Der Topos "Weimar" – seine Füllung wie seine Verwendung – ist seit Kriegsende ein zuverlässiger Seismograf für den Zustand der bundesdeutschen Demokratie. Diese Diagnose geht über den immer noch gern zitierten Titel des 1956 erschienenen Buches des Journalisten Fritz René Allemann, "Bonn ist nicht Weimar", und dessen zahllose Aufgriffe, Abwandlungen und Anfechtungen hinaus. Von Anfang an und bis heute verstanden und verstehen die politischen und intellektuellen Eliten die Demokratie in diesem Land gerne mithilfe von Weimar.
Für die allerjüngste Vergangenheit gilt dies in einer lange nicht mehr erreichten Quantität und Intensität. Das Ergebnis der Bundestagswahl im September 2017, der Einzug der rechtspopulistischen AfD ins Parlament, die über Monate hinweg schmerzhaft stagnierende, zeitweise wie blockiert erscheinende Regierungsbildung, das dräuende Szenario von "Neuwahlen", das Schüler und Schülerinnen sonst nur aus dem Weimar-Kapitel ihrer Geschichtsbücher kennen – all das stimulierte Kommentatorinnen und Kolumnisten, Intellektuelle und Wissenschaftlerinnen zu Analogiebildungen und historischen Vergleichen, mindestens aber zu unterschwelligen Assoziationen. Und wer am Feierabend auf Sky parallel die Serie "Babylon Berlin" schaute, an dem zog das phantasmagorische Panorama einer Gesellschaft am Ende vorbei, die ihre Erschöpfung – fernsehtauglich inszeniert – mit dem Sieg der Sünde und der Gewalt auf den Straßen bezahlte. Berlin, 1929.
Während das Scheitern von Weimar nicht nur den Deutschen wieder deutlich, ja plastisch wie selten nach 1945 vor Augen tritt, beschäftigt sich die historische Forschung in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem mit den Chancen von Weimar. Spätestens seit dem neunzigsten Gründungsgedenken der Republik 2009 auch in der breiteren Öffentlichkeit wahrnehmbar, verweisen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die prinzipielle (Gestaltungs-)Offenheit der Geschichte der Weimarer Zeit: auf die demokratischen Verheißungen und Hoffnungen der ersten Jahre; auf die Möglichkeits- und Handlungsräume, die den historischen Akteuren noch bis zuletzt verblieben; aber auch auf das tatsächlich Erreichte, die Modernisierungsleistungen der sozialen Demokratie wie das 1918 eingeführte, im europäischen Vergleich besonders progressive aktive und passive Frauenwahlrecht oder die Arbeitslosenversicherung von 1927. Statt Weimar immer nur im Rückspiegel, vom Scheitern der Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 her zu sehen und zu verstehen, fordern sie – mal mehr, mal weniger programmatisch – eine antiteleologische Perspektive, die den offenen Erwartungshorizont der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ernst nimmt.
Die Dissonanz zwischen Forschungsstand und gesellschaftlicher Debatte, von der der Historiker Andreas Wirsching in einem Radio-Interview im April 2017 sprach, ist frappierend – und erklärungsbedürftig.
Im Folgenden und im Vorausblick auf das anstehende hundertste Gründungsjubiläum der Weimarer Republik möchte ich argumentieren, dass die beiden Perspektiven einander nicht – wie in der Debatte gelegentlich suggeriert – ausschließen. Weimar ist nicht nur von seinem Anfang oder von seinem Ende her zu verstehen, vom hoffnungsvollen Beginn oder vom fatalen Scheitern aus zu schreiben. In Anlehnung an den Titel von Ursula Büttners einschlägiger Gesamtdarstellung der Geschichte Weimars und an Vorstellungen einer contested democracy könnte man formulieren: Weimar war von Anfang an und bis zum Schluss eine herausgeforderte, ja fundamental umkämpfte Demokratie, in der Chancen und Scheitern oft dicht beieinander lagen.
Periodisierungsprobleme und Deutungsstreit
Eine Ursache für den in Abständen aufbrechenden Interpretationsstreit über die Geschichte Weimars ist ihre Deutungsoffenheit. Was für alle historischen Zeitphasen zu konstatieren ist, gilt für die Jahre zwischen 1918 und 1933 in ganz besonderer Weise. Die Weimarer Republik habe nämlich, so formulierte bereits der Historiker Detlev Peukert in seiner mittlerweile kanonischen Studie 1987, "weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende". Wo Anfang und Ende aber unbestimmt sind, lässt sich auch das Dazwischen nur schwerlich definieren: "Allein im Vergleich mit den mehr als einmal existenzgefährdenden Krisenjahren der frühen Nachkriegszeit und dann wieder der Weltwirtschaftskrise können die Jahre von 1924 bis 1929 als ‚stabil‘ erscheinen", so Peukert.
Spätere Kritiker wie der Geschichtswissenschaftler Thomas Mergel mochten dies so lesen, als werde der Weimarer Republik unter dem Rubrum der Diagnose einer krisenhaften Moderne auch noch der letzte Lebenssaft entzogen – ihre stabile Mitte, die goldenen Zwanziger.
Das gilt aber nicht nur für den Anfang, sondern auch für das Ende der Republik. Mit guten Gründen ließe sich der Schlusspunkt der Weimarer Geschichte weit vor 1933 setzen: 1930, als die Debatte um die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung den Anlass zum Koalitionsbruch gab. Das Regieren qua Notverordnung und Reichstagsauflösung, das danach begann und die drei Kabinette bis 1933 prägte, förderte den Anschluss an die autoritär auszudeutenden Elemente der Weimarer Reichsverfassung, die eben, wie Peukert formulierte, ein "offener Kompromiss" war – zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen und politischen Fraktionen ebenso wie zwischen Unitarismus und Föderalismus, Kaiserreich und Republik.
Dass die Weimarer Reichsverfassung uneindeutig blieb, dass sie heterogene Entwicklungspotenziale enthielt und eben nicht nur in Richtung einer parlamentarischen Demokratie wies, war ein Resultat jener uneindeutigen Situation, in der sie entstand. Ohne den weiteren Kontext jener "revolutionären Nachkriegskrise" – die Nachwirkungen des Kriegs, die revolutionären, gewaltgeladenen Bürgerkriegswirren in Berlin und anderswo, aber auch die Verhandlungen in Versailles – ist der demokratische Gründungsakt in der kleinen Provinzstadt Weimar nicht zu verstehen. Zwar wurden in den insgesamt 71 Sitzungen zwischen Februar und Juli 1919 zahlreiche programmatische Reden auf die Demokratie gehalten, aber die Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen Reichs (nicht: der Deutschen Republik) war unspektakulärer als jede Hochzeit: Reichspräsident Friedrich Ebert ratifizierte sie im Thüringischen Schwarzburg, wo er seinen Urlaub verbrachte und wohin ihm das gesamte Kabinett nachreiste.
Positives Gründungsgedenken als Demokratiebildung
Versuche, Nationalversammlung und Verfassungsgebung als positives Gründungs- und Demokratiegedenken zu etablieren, lassen sich in Vorbereitung des hundertsten Jahrestages und im Kontext des skizzierten Chancendiskurses dennoch ausmachen. Auch wenn die Zumutungen und Herausforderungen der jungen Demokratie keineswegs gänzlich ausgeblendet werden, gerät der weitere Kontext von Nationalversammlung und Verfassungsgebung zum peripheren Hintergrund. Das gilt in besonderer Weise für das alles in allem erfreulich vitale Demokratiegedenken am Ort des Geschehens, in Weimar selbst. Hier lassen sich zahlreiche institutionell oder in Publikationen verstetigte Initiativen für eine Demokratiegeschichte ausmachen, die sich nicht mehr am (aus dieser Sicht viel zu lange dominanten, nationalpädagogischen) Diskurs des Scheiterns orientiert, sondern durch ein positives Demokratiegedenken demokratischen Bürgersinn und zivilgesellschaftliches Engagement stimulieren will.
Die Weimarer Initiativen gruppieren sich um den 2013 von verschiedenen Akteuren städtischer Geschichtskultur im Verbund mit Wissenschaftlern gegründeten Verein Weimarer Republik e.V., dem der Jenaer Politikwissenschaftler Michael Dreyer und der Direktor des Weimarer Stadtmuseums Alf Rößner als dessen Stellvertreter vorstehen. Dreyer leitet daneben die 2016 ins Leben gerufene und am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität angesiedelte Forschungsstelle Weimarer Republik.
Das sicherlich ambitionierteste, zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln finanzierte Projekt ist jedoch die Gründung eines "Hauses der Weimarer Demokratie. Forum für Demokratie", das im gegenwärtigen Bauhaus-Museum gleich gegenüber dem Nationaltheater untergebracht ist und 2019 eröffnet wird. Entstehen soll ein Zwitter aus Museum und Bildungseinrichtung: Die Beschäftigung mit der Geschichte Weimars und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart der Demokratie sollen miteinander verschränkt werden. Dabei soll es nicht um Wissenstransfer gehen, sondern darum, "dass die Auseinandersetzung mit dem Kosmos der Weimarer Republik in einen übergeordneten gesellschaftspolitischen Diskurs um demokratische Werte gestellt wird".
Programmatische Aussagen wie die hier zitierten, die sich im Kontext nicht nur des regionalen Demokratiegedenkens zahlreich finden, deuten darauf hin, dass die Weimarer Republik nun auch – vielleicht vor allem – als positive Vorgeschichte der bundesdeutschen Demokratie und deren Scheitern als nur vorläufige Niederlage betrachtet werden sollen. Weimar brauche, so Michael Dreyer bereits anlässlich des neunzigsten Gründungsgedenkens 2009, "einen besseren Leumund": Das Augenmerk solle nicht nur darauf gerichtet werden, "was 1933–1945 zerstört wurde", sondern auf das, "was von Weimars Erbe nach 1945 wie Phönix aus der Asche" auferstanden sei – politische Traditionen ebenso wie beispielsweise die wortwörtlich aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Grundgesetzartikel, die das Verhältnis von Staat und Kirche regeln.
Dass die Geschichte der Nationalversammlung in Weimar selbst – anders als die deutsche Klassik, das Bauhaus und Buchenwald – kaum erinnert worden sei, so Alf Rößner, sei "zunehmend als Manko empfunden" worden: "Mit der politischen Wende in Ostdeutschland 1989 und der anschließenden Wiedervereinigung wuchs die Erkenntnis der positiven Bedeutung der Nationalversammlung für unsere Demokratiegeschichte stetig."
Weimar ist Weimar
All dies ist nicht neu, sondern in den weiteren Kontext einer Kritik am deutschen Sonderweg zu platzieren, die bereits seit Anfang der 1980er Jahre jene negativen Teleologien herausforderte, die die deutsche Geschichte stets auf den Fluchtpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 orientiert hatten. Die genaueren Umstände und die weitere Entwicklung dieser wissenschaftlich wie gesellschaftlich virulenten Kritik an der Sonderwegdeutung, die sich zunächst vor allem der Revision der preußischen, aber auch der Geschichte des Kaiserreichs widmete, lassen sich an dieser Stelle nicht nachzeichnen.
Seine Zweckdienlichkeit also unterscheidet dieses Demokratiegedenken von der produktiven, differenzierenden, Ambivalenzen und Komplexitäten herausstellenden antiteleologischen Forschung seit Anfang der 2000er Jahre. Ihre Autoren und Autorinnen betonten die Offenheit der Weimarer Geschichte und kritisierten die geschlossene Kontinuitätserzählung mit dem Fluchtpunkt 1933. Damit forderten sie auf innovative Weise die zuvor geläufigen konventionellen Deutungen heraus – manchmal schon im Titel, wie der 2000 von dem Verfassungsrechtler Christoph Gusy herausgegebene Sammelband "Demokratisches Denken in der Weimarer Republik" zeigt, der den Titel der klassischen, 1961 erschienenen Studie des Politikwissenschaftlers Kurt Sontheimer ("Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik") umkehrt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Bochumer Habilitationsschrift von Thomas Mergel, der am Beispiel der politischen und sozialen Praxis der Arbeit im Reichstag nachvollzog, wie demokratisches Bewusstsein und Handeln in the making, auf dem Wege alltäglicher parlamentarischer Zusammenarbeit und aufgrund der Notwendigkeit zum stetigen Kompromiss entstehen konnte.
Sperrgürtel um die Hoffnung
Die Autoren des hier vorgestellten Chancendiskurses beziehen sich gerne auf Aussagen aus den programmatischen Reden der Nationalversammlung. Oft taucht in diesem Zusammenhang der tautologische und gerade deswegen so eingängige Superlativ des Präsidenten der Nationalversammlung Eduard David (SPD) auf, der in der 71. Sitzung am 31. Juli 1919, an deren Ende die Weimarer Verfassung angenommen wurde, von Weimar als der "demokratischsten Demokratie" sprach.
Daneben handelte es sich aber auch um strategische Rhetorik, darauf ausgelegt, die ehemaligen alliierten Kriegsgegner, die den deutsch-preußischen Militarismus während des Kriegs propagandistisch gegeißelt hatten, von den besseren Potenzialen eines trotzdem überlegenen "deutschen Geistes" zu überzeugen – den "Geist von Weimar" also gegen den "Geist von Potsdam" ins Feld zu führen. Die Einrichtung einer demokratischen Ordnung war von Anfang an nicht nur heftig umstritten, sondern fundamental umkämpft: Als Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsrede am 6. Februar 1919 formulierte, dass sich "das deutsche Volk gegen eine veraltete, zusammenbrechende Gewaltherrschaft" erhoben habe, erntete er "lebhafte[n] Widerspruch von rechts", und als er eben jenen "Geist von Weimar" programmatisch gegen den "Geist von Potsdam" beschwor, war nur "lebhafter Beifall links" zu hören: Ein "Warnzeichen", meint der Politikwissenschaftler Detlef Lehnert, "die Bereitschaft zum Neubeginn nicht zu überschätzen".
Spätestens aber als die Parlamentarier und Parlamentarierinnen das Weimarer Nationaltheater verließen, wurden sie auf die uneindeutigen Konstellationen verwiesen, in denen die Weimarer Demokratie entstand. Nicht nur flaggte die konservativ-bürgerliche Bevölkerung Weimars, das (noch) wie eine Insel im roten Thüringen lag, häufig die Farben der Monarchie: schwarz-weiß-rot statt schwarz-rot-gold.
Zwar argumentiert der Verfassungshistoriker Heiko Holste in einer gerade erschienenen Arbeit, dass die Wahl des Ortes nicht, wie oft kolportiert, in erster Linie eine Flucht gewesen sei vor den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Berlin; wichtiger sei die nicht nur symbolisch, sondern auch räumlich vollzogene Abkehr von Preußen gewesen.
"Demokratischste Demokratie" in ungewisser Zeit
Diese fundamentale Ungewissheit der historischen Situation müsste auch das gegenwärtige Gedenken spiegeln. Die (deutsche) Geschichte als offene zu verstehen und mit den Augen der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen auf das Geschehen zu schauen, ihre Erwartungshorizonte und Zukunftshoffnungen ernst zu nehmen – all dies heißt ja nicht nur, das Positive aufzuspüren: die Hoffnungsgeschichte eines demokratischen Experiments. Zu Ende gedacht, impliziert das Plädoyer für eine offene Geschichte den riskanten Versuch, sich der fundamentalen Ungewissheit der Zeit neuerlich auszusetzen, die Implikationen politischer Gestaltungsoffenheit zu verstehen, die die historischen Akteure eben in die eine wie in die andere Richtung nutzen konnten. Eine solche Geschichtsaufklärung müsste sich trauen, das Ungewisse zu denken und die Risiken einer offenen Zukunft begreifbar zu machen. Lehrsätze für die Gegenwart – gleich welcher Art – lassen sich daraus nicht ableiten. Aus der Ungewissheit der Zukunft lässt sich höchstens ein diagnostisches Gespür für die Gegenwart gewinnen: Wohin wird die Reise gehen? Eine positive Normierung der deutschen Geschichte kommt jedenfalls nur denjenigen entgegen, die den "Schuldkult" lieber heute als morgen gegen eine sichernde, positive Nationalgeschichte eintauschen möchten.