Einleitung
Am 1. Juli 2002 ist der Gründungsvertrag des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft getreten. Der Vertrag wird nach dem Ort der diplomatischen Konferenz, die ihn im Sommer 1998 ausgehandelt und angenommen hat, "Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs" ("Rome Statute of the International Criminal Court") genannt.
Das rasche Inkrafttreten des Statuts ist ein grosser Erfolg, wenn man bedenkt, dass dieses im Falle anderer wichtiger völkerrechtlicher Verträge oft sehr lange auf sich warten ließ. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 trat zum Beispiel erst zehn Jahre später in Kraft. Die Tatsache, dass eine grosse Zahl von Staaten sich bemüht hat, das Römische Statut schnell zu ratifizieren, zeigt, dass dem Projekt eines ständigen Internationalen Strafgerichts große Bedeutung beigemessen wird: "Das Statut ist ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts und legt das Fundament für eine Institution, die die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen künftig deutlich stärken wird ... Wie oft haben wir uns angesichts millionenfachen Leids gewünscht und gefordert, dass die Verantwortlichen für Krieg, Vertreibung und Völkermord für ihre Verbrechen vor einem unabhängigen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden."
I. "Schwerste Verbrechen von internationalem Belang" - Die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs
Der Gerichtshof, der seinen Sitz in Den Haag haben wird, wird das erste ständige (das heißt als dauerhafte Institution errichtete) internationale Strafgericht sein, vor dem sich Einzelpersonen (nicht Staaten) wegen bestimmter "schwerster Verbrechen von internationalem Belang" (Art. 1 des Statuts) verantworten müssen. Art. 5 Abs. 1 des Statuts bestimmt die Verbrechen, welche der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegen, wie folgt:
"Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich in Übereinstimmung mit diesem Statut auf folgende Verbrechen:
a) das Verbrechen des Völkermords;
b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit;
c) Kriegsverbrechen;
d) das Verbrechen der Aggression."
Die ersten drei dieser vier Verbrechen werden in den folgenden Artikeln 6 bis 8 definiert. Die Definition des Völkermords ist aus der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 übernommen.
Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich nur auf Verbrechen, die nach Inkrafttreten des Statuts begangen worden sind (Art. 11 Abs. 1 des Statuts). Voraussetzung ist die Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch den Staat, in dessen Gebiet das mögliche Verbrechen stattgefunden hat, und/oder den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die des Verbrechens beschuldigte Person besitzt (Territorialitäts- bzw. Personalitätsprinzip).
Minderjährige unter 18 Jahren unterliegen nicht der Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs. Dagegen ist nach Art. 27 Abs. 1 des Statuts unerheblich, ob ein Angeklagter in amtlicher Funktion gehandelt hat: "Dieses Statut gilt gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef, als Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments, als gewählter Vertreter oder als Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar."
Diese Bestimmung spiegelt die geschichtliche Erfahrung wider, dass die Verbrechen, die der Gerichtshof ahnden soll, in der Regel von den höchsten Regierungsstellen eines Landes geplant und angeordnet worden sind. Die der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen verjähren nicht (Art. 29). Der Gerichtshof kann auf Grund einer Initiative eines Vertragsstaates, des UN-Sicherheitsrates oder des Anklägers ("Prosecutor", Leiter einer der deutschen Staatsanwaltschaft vergleichbaren Ermittlungs- und Anklagebehörde) tätig werden. Der Ankläger kann aus eigener Initiative Ermittlungen einleiten. Teil 3 des Statuts ("Allgemeine Grundsätze des Strafrechts") verpflichtet den Gerichtshof auf wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze wie das Prinzip der Gesetzesbestimmtheit ("nullum crimen sine lege", "kein Verbrechen ohne Gesetz"; "nulla poena sine lege", "keine Strafe ohne Gesetz"), das Rückwirkungsverbot, die Unschuldsvermutung und das Verbot der Doppelbestrafung. Die Verhängung der Todesstrafe durch den Gerichtshof ist ausgeschlossen.
Der Gerichtshof wird nach dem Prinzip der Komplementarität (oder Ergänzung) nur dann tätig, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine Straftat ernsthaft selbst zu verfolgen (vgl. Art. 17 des Statuts).
Wie wird es nun weitergehen? Für September 2002 ist eine Versammlung der Vertragsstaaten des Statuts vorgesehen. Sie soll das Verfahren für die Wahl der achtzehn Richter und des Anklägers bestimmen, die voraussichtlich im Januar oder Februar 2003 erfolgen wird, und zwar gemäss Art. 36 Abs. 6 des Statuts durch die Versammlung der Vertragsstaaten in geheimer Abstimmung. Jeder Vertragsstaat hat einen Vertreter in der Versammlung und eine Stimme (Art. 112). In dieser Hinsicht folgt das Statut dem in Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta niedergelegten Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten. Nach Etablierung seiner Verwaltung wird der Gerichtshof dann im Laufe des nächsten Jahres voll arbeitsfähig sein.
II. Zur Vorgeschichte des Internationalen Strafgerichtshofs
Unter "Völkerstrafrecht" ("international criminal law") sind völkerrechtliche Normen zu verstehen, die unmittelbar die Strafbarkeit natürlicher Personen wegen einer Verletzung international geschützter Rechtsgüter begründen.
In Nürnberg wurde zum ersten Mal in der modernen Geschichte des Völkerrechts klargestellt, dass Einzelpersonen für schwere Verstöße gegen grundlegende internationale Regeln zur Sicherung von Frieden und Mitmenschlichkeit unmittelbar kraft Völkerrechts bestraft werden können - unabhängig davon, wie die Gesetze ihres Landes gelautet haben, und auch ohne Rücksicht darauf, welche Stellung sie dort bekleidet haben.
Die spätere Staatenpraxis war jedoch von einer deutlichen Zurückhaltung gegenüber der Anwendung dieser völkerrechtlichen Straftatbestände gekennzeichnet. Die bundesdeutsche Justiz ahndete die nationalsozialistischen Verbrechen ausschließlich auf der Grundlage des deutschen Strafrechts; die in Nürnberg geprägten völkerstrafrechtlichen Normen wurden nicht angewandt, sondern als Ausdruck einer "Sieger-Justiz" abgelehnt. Bei Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahre 1952 legte die Bundesrepublik einen Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 der Konvention ein, um die Möglichkeit einer Bestrafung von ihrer Staatsgewalt unterstehenden Personen "nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen" auszuschliessen.
Arbeiten der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, eines Unterorgans der UN-Generalversammlung, die bis auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen, aber erst durch die weltpolitische Wende von 1989/90 einen neuen Impetus erhielten, führten im Jahre 1996 zur Annahme des Entwurfs eines "Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit" ("Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind").
Der Entwurf wurde von den 1992 ebenfalls im Rahmen der Völkerrechtskommission begonnenen Arbeiten an einem Statut eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs, welches sowohl die Zuständigkeit des Gerichts wie das von ihm anzuwendende materielle Strafrecht regelt, "überholt", bleibt aber als "Referenzwerk für den Stand der gewohnheitsrechtlichen Entwicklung" bedeutsam. Die Arbeiten der VN-Völkerrechtskommission und eines besonderen Vorbereitungsausschusses führten sodann zu der Staatenkonferenz in Rom im Juni und Juli 1998, die das "Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs" annahm. Für das Statut stimmten in Rom 120 Staaten, 21 enthielten sich der Stimme, sieben (nämlich die USA, Irak, Libyen, Israel, Jemen, Katar und die Volksrepublik China) stimmten dagegen.
Die Präambel des Statuts
Das Projekt eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs wurde erheblich gefördert durch den erfolgreichen "Probelauf" des Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) mit Sitz in Den Haag, dessen Errichtung der UN-Sicherheitsrat im Jahre 1993 durch eine Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta beschlossen hatte.
III. Die Opposition der Vereinigten Staaten
Obwohl die von Präsident Bill Clinton geführte amerikanische Regierung das Projekt eines ständigen internationalen Strafgerichts ursprünglich unterstützt hatte, stimmte sie in Rom gegen das Statut und unterzeichnete es nicht. Hauptgrund der Ablehnung war die Befürchtung, die Bestimmungen des Statuts böten einen unzureichenden Schutz gegen strafrechtliche Verfolgungen (amerikanischer Bürger) aus politischen Gründen. Insbesondere bestand die Sorge, im Ausland eingesetzte amerikanische Soldaten könnten gegen den Willen der USA vor den Gerichtshof gezogen werden. Am 31. Dezember 2000, kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft, unterzeichnete Clinton das Statut dann doch, denn nur als Unterzeichnerstaat könnten die USA weiteren Einfluss auf die Entwicklung des Gerichts nehmen.
Wegen des Prinzips der Komplementarität (vgl. oben Teil I) erscheinen die Befürchtungen der USA unbegründet. Amerikanische Staatsangehörige könnten nur dann vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden, wenn die Vereinigten Staaten nicht willens wären, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung selber ernsthaft durchzuführen (vgl. Art. 17 Abs. 1 des Statuts). Schon eine ganz entfernte Möglichkeit, US-Amerikaner könnten sich vor einem internationalen Gericht verantworten müssen, genügte aber den souveränitätsbewussten USA für eine Ablehnung des Strafgerichtshofs. Dass damit eine wesentliche Schwächung der neuen Institution verbunden ist, steht außer Frage. Solange die USA in Opposition zu dem Gericht verharren, werden auch andere große "gerichtshofskeptische" Staaten (wie die Volksrepublik China, Indien, Pakistan, Indonesien und auch Japan) ihre Haltung nicht ändern. Zugleich bildet die Zukunft des Strafgerichtshofs den Gegenstand eines nicht nebensächlichen Dissenses zwischen den USA einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union andererseits.
IV. Die internationale Strafjustiz als Indiz einer stärkeren Integration der internationalen Gemeinschaft
Mit dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft um einen wesentlichen Baustein erweitert worden.
Vom Gedanken der Souveränität der Staaten beherrscht,
Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist ein weiteres Indiz dafür, dass die alte Trennung zwischen nationalem (innerstaatlichen) Recht und Völkerrecht (zwischenstaatlichem Recht) zunehmend überwunden wird.
V. Grenzen des internationalen Strafrechts
Die Befürworter des Strafgerichtshofs sehen in ihm ein Mittel der Konfliktprävention. Die Wirkung eines effektiven Internationalen Strafgerichtshofs sei, so Bundesaußenminister Fischer, dreifach: "Erstens können die Verantwortlichen für Krieg, Vertreibung und Völkermord nicht länger damit rechnen, unter dem Schutzschirm nationaler Souveränität straflos auszugehen ... Zweitens wird von der Arbeit des Gerichtshofes eine Abschreckungs- und Präventionswirkung ausgehen, die das Kalkül potenzieller Täter mitbestimmen wird. Sie werden sich künftig nirgends mehr sicher fühlen können. Und drittens wird der Strafgerichtshof auf die nationalen Strafrechtssysteme und dortigen Rechtsüberzeugungen positiv ausstrahlen."
Gleichwohl dürfen an die Existenz des Gerichtshofs keine zu großen Erwartungen geknüpft werden, selbst wenn die Staaten ihm volle Unterstützung gewähren werden. Die individuelle Verfolgung und Bestrafung der Täter schwerer völkerrechtlicher Verbrechen ist richtig und notwendig, und sie kann auch ein Mittel der Abschreckung sein.
Deshalb sollte sich die internationale Staatengemeinschaft nunmehr endlich mit Energie der seit mehr als zehn Jahren verschleppten Reform des UN-Sicherheitsrates zuwenden. Der Rat, welcher "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" trägt (Art. 24 der UN-Charta) und das einzige Organ der internationalen Gemeinschaft ist, das den Staaten völkerrechtlich bindende Anweisungen erteilen kann, muss in seiner Zusammensetzung und seinem Verfahren an eine im Vergleich mit 1945 grundlegend gewandelte internationale Situation angepasst und so in seiner Legitimität und Effektivität gestärkt werden.