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Die Universität in der Wissensgesellschaft | Universitäten und Hochschulen | bpb.de

Universitäten und Hochschulen Editorial Mehr Qualität und Leistung durch Wettbewerb und Eigenverantwortung Von Reformansätzen zur Reform? Das Abitur - immer noch eingültiger Indikator für die Studierfähigkeit? Die Universität in der Wissensgesellschaft Globalisierung und Universitäten

Die Universität in der Wissensgesellschaft

Wolfgang Bergsdorf

/ 17 Minuten zu lesen

Im Beitrag wird der Begriff der Wissensgesellschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert. Konstitutiv für den aufgeklärten Bürger dieser Gesellschaft ist der Erwerb eines deutlich höheren Maßes an souveräner Entscheidungskompetenz.

I. Probleme auf dem Weg in die Wissensgesellschaft

Für gesellschaftliche und technologische Entwicklungen wird stets nach griffigen Bezeichnungen gesucht. Die derzeitige Entwicklung wird "Wissensgesellschaft" genannt. Solche Termini sind problematisch, wird doch aus der komplexen Vielfalt der gesellschaftlichen Rahmenbedingung eine einzige Dimension herausgegriffen und semantisch zur Epochenbezeichnung erhöht. Und dennoch sind sie notwendig, weil sie die im Strom der Zeit vom zeitgenössischen Bewusstsein kaum wahrgenommenen Veränderungen auf einen Nenner bringen.

Der Vater des Terminus Wissensgesellschaft ist der amerikanische Soziologe Robert E. Lane, der 1966 über die "Knowledge Society" schrieb. Sein Kollege Daniel Bell hat den Begriff übernommen und in seinem Buch über die postindustrielle Gesellschaft populär gemacht.

Natürlich soll mit einem Begriff wie "Wissensgesellschaft" früheren Epochen nicht unterstellt werden, dass Wissen in ihnen keine Rolle gespielt hätte. Aber die ständig wachsende Häufigkeit der Verwendung des Terminus "Wissensgesellschaft" verweist auf die zentrale Bedeutung, die dem Wissen in unserer pluralistischen, von Globalisierungsängsten geschüttelten und von Globalisierungserwartungen enthusiasmierten Wohlstandsgesell- schaft zukommt. Zu Arbeit und Kapital tritt als dritte Quelle der Wohlstandswertschöpfung das Wissen hinzu, das anders als die beiden ersten Quellen mit Hilfe der Informationstechnologien unerschöpflich gemacht werden kann. Das hoffen jedenfalls die euphorischen Vordenker der Wissensgesellschaft.

Die Begrifflichkeit Wissensgesellschaft hat aber auch noch eine andere Dimension, die als großes doppeltes Versprechen gedeutet werden kann. Die zentrale Bedeutung der Informationen oder (im Singular) des Wissens als ultimative Ressource nährt die Illusion, das Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit könnte aufgehoben werden. Moderne Gesellschaften haben die Öffentlichkeit als "Methode" der Problemreduktion erfunden, um ihren Mitgliedern die Chance zu geben, sich über alles zu unterrichten, worüber sie sich aus unmittelbarem Erleben kein eigenes Urteil bilden können. Wissenschaft hingegen ist die systematische Anstrengung, das verfügbare Wissen auf allen Gebieten in der Breite und in der Tiefe zu erweitern und miteinander zu verknüpfen. Wissenschaft benötigt Internationalität wie die Lunge Luft zum Atmen. Öffentlichkeit braucht Lokalität und Regionalität. Nationale Medien sind die Ausnahme, nicht die Regel. Öffentlichkeit ist hochselektiv. Es gibt zwar Kriterien der Auswahl, die festlegen, welche Chance ein Thema hat, öffentlich zu werden, aber der Zufall spielt eine bedeutende Rolle. Wissenschaft hingegen ist systematisch, jeder Beliebigkeit abhold. Aber dennoch wird die Wissensgesellschaft etwas Neues bringen, beziehungsweise, sie hat bereits zu Novitäten geführt.

Eines Schriftstellerlobes konnte sich ein Journalist erfreuen, der kürzlich schrieb, am Ende des 20. Jahrhunderts verfügten kleine Jungs über mehr Informationen über die Welt als Voltaire, Kant und Goethe zusammen. Der mittlerweile verstorbene polnische Schriftsteller Adrzej Szczypiorski beurteilte mit etwas hinterhältiger Ironie den Urheber dieser Feststellung als "gescheit", weil er seine Beobachtung ohne Triumph verkündet habe.

Er machte auf eine Selbstverständlichkeit aufmerksam, die wir im täglichen Durcheinander aus dem Blickwinkel verlieren, die aber dennoch eine gefährliche und rätselhafte Warnung darstellt.

Tatsächlich wissen wir heute über die Welt bei weitem mehr, als unsere Vorfahren vor 200 oder 100 Jahren wissen konnten. Wissenschaft und Technik haben für eine Explosion des Wissens gesorgt, deren Ende sich in keiner Weise andeutet. Neun von zehn Wissenschaftlern, die jemals gelebt haben, sind unsere Zeitgenossen. Das hat zur Folge, dass das verfügbare Wissen sich alle zehn Jahre in den verschiedenen Disziplinen verdoppelt. So enthält zum Beispiel eine beliebige Werktagsausgabe der New York Times mehr Informationen, als dem durchschnittlichen Europäer des 17. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben zur Verfügung standen. Aber dass wir heute klüger seien als unsere Väter, Großväter oder Urgroßväter, das wagt niemand zu behaupten, nicht einmal der von Andrzej Szczypiorski gelobte Journalist.

Aber wir wissen mehr als unsere Väter und Großväter, und dieses Wissen verdanken wir der Omnipräsenz der Medien. Sie ist der Grund dafür, dass die Medien in der heraufkommenden Wissensgesellschaft mehr noch als zuvor als deren zentrales Nervensystem Geltung beanspruchen können. Die explosionsartige Vervielfältigung der technisch erreichbaren Informationsmöglichkeiten verlangt vom Mediennutzer ein viel größeres Maß an souveräner Entscheidungskompetenz. Aufklärung heute kann deshalb verstanden werden als eine Befreiung von den Fesseln fremd bestimmter Kommunikation.

Nach der Implosion der kommunistischen Systeme vor ca. zehn Jahren sind Individualisierung und Globalisierung die wichtigsten, antagonistisch erscheinenden Stichwörter, mit deren Wirkungen sich jede Politik auseinander zu setzen hat. Hoffnungen und Befürchtungen ranken sich um diese beiden Begriffe, und auch die Wissensgesellschaft als Begriff amalgamiert Hoffnungen und Befürchtungen zu einer Melange, die vor allem Zukunftsungewissheit signalisiert. Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war, wusste schon Hermann Josef Abs. Man muss sich mit Alfred Polgar trösten, der die Zukunft erträglich fand, weil sie in Raten komme. Aber dieser Trost wird überschattet von der Beschleunigung des Wandels als einem der hervorstechenden Merkmale der Wissensgesellschaft.

Nachgerade Besorgnis erregend, jedenfalls Besorgnis erregend einmütig beschreiben Philosophen und Soziologen unsere gegenwärtige Lebenswirklichkeit als Resultat und Reflex eines radikalen Wandels, eines Wandels, der an Radikalität und Intensität immer weiter zunimmt. Jürgen Habermas und Hermann Lübbe etwa, ansonsten doch keineswegs eines Sinnes, sprechen übereinstimmend davon, dass uns die altbewährten Übereinkünfte, Bindungen und Verbindlichkeiten kaum noch und höchstens kurzfristig zu einer verlässlichen Orientierung im Geistigen verhelfen. Sie sprechen davon, dass sich die traditionellen Regelungen unserer Daseinsordnung zunehmend als untauglich erweisen und mit dem hektischen Fortgang der Ereignisse ihre Gültigkeit und Legitimität einbüßen. Das Erfahrungswissen, das bei früheren Generationen von den Eltern an die Kinder weitergereicht wurde, das sich bei der Bewältigung anstehender Aufgaben als hilfreich erwies, führt heute nicht mehr weit. Eine stets schwer abschätzbare Wirklichkeit mit ihren rapiden Umbrüchen und Umschichtungen treibt die traditionsverbürgten Einsichten alsbald zur kuriosen Musealität oder musealen Kuriosität.

Die Verabschiedung der Relevanz des Alltagswissens wird der wichtigste Effekt der Wissensgesellschaft sein. Weil Erfahrung im Sinne tradierter Erfahrung an Bedeutung sehr stark verlieren wird, muss das Leben zu einem permanenten Prozess des Weiterlernens werden. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen oder - um seine Alternativlosigkeit zu akzentuieren - zum lebenslänglichen Lernen wird zu einer der Schlüsselqualifikation in der Wissensgesellschaft werden.

Die Globalisierung der Märkte und - als ihre Voraussetzung - die Globalisierung der Informationsnetze sorgen dafür, dass sich die Galaxie des abendländischen Wissens mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt und überall zur Verfügung steht, sodass das menschliche Gedächtnis neu herausgefordert wird.

Gleichzeitig entscheidet die Schnelligkeit des Wandels, die Sensibilität für Zeitdifferenzen und vor allem das Erkennen von Zusammenhängen über die Chancen des Einzelnen auf dem Markt. Niemand kann heute wissen, was er morgen wissen muss, um sich übermorgen wirtschaftlich behaupten zu können.

Die Welt der Wissensgesellschaft wird beherrscht von der Trias Hardware, Software und dem Menschen. Hardware ist nicht länger ein Produkt aus Eisen, sondern eine millionenfache Wiederholung winziger Siliziumscheiben mit Transistoren, deren Entsorgung übrigens immer problematischer wird.

Das Milliardengeschäft namens Software ist eine logische Abstraktion, die von Zeiten und Räumen der Maschinen prinzipiell absieht, um sie in der Theorie, aber auch nur in ihr zu beherrschen.

Hardware und Software sind unschlagbar im Suchen, Speichern und Rechnen. Aber die Menschen sind auch unschlagbar, und zwar im Bewerten, in der Interpretation und im Kontextbewusstsein. Die Sintflut der Daten, die sich täglich über uns ergießt, bietet keinen Sinn. Der Sinn ergibt sich erst aus dem Kontext, und der Kontext kann nur vom Menschen hergestellt werden.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zielt die Technik nicht mehr darauf ab, vor allem den Körper des Menschen zu entlasten, sondern sie soll in erster Linie sein geistiges Vermögen erweitern. Die Entdeckung der Produktivität vor hundert Jahren war der Anwendung des Wissens auf Arbeit zu verdanken. Heute entfalten wir in der Wissensgesellschaft die Autologie - die Selbstanwendung des Wissens: Wissen wird auf Wissen angewandt (Norbert Bolz).

Kommunikationskompetenz oder Medienkompetenz werden so zu Schlüsselqualifikationen in der Wissensgesellschaft. Man mag diese Begrifflichkeiten annehmen oder ablehnen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die Kompetenz, kritisch zu denken, die Fähigkeiten zur Unterscheidung zwischen Belangvollem und Belanglosem, zwischen zentralen und marginalen Fragestellungen. Voraussetzungen für diese kritische Kompetenz sind Sprachbeherrschung, Argumentationskraft, Abstraktionsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Kooperationsbereitschaft.

Die Beherrschung der Muttersprache ist die Mutter der Schlüsselkompetenzen. Nun hat die in diesem Winter veröffentlichte PISA-Studie der OECD deutlich gemacht, dass die 15-jährigen Schüler Deutschlands viel größere Schwierigkeiten bei der Perzeption unterschiedlicher Texte, ihrer Entschlüsselung und Interpretation haben als ihre Altersgenossen in den meisten Ländern der OECD. In Westeuropa haben lediglich ihre Altersgenossen in Luxemburg und Liechtenstein noch größere Probleme damit. Sicherlich hängt das mit der - im internationalen Vergleich gesehen - Nachrangigkeit des Unterrichts der eigenen Sprache zusammen, also des Deutschunterrichtes, für den als Schulfach zwischen der ersten und der zehnten Klasse nur 16 Prozent der Wochenstunden zur Verfügung stehen. In Polen sind es 22 Prozent, in Schweden 24 Prozent und in Frankreich 26 Prozent.

Man könnte vermuten, die dem Deutschunterricht abgezogene Zeit würde in die Naturwissenschaften und Mathematik investiert - mit entsprechenden Leistungsergebnissen. Aber auch hier schneiden die deutschen Schüler in der PISA-Studie unterdurchschnittlich ab. Wer sich an die für Deutschland auch schlechten Ergebnisse der TIMSS-Studie von 1999 erinnert, konnte durch die PISA-Befunde nicht überrascht werden. Befremdlich ist vielmehr, dass weder die TIMSS- noch die PISA-Studie einen Schock in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ausgelöst haben.

Auch für den interessierten Zeitungsleser ist nicht zu erkennen, worin unsere Kultusminister die Gründe für das international so deprimierende Abschneiden der deutschen Schüler sehen und mit welchen Methoden und Maßnahmen sie für Abhilfe sorgen wollen. Immerhin ist das für die Zukunft unseres Landes alles andere als eine Petitesse.

Denn die Qualität der Schule entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Und deshalb ist es besonders interessant zu sehen, dass die Bundesländer, die in den letzten Jahrzehnten am wenigsten an ihren Schulen "herumgedoktert" haben, im innerdeutschen Vergleich am besten abschneiden. Das Land der Dichter und Denker hat trotz seiner großen Bildungstradition heute erhebliche, zweifellos selbst erzeugte Probleme auf seinem Weg in die Wissensgesellschaft. Das gilt auch für die akademische Bildung.

II. Probleme durch Ausbleiben einer Hochschul- und Studienreform

Heute studieren 1,8 Millionen junge Menschen an 260 deutschen Hochschulen. Das sind doppelt so viele wie 1975. Die meisten (36 Prozent) drängen sich in den Hörsälen der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultäten. 22 Prozent studieren Sprach- und Kulturwissenschaften. Jeder vierte Student hat sich für ein praxisorientiertes Fachhochschulstudium entschieden. Nur noch 17 Prozent studieren Mathematik, natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer.

Das zentrale Problem unserer Universitäten in der heraufkommenden Wissensgesellschaft ist ihre vierfache Herausforderung durch Überlast, durch zu lange Studienzeiten, durch schrumpfende staatliche Finanzierung und durch den verschärften internationalen Wettbewerb. Die Einzelheiten sind bekannt. Wichtig erscheint der Hinweis, dass das Ausbleiben einer wirklichen Hochschul- und Studienreform diesem Vierfrontenkrieg geschuldet ist, den Deutschlands Universitäten seit langem zu führen haben.

Hohe Abbrecherquoten (in der Philosophie bis zu achtzig Prozent), im internationalen Vergleich zu alte Absolventen, international nicht anerkannte Abschlüsse, vorzeitige Spezialisierung, verschraubte und deshalb unkreative Disziplinarität sowie fehlender Mut zu fächerübergreifenden Studienrichtungen drohen die frühere Leistungsfähigkeit der deutschen Universitäten mehr und mehr zu ersticken. Eine vierzigjährige Debatte über Studien- und Hochschulreform hat außer der Gruppenuniversität und dem Magister Artium nichts wesentlich Neues hervorgebracht. Immer wieder bekommen die deutschen Universitäten den Ratschlag, sich an dem Universitätswesen der Vereinigten Staaten zu orientieren. Dort beurteilen Studenten die Lehrleistungen ihrer Professoren, die Sanktionen für Defizite zu befürchten haben. Dort sind sich auch international anerkannte Kapazitäten nicht zu schade, Einführungs- und Überblicksvorlesungen anzubieten. Dort gibt es Studiengebühren, die ausschließlich der Verbesserung der Rahmenbedingungen für Lehre und Forschung zugute kommen. In den Vereinigten Staaten dauern Berufungen nicht zwei Jahre, sondern nur zwei Monate. Junge Forscher erlangen früher Selbständigkeit in Forschung und Lehre, die Betreuungsrelationen zwischen der Zahl der Lehrenden und der Lernenden sind günstiger, und die Absolventen verlieren dank einer intensiven Zusammenarbeit zwischen ihnen und ihrer alten Universität nie den Kontakt zu ihren Universitäten und statten ihnen ihre Dankbarkeit oft mit erheblichen Geldmitteln ab. Amerikanische Universitäten verleihen nur akademische Grade, die international anerkannt werden.

Ohne jede Frage bietet das amerikanische Hochschulwesen eine Vielzahl von wichtigen Anregungen, die für die Reform der deutschen Universitäten von erheblicher Relevanz sind. Gleichwohl lässt sich die Behauptung nicht verifizieren, dass die amerikanische Universität besser sei als die deutsche. Dafür ist der Standard in den USA zu unterschiedlich, der Abstand zwischen den meisten privaten Spitzenuniversitäten und den minderen Hochschulen ist dort viel breiter, als dies in Deutschland der Fall ist. Die zehn Spitzenuniversitäten allerdings sind zweifellos besser als die zehn besten deutschen Universitäten, welche Kriterien man auch immer anlegt. In Deutschland sind wir dabei, die Einheit von Forschung und Lehre über Bord zu werfen. Was wir benötigen, ist ein Wettbewerb um eine bessere Lehre, um eine bessere Forschung und um eine bessere Verwaltung. Wir brauchen eine bessere - eine zukunftsfähigere - Konzeption der Universitäten insgesamt.

Der Wissenschaftsrat hat kürzlich seine Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems vorgelegt, in denen er eine Vertiefung der Internationalisierung, eine Stärkung des Praxisbezuges, einen Ausbau der Autonomie, eine verstärkte Nutzung der Informations- und Kommunikationstechniken, eine stärkere Förderung des Wettbewerbs und der Kooperation sowie eine Erneuerung der Einheit von Forschung und Lehre fordert. Das sind insofern wichtige Anregungen, als sie nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von den Wissenschaftspolitikern des Bundes und aller Bundesländer wie auch von Persönlichkeiten aus der Wirtschaft formuliert wurden.

Es besteht also Hoffnung, dass der Problemdruck die Politik erreicht und diese möglichst bald für Veränderungen der Rahmenbedingungen sorgt. Mittlerweile geben die Deutschen ihrem Bildungssystem immer schlechtere Noten. Innerhalb eines halben Jahres ist der Anteil der Kritiker, die ihm mangelnde Leistungsfähigkeit bescheinigen, von 42 auf 49 Prozent gestiegen. Offensichtlich auch unter dem Eindruck der öffentlichen Diskussion ist mit 44 Prozent der Befragten der weitaus größte Teil der Deutschen der Meinung, dass die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens in den letzten Jahren abgenommen hat. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind guter Rat und rasches Handeln gefragt.

III. Reformideen

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Reformideen. Eine der interessantesten ist der Plan, ein Netzwerk von europäischen Universitäten zu schaffen, um den Wettbewerb mit den besten der amerikanischen Hochschulen zu bestehen.

Auf Anregung des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl und mit Unterstützung seines Nachfolgers Gerhard Schröder wurde von Konrad Schily, dem Gründungspräsidenten der privaten Universität Witten/Herdecke, und Meinolf Dierkes, dem langjährigen Präsidenten des Wissenschaftszentrums Berlin, und anderen Persönlichkeiten eine Denkschrift vorgelegt, die ein Netzwerk von europäischen Universitäten vorschlägt: Im Rahmen einer European University Foundation soll eine zukunftsorientierte und effiziente Assoziation europäischer Reformuniversitäten aufgebaut werden. Dieser Verbund soll prinzipiell für mindestens eine Universität jedes Landes der Europäischen Union offen sein.

Diese Universitäten sollen sich ihre Studierenden selbst aussuchen können und Studiengebühren erheben dürfen, und sie sollen die erworbenen Berechtigungen und Abschlüsse gegenseitig anerkennen. Sie sollen sich verpflichten, keinem Studierenden einen Abschluss zu geben, der nicht einen Teil seines Studiums an ausländischen Universitäten dieses Verbundes absolviert hat. Auch der Austausch von Dozenten soll systematisch organisiert werden. Das ist ein kühner Plan, der die Internationalisierung der Universitäten und eine drastische Erhöhung der Mobilität der Lernenden und der Lehrenden zum Ziel hat. Die Kühnheit des Plans ergibt sich aus seinen Voraussetzungen: Die Universitäten dieses Netzwerkes müssen von ihren jeweiligen Gesetzgebern weitgehend in die Autonomie entlassen werden, um curriculare Gestaltungsfreiheit und Organisations-, Budget- und Personalhoheit zu erlangen. In Deutschland ist jetzt der Mut der Landesgesetzgeber gefragt. Erwünscht ist ein Wettrennen um die Gestaltung einer für dieses Projekt hinreichenden Experimentierklausel in den jeweiligen Hochschulgesetzen, um aus einer zukunftsweisenden Idee ein Stück Wirklichkeit werden zu lassen.

IV. Das Reformkonzept der Universität Erfurt

An der Universität Erfurt ist man dabei, ein Reformkonzept in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Gründungskonzeption der Universität Erfurt ist ein absolutes Novum. Zum ersten Mal gibt es eine realistische Chance, ein wesentliches Stück Hochschul- und Studienreform zu verwirklichen. Von der Universität Erfurt sollen, so der Wissenschaftsrat, Reform-Impulse auf die deutsche Hochschullandschaft ausgehen.

Die Universität hat die Reformprinzipien, wie sie Gründerväter und Landesregierung in ihrer vorläufigen Satzung festgelegt hatten, uneingeschränkt in ihre neue Grundordnung übernommen. Dabei geht es um die Neuorientierung der Geistes- und Sozialwissenschaften, insbesondere durch die kulturwissenschaftliche Orientierung aller Disziplinen, sowie um die inter- und transdisziplinäre Forschung und den interkulturellen Dialog.

Die Universität Erfurt versteht sich als ein Labor für neue Entwicklungen im Hochschulwesen. Für die Studierenden bedeutet das vor allem, dass sie sich auf eine neuartige Studienorganisation nach dem international üblichem B.A./M.A.-Modell einlassen. Seine wesentlichsten Elemente sind folgende:

- Nach drei Studienjahren wird der erste Hochschulabschluss Baccalaureus (Bachelor) erworben. Die Angst vieler vor dem großem Abschlussexamen entfällt; Erfurt hat ein studienbegleitendes Prüfungssystem. Die Abschlussnote ergibt sich aus den Studienleistungen.

- Nach dem ersten Abschluss besteht die Möglichkeit, innerhalb von drei weiteren Semestern den Magistergrad zu erwerben. Bei Eignung steht der Weg offen zur Promotion (zwei bis drei Jahre).

- In Erfurt gibt es ein Mentorensystem, das eine individuelle Betreuung jedes Studenten durch einen Dozenten vom ersten Semester an sicherstellt.

- Das Erfurter Studium Fundamentale gehört zur Pflicht der Lehrenden und Lernenden. Es macht die Studierenden von Beginn an mit fachübergreifenden Denkweisen vertraut. Das ist eine Besonderheit, die nur in Erfurt angeboten wird. Hier wird gelernt, dass ein Thema von vielen Seiten ausgeleuchtet werden muss. Zwei Dozenten unterschiedlicher Fächer behandeln in einer Veranstaltung das gleiche Thema. Auf diese Weise soll einer allzu frühzeitigen Spezialisierung vorgebeugt werden.

- Internationalität wird groß geschrieben, nicht nur im fachlichen Angebot mit einer Reihe auch außereuropäischer Schwerpunkte.

- Während des Studiums soll möglichst wenigstens ein Semester an einer ausländischen Hochschule verbracht werden. Das ist zwar keine Muss-, wohl aber eine Soll-Bestimmung.

- Der Erwerb fremdsprachlicher Kompetenz und die Vertrautheit im Umgang mit den neuen Medien wird besonders gefördert.

- Die Universität Erfurt will Absolventen, die gelernt haben, über den Tellerrand ihres jeweiligen Studienfaches hinaus zu blicken, um eine möglichst breite Verwendungsmöglichkeit zu sichern.

- Berufsorientierende Veranstaltungen ergänzen das Studienprogramm. Nicht zuletzt sollen Praktika dafür sorgen, dass ein enger Kontakt zwischen Studium und Berufswelt entsteht.

Heute ist nicht die möglichst frühzeitige und möglichst weitgehende Spezialisierung die beste Vorbereitung auf den Beruf, sondern ein Studium, das dazu befähigt, mit wissenschaftlichen Methoden Probleme zu bewältigen und auf neue Situationen systematisch einzugehen. Die Wirtschaft benötigt Absolventen, welche solche Methoden beherrschen, um zu tragfähigen Lösungen zu kommen. Die hierzu notwendigen Spezialkenntnisse werden im Beruf selbst erlernt. Das ist die Chance berufsorientierender Abschlüsse wie des Baccalaureus, mit dem die schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Universitäten wieder gestärkt werden soll. Erfurt hat hier nach Auffassung von Winfried Schulze, der bis Januar 2001 Vorsitzender des Wissenschaftsrates war, eine Vorreiterrolle erobert.

Hier liegt die Chance gerade für eine geisteswissenschaftliche Universität. Im Zentrum der Universität Erfurt stehen die Kulturwissenschaften. Dies gilt für alle drei Fakultäten. An der Philosophischen Fakultät, die ihren Studienbetrieb im Wintersemester 1999/2000 aufgenommen hat, können Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft, Religionswissenschaften, Geschichtswissenschaften und Kommunikationswissenschaften studiert werden. Auch die Staatswissenschaftliche Fakultät, die im Wintersemester 2000/2001 ihren Studienbetrieb aufnahm, wurde mit interdisziplinär zugeschnittenen Professuren ausgestattet und bietet die Studiengänge Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften einschließlich Politikwissenschaft an. Im kommenden Jahr wird dort ein Pilotprogramm für den Master of public policy installiert, das mit finanzieller Hilfe des Bundesbildungsministeriums Fortbildungsmöglichkeiten für künftige Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung anbietet.

Von der zum 31. Dezember 2000 aufgehobenen Pädagogischen Hochschule Erfurt wurde die Erziehungswissenschaftliche Fakultät übernommen, neu strukturiert und zugleich differenziert. Sie leistet einen Hauptteil der Ausbildung für die Grund- und Realschullehrer sowie die Sonderpädagogen. Auch die Lehramtsstudiengänge werden mit der B.A./M.A.-Struktur des Erfurter Studienmodells in nächster Zeit kompatibel gemacht. Der besonderen Bedeutung der Lehr-/Lern- und Bildungsforschung wurde durch die Einrichtung eines entsprechenden Zentrums Rechnung getragen.

Geplant ist eine vierte Fakultät. Der Freistaat Thüringen und der Vatikan verhandeln über die Integration der in Erfurt angesiedelten Katholischen Theologischen Fakultät in die Universität Erfurt. Damit wäre die geisteswissenschaftlich orientierte Universität Erfurt komplettiert. Die evangelische Theologie ist mit drei Lehrstühlen in dem 2001 eingerichteten "Martin-Luther-Institut" vertreten.

Hinzu kommt nicht zuletzt das Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, das bereits 1998 seinen Lehrbetrieb aufnahm und 2001 seine ersten Promovenden entlassen konnte. Das Max-Weber-Kolleg ist eine in Deutschland einzigartige Einrichtung, die interdisziplinäre Spitzenforschung mit der Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs verknüpft.

106 Professuren stehen für die Betreuung der 2 800 Studierenden zur Verfügung. Dies bedeutet, dass die zahlenmäßige Relation zwischen Lehrenden und Lernenden in Erfurt außerordentlich günstig ist. Im Durchschnitt entfallen auf eine Professur weniger als 30 Studierende. Das ist zugleich die Grundlage des funktionierenden Mentorensystems, das die persönliche Betreuung jedes Studierenden durch einen der Professoren sicherstellt. Und das ist der Grund dafür, dass die Universität Erfurt auch künftig nicht mehr als etwa 4 000 Studienplätze anbieten kann. Das Mentorensystem und der darauf basierende Erfolg des Reformprojektes darf nicht gefährdet werden. Die Universität Erfurt will beweisen, dass es auch an einer staatlichen Universität - mit allerdings vollständig veränderten Studienbedingungen - möglich ist, mit 22 oder 23 Jahren einen ersten berufsorientierenden Abschluss zu erlangen und mit 24 Jahren ein berufsqualifizierendes Examen abzulegen.

Nicht vergessen werden darf die Bibliothek, das Herzstück jeder geisteswissenschaftlichen Universität. Die Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt mit 700 000 Bänden in Freihandaufstellung wird den Lehrenden und Lernenden künftig bis 24.00 Uhr an Werktagen zur Verfügung stehen, auch das ist in der deutschen Hochschullandschaft fast singulär.

Mit dem Erfurter Reformprojekt sollen die Befürchtungen des Weimarer Dichterfürsten widerlegt werden, der in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" notierte: "Die Deutschen besitzen die Gabe, Wissenschaften unzugänglich zu machen." Die Universität Erfurt will den Aufbruch in die Wissensgesellschaft schaffen, indem sie die Neugier auf Wissen organisiert, dessen wahrer Wert nicht zuletzt darin zu sehen ist, dass es unsere Unwissenheit schärfer umreißt. Vor allem sollen die Erfurter Studierenden durch eine persönlichkeitsbildende, berufsorientierende und weltoffene Ausbildung befähigt werden, ein gelingendes Leben und ein erfolgreiches Berufsleben zu führen und dabei das Gemeinwohl im Auge zu behalten.

Internethinweise des Autors:

Empfehlungen und Stellungnahmen zu allen Aspekten der Entwicklung des Wissenschafts- und Hochschulsystems: www.wissenschaftsrat.de Themen und Aufgaben der Hochschulen sowie Hochschulreform: www.hrk.de Informationen zum Reformkonzept der Universität Erfurt: www.uni-erfurt.de

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert E. Lane, The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society, in: American Sociological Review, (1966) 5, S. 650 ff.; vgl. auch: Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973, S. 212-265. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch die Ausgabe B 36/2001 dieser Zeitschrift zum Thema "Wissensgesellschaft" sowie den Beitrag von Yann Moulier-Boutang in der Ausgabe B 52-53/2001.

  2. Vgl. Wolfgang Bergsdorf, Deutschland an der Jahrtausendwende, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/2000, S. 21.

  3. Vgl. Josef Kraus, Abschied vom Struwwelpeter, in: Rheinischer Merkur, 1/2002.

  4. Zur Diskussion um TIMSS vgl. die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35-36/1999.

  5. Vgl. Arnd Morkel, Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Darmstadt 2000, S. 118 f.

  6. Vgl. Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland, Köln 2000.

  7. Vgl. Bundesverband Deutscher Banken, in: Blitz-Demoskopie, (Okt. 2000) 9.

  8. Vgl. Wolfgang Bergsdorf, Universitäten stiften Europa, in: Rheinischer Merkur, Nr. 30 vom 27. Juli 2000.

  9. Als letzte Universitätsneugründung des 20. Jahrhunderts verdankt die Universität Erfurt politisch ihre Existenz dem Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, dessen persönlicher Einsatz alle Widerstände für dieses neue Universitätskonzept aus dem Wege räumte. Klaus Dieter Wolff, Hermann Lübbe, Peter Graf Kielmansegg, Wilhelm Ernst, Wolfgang Schluchter, Michael Zöller, Dieter Langewiesche und - als Gründungsrektor - Peter Glotz haben das Konzept entworfen und die Umsetzung vorangetrieben.

Dr. phil. habil, geb. 1941; seit 2000 Präsident der Universität Erfurt.

Anschrift: Universität Erfurt, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt
E-Mail: E-Mail Link: sekretariat@uni-erfurt.de

Veröffentlichung u.a.: Auf dem Weg ins Jahr 2000. Aufsätze zur Politik und Kultur, Bonn 1996.