partnern auch sein mag. Europa bleibt solcherart ein wichtiger Produzent von Sicherheit für die USA, und die NATO ist für die USA auch weiterhin ein wesentlicher "Transmissionsriemen" ihres Einflusses auf Europa, das sich in der Perspektive Washingtons vor allem politisch und militärisch nicht von einem strategischen Partner zu einem strategischen Konkurrenten entwickeln soll.

Bei aller Differenzierung und Multipolarisierung, verschärfter politischer Auseinandersetzung und Veränderung von Aufgabenstellungen und Strukturen innerhalb der NATO ist also davon auszugehen, dass nicht nur aus "integrationistischer", sondern auch aus interessenbedingter "realistischer" Perspektive auf absehbare Zeit die Führungsrolle der USA nicht in Frage gestellt wird und die Allianz - wenn schon in modifizierter Form - weiterhin Bestand hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesem Sinne wird nachfolgend der Begriff "Ordnungspolitik" verwendet: Damit ist das politische Bemühen und Handeln gemeint, bestimmte politische Vorgaben und Rahmenbedingungen (z.ÄB. territorialer, staatsrechtlicher, sicherheitspolitischer, gesellschaftspolitischer, makroökono"mischer Art) zu setzen.

  2. Vgl. Das neue strategische Konzept der NATO vom 24. April 1999, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1999, Nr. 24, S. 222Äff.

  3. Vgl. Fouzieh Melanie Alamir, Das strategische Konzept der NATO, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2000) 4, S. 436-444. Zur Wandlung des NATO-Konzepts vgl. Peter Schneider, The Evolution of NATO: The Alliance"s Strategic Concept and its Predecessors, 1945-2000, Monterey 2000. Zur Entwicklung der NATO in den neunziger Jahren vgl. Johannes Varwick/Wichard Woyke, NATO 2000. Transatlantische Sicherheit im Wandel, Opladen 1999.

  4. Vgl. Gustav Däniker, Wende Golfkrieg. Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte, Frankfurt/M. 1992.

  5. Zu Dayton und IFOR vgl. Pauline Neville-Jones, Dayton, IFOR and Alliance Relations in Bosnia, in: Survival, (1996/97) 4, S. 45-65, sowie Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Friedenstruppe KFOR. Hintergrundinformation zum Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft im Kosovo und zur Beteiligung der Bundeswehr, Bonn 2000.

  6. Vgl. August Pradetto, Die NATO kann bei diesem Mandat von Glück reden, in: Frankfurter Rundschau vom 28. 8. 2001, S. 7.

  7. Vgl. NATO, Invocation of Article 5 confirmed, NATO-Pressemitteilung vom 2. Oktober 2001; http://www.nato.int/docu/update/2001/1001/e1002a.htm, am 17. 5. 2002. Zum Wortlaut des Artikels 5 des Nordatlantik-Abkommens siehe http://www.nato.int/docu/basictxt/treaty.htm#Art05, am 17. 5. 2002.

  8. Zu rechtlichen, völkerrechtlichen und rechtsethischen Aspekten des Vorgehens der NATO im Kosovo siehe Ortwin Buchbender/Gerhard Arnold (Hrsg.), Kämpfen für die Menschenrechte. Der Kosovo-Konflikt im Spiegel der Friedensethik, Baden-Baden 2002; Dieter S. Lutz (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg. Rechtliche und rechtsethische Aspekte, Baden-Baden 2000.

  9. Grundsätzlich zur Zusammenarbeit von Vereinten Nationen und NATO bei Konfliktregelungen durch Peacekeeping vgl. British American Security Information Council (Hrsg.), NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin 1994.

  10. Allerdings trifft das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 22. 11. 2001 die Aussage, dass es sich bei dieser Ausdehnung des Aufgabenspektrums und von Befugnissen um eine politische Beschreibung und Bewertung und nicht um eine Veränderung des Washingtoner Vertrags handele. Anlass war eine Klage der PDS, diesen Veränderungen hätte vom Parlament der Bundesrepublik Deutschland zugestimmt werden müssen. Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. November 2001: Az. 2 BVE 6/99; vgl. im Internet www.bverfg.de/entscheidungen/es20011122_2bve000699 (Stand 18. 12. 2001).

  11. "In fact, adapting to the new European security environment by assuming collective security functions may be the only way NATO can retain its vital collective defense role." Richard H. Solomon, Foreword, in: David S. Yost, NATO Transformed. The Alliance"s New Roles in International Security, Washington 1998, S. ix-xiv, S. xii.

  12. Vgl. Werner Link, Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/99, S. 9-18.

  13. Dies waren auch die Hauptdiskussionspunkte im Vorfeld der Formulierung des neuen Strategischen Konzepts. Vgl. Karl-Heinz Kamp, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: ebd., S. 19-25; David Law/Michael Rühle, Die NATO und des "Out-of-area"-Problem, in: Europa Archiv, (1992) 15-16, S. 439-444.

  14. Vgl. Oliver Dörr, Die Vereinbarungen von Dayton/Ohio, in: Archiv des Völkerrechts, Bd. 35, 1997, Nr. 2, S. 129-180; Wolfgang Petritsch, Bosnien und Herzegowina fünf Jahre nach Dayton, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 40 (2000) 4, S. 297-313.

  15. Zum Kosovokrieg unter militärpolitischen und militärstrategischen Gesichtspunkten vgl. Adam Roberts, NATO"s ,Humanitarian War` over Kosovo, in: Survival, (1999) 3, S. 102-123.

  16. Vgl. Dick Leurdijk/Dick Zandee, Kosovo: >From Crisis to Crisis, Aldershot u.Äa. 2000; Ivo H. Daalder/Michael E. O"Hanlon, Winning ugly. NATO"s war to save Kosovo, Washington 2000; Berthold Meyer/Peter Schlotter, Die Kosovo-Kriege 1998/99. Die internationalen Interventionen und ihre Folgen, Frankfurt/M. 2000; Dieter S. Lutz (Hrsg.), Der Krieg im Kosovo und das Versagen der Politik. Beiträge aus dem IFSH, Baden-Baden 2000.

  17. Vgl. "Amber Fox": NATO-Nachfolgemission in Mazedonien unter deutscher Führung, in: IAP-Dienst Sicherheitspolitik, Nr. 10, Oktober 2001, S. 3.

  18. Zur Entwicklung vor 2001 vgl. Alice Ackermann, The Former Yugoslav Republic of Macedonia. A Relatively Successful Case of Conflict Prevention in Europe, in: Security Dialogue, 27 (1996) 4, S. 409-424. Vgl. Heinz Kluss, Eine neue Sonne der Freiheit über Mazedonien?, in: Europäische Sicherheit, 50 (2001) 9, S. 26-29.

  19. Vgl. August Pradetto, Konfliktmanagement durch militärische Intervention? Dilemmata westlicher Kosovo-Politik (Studien zur Internationalen Politik, Heft 1), Hamburg 1998.

  20. Vgl. Klaus Naumann, Der nächste Konflikt wird kommen. Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, in: Europäische Sicherheit, (1999) 11, S. 8-22.

  21. Vgl. August Pradetto, Moral, Interessen und Machtkalkül in der Außenpolitik-Schlussfolgerungen ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg, in: Frankfurter Rundschau vom 24. 3. 2000, S. 14.

  22. Vgl. Henriette Rügler, Einmal Dayton und zurück. Perspektiven zur Nachkriegsordnung im ehemaligen Jugoslawien, Wien 1999; Ivo H. Froman/Michael B. G. Daalder, Dayton"s incomplete Peace, in: The Journal of international Relations, 78 (1999) 6, S. 106-114; Ilse Baumgartner/Wolfgang Baumgartner, Frieden ohne Zukunft, Zukunft ohne Frieden? Das Ex-Jugoslawien nach dem Friedensabkommen von Dayton, Berlin 1998. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund anderer Misserfolge beim State- und Nation-building z.ÄB. in Kambodscha und Somalia stellt sich die Frage nach den Erfolgsmöglichkeiten einer solchen Aufgabe in Afghanistan. Vgl. August Pradetto, Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanis"tan, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51/2001, S. 24-35.

  23. Kontrovers dazu: Edward Luttwak, Give War a Chance, in: Foreign Affairs, (1999) 7, S. 45-51.

  24. Vgl. Wilfried von Bredow, Renaissance militärischen Denkens? Militärische Gewalt in den internationalen Beziehungen, in: Universitas, (1994) 6, S. 569-578; Hans Voß, Die "Neue NATO" und die Zukunft der OSZE, in: S+F, (1999) 3, S. 172-178; August Pradetto, Nationalstaat und transnationale Organisationen in der europäischen Sicherheitsstruktur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/2000, S. 13-21.

  25. "Unser gemeinsames Ziel ist es, eine europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen . . . Die NATO bleibt das wesentliche Forum für Konsultationen unter den Verbündeten und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheits- und Verteidigungsverpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten nach dem Washingtoner Vertrag auswirken." Teil III, Art. 25 des neuen strategischen Konzepts der NATO vom 24. April 1999. Vgl. Matthias Dembinski, Von der kollektiven Verteidigung in Europa zur weltweiten Intervention? Das neue strategische Konzept, der Kosovo-Krieg und die Zukunft der NATO (= HSFK-Standpunkte 3), Frankfurt/M. 1999.

  26. Vgl. Michael Bothe/Bernd Martenczuk, Die NATO und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt, in: Vereinte Nationen, (1999) 4, S. 125-132; Klaus Naumann, Kosovo - Modell für die Zukunft?; in: Erich Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2000, Hamburg 2000, S. 657-678.

  27. Vgl. Philip H. Gordon, Recasting the Atlantic Alliance, in: ders. (Hrsg.), NATO"s Transformation. The Changing Shape of the Atlantic Alliance, London 1997, S. 11-37.

  28. Vgl. Karl-Heinz Kamp, Die NATO nach Kosovo: Friedensengel oder Weltpolizist?, in: E. Reiter (Hrsg.) (Anm. 27), S. 709-723; Hans-Ulrich Klose, Die Europäer auf der Suche nach einem eigenen Weg - Interessenkollision mit den USA?, in: Europäische Sicherheit, 50 (2001) 9, S. 7-11.

  29. Man erinnere sich der Klagen, die z.ÄB. der deutsche Verteidigungsminister bezüglich der "unzureichenden Informationspolitik der USA" während des Krieges gegen Jugoslawien äußerte.

  30. Vgl. Otto Pick, Nato, European Defense and the Lessons of Kosovo, in: Perspectives, (1999) 13, S. 5-10.

  31. Eine Parallelität zur UNO ist auch in Bezug auf die Unilateralität - vor allem der USA - sichtbar, wie die Marginalisierung der NATO im Afghanistankrieg nach dem 11. September 2001 und die Bilateralisierung des Verhältnisses zwischen den USA und den NATO-Mitgliedern in dieser Situation beweist.

  32. Vgl. Verteidigungshaushalt 2002 - Keine Verbesserung für die Bundeswehr, in: IAP-Dienst Sicherheitspolitik, Nr. 9/September 2001, S. 4Äf.

  33. Vgl. August Pradetto, Zurück zu den Interessen. Das Strategische Konzept der NATO und die Lehren des Krieges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1999) 7, S. 805-815.

  34. Vgl. H.-U. Klose (Anm. 29).

Dr. phil., geb. 1949; Professor für Politikwissenschaft am Institut für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

Anschrift: Universität der Bundeswehr Hamburg, 22043 Hamburg.
E-Mail: august.pradetto@unibw-hamburg.de

Veröffentlichungen u. a.: Ostmitteleuropa, Russland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit, Opaden 1997; Die Debatte über die Kosten der NATO-Osterweiterung, Baden-Baden 1998; Eliten in postkommunistischen Ländern: Die neue Generation von Präsidenten. Studien zur Internationalen Politik, Hamburg 2000.