Einleitung
In der Folge des 11. September 2001 als transformativem Moment für die amerikanische Außenpolitik haben sich einige der Strukturprobleme in den transatlantischen Beziehungen eher verschärft als verringert. Denn vor dem Hintergrund einer erhöhten Wahrnehmung asymmetrischer Bedrohungen gelang es der auf überlegene militärische Macht und uneingeschränkte Handlungsfreiheit setzenden Denkschule, den außenpolitischen Diskurs zu dominieren. Je stärker diese hegemoniale Richtung die Politik der Bush-Administration bestimmen wird - und in etlichen Bereichen hat sie es bereits getan -, desto mehr wird dies zu einer wachsenden strategischen Divergenz zwischen USA und Europa führen.
I. Der 11. September als transformatives Moment für die amerikanische Außenpolitik
Der 11. September wirkte im doppelten Sinne als "transformatives Moment"
Zweitens - und dies ist der andere Aspekt der Rede vom "transformativen Moment" - eröffnet die globale Bedrohung durch den Terrorismus, der mit den Anschlägen des 11. September zu einer strategischen Herausforderung wurde, die politische Chance für eine strategische Neuausrichtung der amerikanischen Weltpolitik und der internationalen Beziehungen weit über die Bekämpfung des Terrorismus hinaus: "how do you capitalize on these opportunities" - so lautete die Frage, die Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice ihren Mitarbeitern im NSC vorlegte.
Jetzt sehen sich die USA in einem lange währenden "Krieg" nicht nur gegen terroristische Organisationen, sondern auch gegen jene "Terrorstaaten", welche die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten mit Massenvernichtungswaffen bedrohen könnten.
Mit diesem Programm und dieser Sicht der terroristischen Bedrohung übernahm der Präsident das Paradigma jener Befürworter einer hegemonialen, in der Tradition Reagans sich sehenden, auf "militärische Stärke und moralische Klarheit" setzenden globalen amerikanischen Führungsrolle, die als beste Garantie für ein stabiles internationales System angesehen wird.
Doch ist keineswegs gewiss, ob der 11. September den "innenpolitischen" Kontext amerikanischer Außenpolitik derart tief greifend verändert hat, dass die hegemoniale Richtung sich mit ihren Vorstellungen dauerhaft durchsetzen kann. Die geradezu alarmistische Sprache, derer sich Präsident Bush bedient, die Rede von einer ungeheuren Bedrohung auf lange Sicht, die eine immense Steigerung des Militärhaushaltes erfordere - all dies dient gegenwärtig einer permanenten Mobilisierung und der innenpolitischen Absicherung amerikanischer Weltpolitik.
Gewiss hat der 11. September ein zuvor innenpolitisch nicht durchsetzbares massives Rüstungsprogramm ermöglicht; das meiste, etwa die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge und Zerstörer, hat mit der Bekämpfung des Terrorismus wenig zu tun. Es handelt sich um Waffensysteme, die gebraucht werden, wenn eine andere Militärstreitmacht bekämpft werden soll.
II. Eher Akzentuierung als Abschwächung der Strukturprobleme in den transatlantischen Beziehungen
Trotz der Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben der 11. September und seine Folgen einige der Strukturprobleme im transatlantischen Verhältnis eher akzentuiert und verschärft als verringert. Lässt man die wirtschaftlichen Beziehungen beiseite, die hier nicht Gegenstand sind, so können drei solcher strukturellen Probleme identifiziert werden. Ihr Konfliktpotenzial war auch schon vor dem 11. September deutlich zu erkennen.
1. Wertedifferenz
Erstens handelt es sich um Wertekonflikte innerhalb eines Beziehungsgefüges, das aufgrund der Intensität der gesellschaftlichen Beziehungen, des Bestandes gemeinsamer liberal-demokratischer Werte und der institutionalisierten Kooperationsmechanismen mit einigem Recht als "atlantische Gemeinschaft" bezeichnet werden kann.
In vielen Bereichen lässt sich zwar eine Amerikanisierung europäischer Gesellschaften und Staaten erkennen; doch unterscheiden sich die USA in zwei wesentlichen Punkten von anderen westlichen Demokratien: Dies ist zum einen der amerikanische Wertekanon mit seinem ausgeprägt individualistischen Freiheitsverständnis, wie er in einer Gesellschaft ohne frühere feudale und aristokratische Strukturen und vor dem Hintergrund einer spezifischen Form voluntaristischer religiöser Gemeinschaften ohne Hierarchie sich entwickelte. Dies ist zum anderen das auf dem Prinzip verschränkter Gewalten beruhende Regierungssystem mit einer außergewöhnlich starken, für gesellschaftliche Interessen überaus offenen Legislative. Dieser amerikanische Exzeptionalismus mit seinem starkem Hang zu einem religiös geprägten Moralismus macht den Umgang mit den Vereinigten Staaten nicht einfacher. Das gilt zumal, wenn die USA sich in einem "gerechten Krieg" gegen den Terrorismus sehen.
2. Machtasymmetrie
Zweitens ist die strukturelle Asymmetrie zwischen USA und Europa zu nennen, die sich aus der großen Disparität in den militärischen Machtressourcen ergibt. Während im wirtschaftlichen Bereich eine Machtsymmetrie zwischen USA und EU besteht, sind die USA militärisch tatsächlich die alleinige Supermacht. Nicht mehr länger sind die Bemühungen der Europäer, dieses Machtgefälle durch den Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auszugleichen, das vorrangige Problem für die transatlantischen Beziehungen, sondern der Relevanzverlust der NATO für eine flexible, funktionale Koalitionen in den Mittelpunkt stellende amerikanische Weltpolitik.
Die Asymmetrie im sicherheitspolitischen Bereich führte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu den Bemühungen Europas, sich als eigenständiger Akteur, als eigener Machtpol gegenüber der einzig verbliebenen Supermacht USA zu etablieren.
Der Kosovo-Krieg beschleunigte das sicherheitspolitische Autonomiebestrebens Europas.
Die "alte" NATO im Sinn einer kollektiven Verteidigungsorganisation wurde nach dem 11. September zurecht von Kommentatoren für "tot" erklärt. Denn der Bündnisfall nach Artikel 5 wurde zwar ausgerufen, aber auf keiner Seite des Atlantiks als eine Verpflichtung zum militärischen Beistand interpretiert. Die NATO wird zu einer "security and defence-services institution"
Die weltpolitischen Prioritäten der USA verlagern sich dagegen in Richtung des Nahen und Mittleren Ostens sowie Ostasiens. Europa kann daher auf Dauer nicht davon ausgehen, dass es in Krisen, in denen die USA sich nicht engagieren wollen, vollen Zugang zu jenen knappen und teuren militärischen "assets" der NATO hat, die vor allem amerikanische sind. Die logische Konsequenz aus den Bemühungen um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik lautet daher, wie es eine amerikanische Sicherheitsexpertin ausdrückte, "konstruktive Duplikation" militärischer Fähigkeiten in den Bereichen Logistik, strategische Aufklärung und Planung: "Without having genuinely autonomous military forces, Europe's needs are subordinate to US priorities. The EU is left hostage to the concerns and potential veto of the US and Turkey, both of which may well evaluate their interests as opposed to an EU operation. More generally, the lack of an EU military capability forces Europe into continuing dependence on the US, which is politically unhealthy in states as powerful and independent-minded as those of the EU."
Europa mag als Juniorpartner mit der ESVP militärisch interessanter für die USA werden. Doch die auf europäischer Seite verbreitete Hoffnung, dass ein größerer militärischer Beitrag auch zu größerem politischem Einfluss auf die USA führen werde, dürfte enttäuscht werden. Das militärische Gefälle wird auf absehbare Zeit eher noch weiter wachsen. Doch selbst wenn es geringer würde, wäre es an den USA zu entscheiden, wann und in welchem Maße sie einen Beitrag der Verbündeten wirklich in solchem Maße brauchen oder nutzen wollen, dass sie ihre Handlungsfreiheit beeinträchtigen lassen wollen.
3. Strategische Divergenz
Das dritte Strukturproblem, das sich im Gefolge des 11. September akzentuierte, liegt in der institutionell-ideologisch tief verwurzelten Divergenz bei der Wahrnehmung von Sicherheitsproblemen und der angemessenen Reaktion darauf. Etwas zugespitzt ausgedrückt: Die Außenpolitik der USA ist global in der Orientierung, Multilateralismus wird instrumentell verstanden und keineswegs als Fessel unilateralen Vorgehens, militärische Instrumente sind reichlich vorhanden und werden immer wieder genutzt. Amerikanische Außenpolitik hat eine Tendenz zu einer militarisierten unilateralen "grand strategy of primacy",
Eng mit dem gerade Genannten hängt die Divergenz politisch dominanter Weltordnungsvorstellungen zusammen, wie sie zu Konflikten über die Rolle internationaler Institutionen und multilateraler Regime geführt haben. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang insbesondere an die Konflikte um den Internationalen Strafgerichtshof und die Mandatierung von Militärinterventionen durch die Vereinten Nationen. Sicher: In der Programmatik waren die Unterschiede zwischen dem rhetorisch vorherrschenden liberalen Internationalismus unter Präsident Clinton und europäischen Vorstellungen keineswegs sehr groß. Jedoch ließ amerikanische Weltpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der von innenpolitischem Kalkül dominierten Praxis von der anfänglichen innovativen Reformprogrammatik kaum mehr etwas erkennen. Nicht Multilateralisierung und Ökonomisierung, sondern ein starker unilateraler Impuls und die Dominanz traditionell verstandener Sicherheitspolitik kennzeichneten die amerikanische Außenpolitik bereits vor dem Amtsantritt der Bush-Administration.
Waren unter Präsident Clinton die unilateralen Tendenzen vor allem über den Kongress vermittelt, so kam unter George W. Bush eine republikanische Administration ins Amt, in deren anfänglicher Programmatik sich sehr stark die Skepsis gegenüber internationalen Vereinbarungen, insbesondere bei der Rüstungskontrolle, spiegelte.
Der von der Bush-Administration - genauer: dem Außenministerium - angekündigte "hard-headed multilateralism"
Wenn vom Multilateralismus die Rede ist, dann geht es der Bush-Administration um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Dienste bestimmter Ziele; die Ziele, die Aufgaben bestimmen dabei die flexiblen Koalitionen. Multilateralismus wird funktional verstanden und kann dabei, wo es notwendig erscheinen sollte, auch seinen Niederschlag in institutionellen Strukturen finden. Die USA bestimmen die Ziele; sie entscheiden darüber, welche Abkommen und Vereinbarungen dem Ziel angemessen sind. Multilaterale Kooperation soll amerikanische Optionen nicht beschränken, die Fähigkeit zum alleinigen Handeln nicht schmälern. Ein solcher "realistischer" Multilateralismus gilt der Administration nicht als Alternative zur amerikanischen Führung, sondern als ihre "Manifestation". Und: Allen Bekenntnissen zu einem neuen Multilateralismus zum Trotz ist in der "Bush-Doktrin" - einer Art Kriegserklärung an "jede terroristische Gruppe globaler Reichweite" und die sie unterstützenden Staaten - eine Tendenz zum unilateralen Handeln angelegt. Denn in der Konsequenz bedeutet die Umsetzung der "Bush-Doktrin", dass die USA darüber entscheiden, welche Organisation als Terrorgruppe mit "globaler Reichweite" gilt, welches Land als Unterstützer des Terrorismus eingestuft wird und mit welchen Methoden gegen dieses Land vorzugehen ist.
Damit kommt im Zuge des "Krieges gegen den Terror" verstärkt die Auseinandersetzung über die weltordnungspolitisch brisante Frage hinzu, wann und unter welchen Bedingungen militärische Gewalt bis hin zu einem Krieg als legitimes Mittel der Sicherheitspolitik eingesetzt werden darf. Die Doktrin der "antizipatorischen Selbstverteidigung", wie sie gegenwärtig im amerikanischen Diskurs begründet wird und sehr deutlich in der "Bush-Doktrin" anklingt, ist eine fundamentale Herausforderung für das bestehende völkerrechtliche System.
Ein solcher "Präventivkrieg" gegen den Irak wäre - anders als vom VN-Sicherheitsrat mandatierte Militärschläge zur Durchsetzung der Irak obliegenden Rüstungskontrollverpflichtungen - eine völkerrechtlich, politisch und ethisch höchst problematische Entwicklung: völkerrechtlich, weil die Beschränkungen für den Einsatz militärischer Macht gelockert werden; politisch, weil es sich um einen Präzedenzfall handeln würde, auf den sich andere berufen könnten und der einen Staat wie Indien geradezu ermutigen könnte, Pakistan im Zuge der Terrorismusbekämpfung anzugreifen;
III. Weltmachtpolitik statt Weltordnungspolitik?
Die der amerikanischen Weltpolitik nach 1945 zugrundeliegende Rolle eines "wohlwollenden Hegemons", der in seiner Außenpolitik die Interessen anderer Staaten in die Bestimmung der eigenen Interessen aufnimmt und als internationale Ordnungsmacht handelt, ruht auf zwei wichtigen Voraussetzungen: zum einen der Bereitschaft, um der internationalen Ordnung willen auch dann militärisch zu intervenieren, wenn vitale nationale Interessen im engeren Sinne nicht unmittelbar berührt sind; zum anderen der Präferenz für multilaterale Mechanismen, damit andere Staaten eine Chance haben, ihre Interessen und Perspektiven einzubringen. Damit verbunden erfordert das die Bereitschaft, sich selbst den für alle geltenden Regeln multilateraler Institutionen zu unterwerfen und gestaltend solche Strukturen aufzubauen und weiterzuentwickeln - und internationale Institutionen nicht nur instrumentell verkürzt dann als nützlich anzusehen, wenn sie außenpolitischen Aktionen internationale Legitimität verleihen und die Kosten für die USA verringern helfen.
In einer internationalen Konstellation wie der zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in der die USA über allen anderen Staaten überlegene und im militärischen Bereich weiter wachsende Machtressourcen verfügen, ein weltpolitischer Rivale fehlt und somit die "Zwänge" des internationalen Systems geringer geworden sind, ist die Versuchung groß, einen rein instrumentellen Multilateralismus zu betreiben und nationale Weltmachtinteressen im wesentlichen einseitig zu verfolgen. Doch das untergräbt den Anspruch multilateraler Ordnungspolitik.
Ansatzweise schimmert diese Orientierung noch auf - so in den im State Department zu findenden Überlegungen, wie die Koalitionen im Kampf gegen den Terror eine dauerhafte institutionelle Gestalt finden könnten, ohne dass die Flexibilität verloren ginge.