I. Abschnitt
"In Deutschland fehlen die Spitzenuniversitäten", beklagt der Vorsitzende des Wissenschaftsrates und fordert ein "deutsches Harvard", um in der Weltspitze mithalten zu können. Das Bekenntnis zur Elite sei wieder gefragt. Aufgeschreckt durch das miserable Abschneiden Deutschlands bei den internationalen Vergleichsstudien über Schülerleistungen TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) wird auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst, dass sich schulische und hochschulische Bildung und Ausbildung nach den Anforderungen der internationalen Bildungs- und Arbeitsmärkte richten müssen und nicht länger in der Einfriedung nationalstaatlicher Biotope gedeihen.
Dabei waren wir Deutsche so stolz auf die gelungene Bildungsexpansion, die in wenigen Jahrzehnten die Abiturquote von 5 Prozent auf 30 Prozent eines Jahrgangs erhöhte und die Zahl der Studierenden entsprechend vervielfachte. Wie notwendig dies war, belegt die Tatsache, dass sich - u. a. als Folge des demographischen Faktors - der weltweite Wettbewerb um die besten Nachwuchskräfte für Wissenschaft und Wirtschaft drastisch verschärft hat. Braindrain und Braingain sind in vollem Gange. "War for talents" nennt man in den USA die Suche nach den jungen Talenten. Immer mehr Deutsche zieht es an ausländische Top-Universitäten, zu wenig Ausländer interessieren sich für ein Studium in Deutschland, obwohl oder weil hierzulande weder Studiengebühren erhoben noch Eingangsprüfungen verlangt werden.
II. Abschnitt
Was haben wir falsch gemacht? Was müssen wir besser machen? Glücklicherweise gehören ideologische Grabenkämpfe um Gesamtschule und Gesamthochschule, um Bildung als "Wert an sich" oder im "Kapitalistischen Verwertungsinteresse", um "Leistung als "Repression" und Bildungskanons als Instrumente zur "Selbstreproduktion der herrschenden Klasse" der Vergangenheit an. Aber sie haben Spuren hinterlassen.
Nach einer Umfrage der Hochschul-Informationssystem GmbH (HIS) vom Februar 2002 sind nur 35 Prozent der Studierenden der Auffassung, das Abitur befähige in ausreichender Weise zum Studium; und gar 80 Prozent der Studienanfänger bescheinigen sich selbst ernsthafte Wissens- und Fähigkeitsdefizite, die sie im Laufe der ersten Semester beheben müssen. Die TIMSS-Untersuchung hat zwischen Gymnasien verschiedener Länder Leistungsunterschiede von bis zu zwei Schuljahren und Bewertungsdifferenzen von bis zu zwei Notenstufen zutage gefördert. Gleichwohl weist die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen die Studienbewerber den Universitäten nach Maßgabe von Abiturdurchschnittsnote und Wartezeit zu, sofern nicht Sozialkriterien den Ausschlag geben.
Die Zahl der Absolventen der Hochschulen ist nur wenig mehr als halb so groß wie die der Aufgenommenen. Die Drop-out-Quote liegt im Durchschnitt bei 30 Prozent, in manchen Studiengängen sogar bei 50 Prozent oder gar 60 Prozent. "Das größte Problem unseres Hochschulsystems ist nicht die Unterfinanzierung", schreibt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stifung, "sondern die Folgenlosigkeit des sorglosen Umgangs mit den Ressourcen Geld und Zeit." Jede Stufe seiner Bildungskarriere erreicht der deutsche Akademiker drei bis vier Jahr später als sein ausländischer Kollege: den Universitätsabschluss mit 28, die Promotion mit 32 und die Habilitation oder Erstberufung mit 40 Jahren.
Auf die gesellschaftliche Forderung "Bildung ist Bürgerrecht", die zu einer Explosion der Abiturienten- und Studentenzahlen geführt hat, antworteten Staat und Politik nicht, wie dies erforderlich gewesen wäre, mit einem entsprechend forcierten, gleichlaufenden Ausbau von Universitäten und insbesondere Fachhochschulen. Vielmehr entschlossen sich Bund und Länder 1977 zu einer "Untertunnelung" des "Studentenberges" und zur "Öffnung" der Hochschulen auf der Basis einer räumlichen, personellen und curricularen "Überlastung". Dies alles zeigt, dass es der Hochschulpolitik vor allem auf den quantitativen Input und weniger auf die Qualität des Outputs ankam. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung trug dazu bei, indem sie das Abitur zum Berechtigungsschein erklärte, die zentrale Bewirtschaftung der Numerus-clausus-Studienplätze forderte, die Überlastzuschläge sanktionierte und den Hochschulen untersagte, "bloße Niveaupflege zu betreiben".
III. Abschnitt
Ein solches System der planwirtschaftlichen Zuteilung von Bildungschancen und Studienplätzen konnte seiner gesellschaftlichen Akzeptanz nur so lange sicher sein, als es auf die "Lebenslüge" bauen konnte, alle Gymnasien (und die von ihnen ausgestellten Zeugnisse) und alle Universitäten (und die von ihnen verliehenen Diplome) seien gleich gut und gleichwertig. Und so lange, wie sich die Nachfrager nach höherer Bildung damit beruhigten, es komme für Studienerfolg und Berufseinstieg vor allem auf den Schein und nicht so sehr auf Qualität und Inhalt der vermittelten und erworbenen Bildung an.
Demzufolge mussten in der Vergangenheit alle in der Kultusministerkonferenz (KMK) mehrfach unternommenen Versuche, durch vergleichende Bewertung der Abiturstandards und Abiturleistungen in den Ländern mehr Transparenz zu schaffen, scheitern. Selbst eine länderspezifische Auswertung der früheren Mediziner-Testergebnisse wurde in der auf Einstimmigkeit angewiesenen KMK verworfen, weil sie sich als indirekte Evaluation der Länderabiture hätte auswirken können. Stattdessen vereinbarte man großzügige Substitutions- und Anrechnungsmöglichkeiten, um unterschiedlichen Begabungsprofilen und Interessen Rechnung zu tragen (Theatergruppe anstelle von Deutsch), und man verständigte sich mit der Hochschulrektorenkonferenz auf Rahmenprüfungsordnungen, um auch die Hochschulen auf eine einheitliche Linie zu bringen. Es wurde Gleichheit gesät und Durchschnitt geerntet.
IV. Abschnitt
"Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal", hat Altbundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten "Adlon-Rede" gesagt und gefordert, durch Deutschland müsse ein Ruck gehen, um sich aus Lethargie und gesellschaftlicher Erstarrung zu lösen. Erzwungen wird dieser Ruck durch die Gleichzeitigkeit von vier revolutionär anmutenden Entwicklungen, nämlich durch
- die Globalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft;
- die Internationalisierung der Bildungs- und der Arbeitsmärkte;
- die Digitalisierung aller Wirtschafts-, Berufs- und Lebensbereiche;
- die Virtualisierung des kollektiven Wissens, der Wertschöpfungsketten und der Erlebniswelten im World Wide Web.
Plötzlich können die Kriterien für erfolgreiches Forschen, Lehren, Lernen und Arbeiten nicht mehr konsensual-korporatistisch vereinbart werden, sondern müssen den Herausforderungen und "Benchmarks" einer globalen Wissensgesellschaft genügen.
Treibende Kraft dabei sind die durch Forschung gewonnenen neuen Erkenntnisse, die zu innovativen Ideen, Technologien, Materialien, Produkten und Verfahren führen. Ihnen wohnt deshalb eine so ungeheuere Dynamik inne, weil sie permanent neue Handlungsoptionen für Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen, auf die Standorte, Unternehmen und Wissensarbeiter gleichermaßen angewiesen sind, wenn sie im weltweiten Wettbewerb mithalten wollen. Früher folgten Arbeitsplätze den Rohstoffen und dem Kapital, heute folgt Kapital dem Wissen, und aus Wissen entstehen Arbeitsplätze.
Aber Wissen ist leichtfüßig und flüchtig wie das Kapital. Beide wenden sich dorthin, wo die förderlichsten und rentierlichsten Voraussetzungen herrschen. Ob die Standortbedingungen stimmen, lässt sich nicht nur an den internationalen Geldströmen und den Auslandsinvestitionen festmachen, sondern auch an den Wanderungsbewegungen des Humankapitals ablesen. Weltweit studieren 1,8 Millionen in einem anderen Land als in ihrem eigenen; 33 Prozent davon in den USA, 17 Prozent in Großbritannien und nur 8 Prozent in Deutschland. In Großbritannien geht jede dritte, in den USA jede vierte und in Deutschland - nach Abzug der Bildungsinländer - nur jede 20. Doktorurkunde an einen Ausländer: Die jungen Geisteseliten orientieren sich am Markt. Deshalb gilt es, die Standortbedingungen für Forschung und Bildung so zu gestalten, dass sie den neuen Herausforderungen entsprechen und Begabungen nicht ab-, sondern einwandern.
V. Abschnitt
Die deutschen Universitäten, die in der Forschung durchaus in der Weltliga mithalten, spielen im Bereich von Studium und Lehre auf dem internationalen Bildungsmarkt nur eine marginale Rolle. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: In der Forschung herrscht Leistungstransparenz und Wettbewerb, wirken die Anreiz- und Sanktionsmechanismen des "Marktes", während der Bereich der Lehre staatlicherseits reguliert, kontrolliert und dem Markt entzogen ist.
Im Unterschied zum Ausland ist es deutschen Hochschulen untersagt, ihre Aufnahmekapazität und ihre Betreuungsintensität selbst zu bestimmen, ihre Studierenden auszuwählen, Studiengebühren zu erheben, ihre Lehrenden marktgerecht zu vergüten und ihre Entscheidungsstrukturen im Hinblick auf fachliche Kompetenz und persönliche Verantwortung effizient zu gestalten. Die Fiktion der Gleichheit und fehlende Transparenz hindern Vergleichbarkeit und Wettbewerb. Bei Numerus-clausus-Studiengängen dürfen nicht einmal die Studierenden ihre Hochschule selbst auswählen. Career services oder Berufseinstiegshilfen gibt es hierzulande kaum; eine Rückmeldung über den Berufserfolg ihrer Absolventen haben die Hochschulen nicht. Gute Lehre bringt weder ideellen noch materiellen Gewinn, während gute Forschung zu Rufen, Reputation, Ressourcen und "Rubeln" führt. Die Hörergelder hat man gestrichen, die Prüfungsvergütungen abgeschafft, die Einführung einer Vergütung für Mehrunterricht verhindert, die Funktionszulagen für Leitungsaufgaben marginalisiert. Die neue Professorenbesoldung hat unter dem Diktat der Kostenneutralität die Basisvergütung für Neuberufene abgesenkt und die Alterszulagen gestrichen, um überhaupt einen Spielraum für Leistungsbezüge zu schaffen.
Statt durch Selbstauswahl Leistungsdifferenzierung zu ermöglichen, durch Profilbildung und vergleichende Evaluierung Angebotstransparenz herzustellen, durch Studiengebühren Wettbewerb zuzulassen, durch Deregulierung Autonomie und Selbstverantwortung zu stärken, setzt die so genannte "Konzertierte Aktion" aus Staat, Wirtschaft und Hochschulen lieber auf ein internationales Standortmarketing, also auf Imagewerbung anstelle von Produktmarketing und Aquisition.
Wir haben keinen Wettbewerb
- zwischen den Hochschulen, solange diese ihre Studierenden nicht auswählen dürfen und solange Studierende keine umworbenen, weil zahlende Kunden sind;
- zwischen den Fachbereichen, solange qualitäts- und leistungsbezogene Umschichtung von Ressourcen Ausnahmen bleiben;
- unter den Studierenden, solange am planwirtschaftlichen Zuteilungsverfahren der Zentralen Vergabestelle festgehalten wird;
- unter den Schulen, ihre Abiturienten bestmöglich aufs Studium vorzubereiten, solange prinzipiell jeder überall zugelassen werden muss und ein Studienversagen als persönliches Schicksal "verbucht" und hingenommen wird.
Wir verlieren
- im internationalen Wettbewerb Professoren, weil die Hochschulen auch künftig nicht wirklich markt- und leistungsgerecht bezahlen können, und
- Nachwuchskräfte, weil die Studien-, Promotions- und Habilitationszeiten zu lang sind und die Postdocs zu spät in die wissenschaftliche Selbständigkeit entlassen werden.
Ein Blick auf erfolgreiche ausländische Bildungssysteme lehrt, dass durch Leistungsvergleiche Transparenz, durch Autonomie Eigenverantwortung und durch Wettbewerb die gebotene Qualitäts- und Leistungssteigerung bewirkt werden könnten.
VI. Abschnitt
Dass eine auf Profilbildung, Leistungsbewertung und Wettbewerb zielende Erneuerung deutscher Hochschulen auch auf Widerstände stößt, ist verständlich angesichts des Kurswechsels, den sie erfordert, und des Mentalitätswandels, den sie bewirken soll. Und natürlich sollten Staat und Politik nicht nur Freiräume gewähren, sondern auch faire Rahmenbedingungen setzen. Die deutsche Gesellschaft aber muss lernen, auf Talent und Tüchtigkeit beruhende Ungleichheit zu akzeptieren.
Sie wird es rasch lernen müssen, zumal sich das Umfeld ohne staatliches Zutun längst verändert hat, und zwar ohne darauf zu warten, ob die gesellschaftliche Einsicht in das Notwendige wächst oder die politische Fähigkeit, der Einsicht gemäß zu handeln, zunimmt: Jeder kennt aus seinem Bekanntenkreis die steigende Zahl begabter junger Menschen, die zum Studium (nicht nur für einen Studienabschnitt) ins Ausland gehen und nicht selten dort bleiben. Immer mehr ausländische Universitäten drängen mit ihren Qualifizierungsangeboten auf den deutschen Bildungsmarkt. Und private Hochschulgründungen schießen hierzulande wie Pilze aus dem Boden. Sechzehn davon hat der Stifterverband unlängst auf den Prüfstand gestellt. Deren Strukturmerkmale verdeutlichen die Reformdefizite deutscher Staatsuniversitäten:
- Werbung um Studierende und Auswahl der Studierenden durch die Hochschule;
- seminaristischer Lehrbetrieb mit hoher Betreuungsintensität;
- modularer Studienaufbau mit Bachelor- und Master-Abschlüssen;
- englisch- und mehrsprachige Lehrangebote;
- Anwendungsnähe, Betriebspraktika, Auslandssemester;
- garantierte Studienzeiten, geringe Abbrecherzahl;
- hohe Studiengebühren, aber Freiplätze für begabte Bedürftige;
- Hochschulmanagement und -Controlling;
- Kosten- und Leistungsrechnung;
- leistungsbezogene Mittelverteilung und Vergütung;
- Hochschulmarketing und career services.
"Entlassen wir unser Bildungswesen in die Freiheit", hat Roman Herzog gefordert, und ich ergänze: in die Freiheit des Wettbewerbs. Warum sollten Staat und Politik den staatlichen Hochschulen die Freiheiten länger vorenthalten, welche die privaten, staatlich anerkannten Hochschulen in Deutschland schon heute genießen? Die staatlichen Hochschulen haben unter schwierigen Rahmen- und Überlastungsbedingungen eine solide Breitenausbildung und häufig auch Spitzenleistungen erbracht. Als "entfesselte Hochschulen" werden viele von ihnen alsbald zur internationalen Spitzenklasse aufschließen.