I. Einleitung
Die Existenz von Armut zählt bis in die Gegenwart hinein zu den größten ungelösten gesellschaftlichen Problemen. Obwohl der durchschnittliche Lebensstandard in Europa im Vergleich mit dem der Bevölkerung in anderen Teilen der Welt als relativ hoch und abgesichert gelten kann, besteht Konsens darüber, dass es auch in reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten Arme gibt und ein Mindestmaß an sozialer Sicherung sowie gesellschaftlicher Teilhabe nicht für alle Menschen verwirklicht ist.
Armut und soziale Ausgrenzung in Europa werden mit dem Zusammenrücken der europäischen Staaten verstärkt thematisiert. Neben der Wirtschafts- und Währungsunion ist es seit Maastricht erklärtes Ziel der Gemeinschaft, das Wohlstandsgefälle zu verringern und die heterogenen Arbeits- und Lebensbedingungen einander anzunähern. Trotz großer Unterschiede in den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen ähnelt sich der Problemdruck: Verfestigte Arbeitslosigkeit, ökonomische Strukturkrisen und die Folgen sich wandelnder Erwerbs- und Familienbiographien machen nicht an den Ländergrenzen halt, sondern sind Umbruchsmerkmale vieler europäischer Gesellschaften.
Information und vergleichende Dokumentation sind erste grundlegende Schritte für das Verständnis europäischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein Vergleich von Armut und Teilhabe über Ländergrenzen hinweg ist jedoch nicht unproblematisch. Zum einen ist es nur Gewinn bringend, soziale Benachteiligungen zu vergleichen, wenn man den unterschiedlichen nationalstaatlichen Modellen sozialer Sicherung Rechnung trägt, die den jeweiligen Risiken erst Gestalt geben. Zum anderen ist gerade das brisante Feld der Armutspolitik und -forschung von Kämpfen um Definitionen und methodische Vorgehensweisen bei der empirischen Messung beherrscht. Dies macht die vergleichende Darstellung von Armut und Ausgrenzungsrisiken noch voraussetzungsreicher.
Nicht zuletzt ist es jedoch eine unbefriedigende Datenlage, die europaweiten Analysen prekärer Lebenslagen im Wege steht. Nur länderübergreifende Studien ermöglichen eine vergleichende Sozialstatistik; mit der dafür erforderlichen Harmonisierung geht allerdings der Verlust einer Vielzahl nationaler Charakteristika einher, die Armutsrisiken erklären könnten. Eine der wenigen zur Verfügung stehenden europäischen Quellen ist das von dem Statistischen Amt der EU (Eurostat) koordinierte "European Community Household Panel on Income and Living Conditions" (ECHP), das als repräsentative Bevölkerungsumfrage in allen EU-Mitgliedsstaaten (Ausnahme Schweden) durchgeführt wurde.
Einen anderen Ansatz verfolgt die Euromodul-Initiative, die europäische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Feld der Sozialberichterstattung und Lebensqualitätsforschung versammelt. Dieser Zusammenschluss wird am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mit dem Ziel koordiniert, ein Umfrageinstrument für europäische Wohlfahrtsvergleiche zu etablieren, das neben allgemeinen Lebensbedingungen auch subjektives Wohlbefinden und die Bewertung individueller Lebensumstände zum Inhalt hat und sich nicht nur auf EU-Mitgliedsstaaten beschränkt. Zu diesem Zweck ist ein Umfrageinstrument - das Euromodul - entwickelt worden, das bereits in neun Ländern als repräsentative Bevölkerungsumfrage Umsetzung gefunden hat.
II. Armut und soziale Ausgrenzung im Kontext europäischer Politik
Seit Mitte der siebziger Jahre widmet sich die Europäische Union explizit der Bekämpfung von Armut mit mehreren Programmen, die zu Forschungs- und sozialpolitischen Koordinierungszwecken aufgelegt wurden. Im ersten (1975 - 1980) und zweiten (1984 - 1988) Armutsbekämpfungsprogramm ging es vornehmlich um Armutsdefinitionen sowie um vergleichende Analysen politischer Maßnahmen, gegen Armut. Ungenügendes Einkommen als Grundlage für eine Armutsanalyse stand dabei im Vordergrund, obwohl die schon damals etablierte und auch heute noch gebräuchliche Armutsdefinition auf einem pluralistischen Armutsbegriff basiert. Danach gelten diejenigen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen als arm, " ... die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist"
Erst im dritten Armutsprogramm (1989 - 1994) wurde die Beschränkung auf finanzielle Ressourcen aufgeweicht und zusätzlich der mehrdimensionale Charakter von Armut sowie Integrationsdefizite berücksichtigt. Im Zuge dieser Entwicklung kam es auch zu einem Austausch zentraler Begrifflichkeiten. Nicht mehr allein von Armut war die Rede - die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung gelangte ins Zentrum europäischer Grundsatzdokumente und sozialpolitischer Überlegungen.
Im März 2000 einigte sich der Europäische Rat in Lissabon auf eine Zehn-Jahres-Strategie zur Herstellung sozialen Zusammenhalts in Europa, die u. a. die Stärkung des europäischen Sozialmodells und die Entwicklung von Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung umfasst. Im Vordergrund stehen dabei zunächst Datensammlungen und Dokumentationen, denn obwohl sich die Rede von den Gefahren sozialer Ausgrenzung breit durchgesetzt hat, gibt es nur wenig empirisches Material, das man zur Unterstützung dieser Behauptungen heranziehen könnte. Im Auftrag der belgischen EU-Präsidentschaft ist die Indikatorensuche vorangetrieben worden, um zu einer vergleichenden Dokumentation von Ausgrenzungsrisiken zu kommen. Geeinigt hat man sich auf ein Set von 18 Indikatoren, die jedoch erneut ein großes Schwergewicht auf den monetären Ressourcenbereich legen. Darüber hinaus sollen Defizite im Bildungs- und Wohnbereich, bei der Teilnahme am Erwerbsleben und der Gesundheitszustand erfasst werden. Zu den Zielvorgaben der Zehn-Jahres-Strategie gehört auch die Erstellung nationaler Aktionspläne.
Mit den geschilderten Anstrengungen, die europäische Debatte um Ausgrenzungsrisiken anzukurbeln, soll nicht zuletzt die Etablierung gemeinsam geteilter sozialer Rechte vorangebracht und auf einen Konsens über sozialpolitische Rahmenbedingungen gedrängt werden. Auch äußert sich darin die deutliche Notwendigkeit, ressortübergreifende Politik zur Bekämpfung sozialer Notlagen anzustoßen, bspw. Armutspolitik nicht ohne Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Im Mittelpunkt der Absichtserklärungen für eine Politik gegen soziale Ausgrenzung bis 2003 steht denn auch die effizientere Förderung der Arbeitsmarkteingliederung.
Für die politische Reformdiskussion hat die Debatte um Formen sozialer Ausgrenzung also durchaus ihre Berechtigung: Partizipation und Gerechtigkeit bekommen einen höheren Stellenwert; außerdem birgt sie eine beträchtliche skandalisierende Funktion. Kritisch kann hingegen eingewendet werden, dass es sich lediglich um ein neues Vokabular für altbekannte Probleme handelt, welches darüber hinaus so allgemein, vage und vordergründig dramatisierend ist, dass es für keinerlei konkrete Aussagen, geschweige denn sozialpolitische Konsequenzen taugt.
III. Konzeptionelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Armut und sozialer Ausgrenzung
Armut und soziale Ausgrenzung werden oft in einem Atemzug genannt. Tatsächlich stehen sie in einem engen Zusammenhang - und doch bezeichnen sie durchaus verschiedene Sachverhalte und Perspektiven auf ihren Gegenstand.
Während sich Armut dezidiert auf den Mangel an materiellen Ressourcen als illegitime Form sozialer Ungleichheit konzentriert, liegt dem Ausgrenzungsdiskurs die zentrale Annahme zugrunde, dass mehrfache soziale Benachteiligungen nicht nur für den Einzelnen den Verlust von Teilnahmechancen bedeuten, sondern die gesamtgesellschaftliche Stabilität und demokratische Ordnung als Ganzes gefährden. Als Orientierung dienen der klassischen Armutsforschung minimale Versorgungsstandards; die Messung ist überwiegend an Einkommenshöhen ausgerichtet. Für Industrie- und Wohlfahrtsstaaten mit vergleichsweise hohem Lebensstandard finden relative Ansätze Verwendung, die Armut ins Verhältnis zum durchschnittlichen Lebensstandard der Bevölkerung setzen. Es wird unterstellt, dass sich die Standards für Grundbedürfnisse und damit auch die Armutsgrenzen im Laufe der Zeit verändern.
Soziale Ausgrenzung hingegen fokussiert die Gewährleistung sozialer Rechte und rückt partizipatorische sowie integrative Elemente in den Vordergrund. Das Konzept ist mehrdimensional und beruht auf der Annahme, dass sich soziale Benachteiligungen gegenseitig verstärken. Soziale Ausgrenzung wird definiert als Ausschluss von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten: als Marginalisierung am Arbeitsmarkt verbunden mit gesellschaftlicher Isolation oder allgemeiner als Vorgang eines kumulativen Ausschlusses von Personen aus einer Mehrzahl unterschiedlicher, für die Lebensführung relevanter Funktionsbereiche der Gesellschaft. Generell gilt diese mit der Ausgrenzungsperspektive einhergehende Betonungsverschiebung - von Ressourcenmangel zu Teilhabeaspekten - als größter Gewinn für die Analyse sozialer Benachteiligung.
Diese zugespitzte Gegenüberstellung von Armut und sozialer Ausgrenzung macht die grundsätzlichen Unterschiede deutlich. Konzeptionelle und methodische Entwicklungen neueren Datums weichen diese strikte Unterscheidung jedoch in mehrfacher Hinsicht auf: Einkommen ist längst nicht mehr der einzige Indikator für prekäre Lebenslagen, neben Verteilungsaspekten findet die Analyse von Handlungsspielräumen mehr und mehr Beachtung, und auch die Wichtigkeit der dynamischen und mehrdimensionalen Perspektive ist weithin akzeptiert.
Auch der Begriff "soziale Ausgrenzung" ist weit davon entfernt, Konkretes zu benennen oder im Wortsinn gebraucht zu werden. Genauso wie ein Ort außerhalb der Gesellschaft schlecht vorstellbar ist, bedarf es guter Begründung, einen Schwellenwert festzulegen, der den Umschlagpunkt von Benachteiligung in Ausgrenzung markiert. Wie die Armutsforschung ist auch die Ausgrenzungsperspektive nur normativ und innerhalb gesellschaftlicher Kontexte mit Inhalt zu füllen.
Angetrieben durch die politische Schlagkraft, die dem Konzept auf europäischer Ebene verliehen wurde, wird es derzeit auf zweierlei Art instrumentalisiert. So verweist soziale Ausgrenzung in Gestalt einer provokanten Metapher einerseits auf ein neues Deutungsmuster für soziale Benachteiligungen: Die Annahme, dass sich die Gesellschaft mehr und mehr polarisiere, bestimmt diesen Blickwinkel ebenso wie die Verunsicherung der Mittelschichten, vor sozialem Abstieg und Degradierungen nicht mehr geschützt zu sein.
IV. Möglichkeiten der empirischen Messung
Im Gegensatz zur Armutsanalyse lässt sich für eine schlüssige Dokumentation sozialer Ausgrenzung noch nicht auf eine etablierte Forschungstradition verweisen. Das bisher Gesagte legt nahe, dass es zwei grundlegende Richtungen zu unterscheiden gibt, in denen der Ausgrenzungsbegriff Verwendung findet: Ausschluss und Marginalisierung (vgl. die Übersicht).
Mit länderübergreifenden repräsentativen Bevölkerungsumfragen lassen sich vor allem Marginalisierungsprozesse operationalisieren. Dafür können wir auf Befunde zu relativer Einkommensarmut, Deprivation, mehrdimensionaler Unterversorgung, gesellschaftlicher Teilhabe und subjektiver Ausgrenzungserfahrung zurückgreifen. Unübersehbar sind dabei die Lücken, denn nicht alle Indikatoren sind für mehrere Länder verfügbar. Insbesondere die subjektive Perspektive auf Ausgrenzungsprozesse findet bislang wenig Beachtung.
Einkommensarmut ist der am weitesten verbreitete Indikator für prekäre materielle Lebenslagen (Kapitel V.1). Relative Einkommensarmut bemisst sich in diesem Fall an einer 50-Prozent-Schwelle eines durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens, das durch spezifische Gewichtungsverfahren Haushaltsgrößen berücksichtigt.
Die generelle Kritik an der Messung von Armut über das erhobene monatliche Haushaltseinkommen mündet darin, dass die Verwendung der finanziellen Ressourcen im Dunkeln bleibt. Diesem Defizit kann man mit Hilfe von Lebensstandard-Indikatoren begegnen.
Indikatoren zur gesellschaftlichen Teilhabe sind bislang nur spärlich in europäischen Umfragen enthalten, so dass sich deren Abhängigkeit von prekären Versorgungslagen vergleichend nur für eine eingeschränkte Länderauswahl darstellen lässt. Mit Euromodul-Daten können wir deren Zusammenspiel in Ungarn, Spanien, Slowenien, Schweiz und Deutschland beschreiben (Kapitel V.3). Abschließend werden für Deutschland Daten vorgestellt, die Gründe für subjektive Ausgrenzungserfahrung benennen (Kapitel V.4).
V. Ausgewählte empirische Befunde zu Armut, Unterversorgung und gesellschaftlicher Teilhabe in Europa
1. Einkommensarmut und Unterversorgung in den EU-Mitgliedsstaaten
Eine vergleichende Darstellung von Armutsquoten und Ressourcenausstattung zeigt die große Heterogenität der Lebensbedingungen innerhalb der Europäischen Union (Tabelle 2). Dabei lässt sich ein beachtliches Wohlstandsgefälle von Nord nach Süd beobachten. Für 1996 bestätigt sich ein schon bekanntes Muster: Die niedrigsten Armutsquoten finden sich in den skandinavischen Ländern, die sich durch die Bereitstellung einer hohen, universalistischen Absicherung gegen soziale Risiken auszeichnen (sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatstypus). Hingegen sind es die südeuropäischen Länder, die die höchsten Armutsquoten aufweisen, in Spanien, Italien, Portugal und Griechenland hat etwa ein Fünftel der Bevölkerung weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Die staatlichen Schutzmechanismen gegen Armut und Arbeitslosigkeit sind in diesen Ländern nur schwach ausgeprägt (rudimentärer Typus). Ergänzung finden diese allerdings durch ein ausgeprägtes Netz familiärer Hilfeleistungen.
Auch in den angelsächsischen Ländern liegt die Armutsquote bei ca. 20 Prozent. Großbritannien und Irland werden in Bezug auf ihre Sozialversicherungssysteme dem liberalen Typus zugeordnet, der zwar eine staatliche Mindestsicherung garantiert, darüber hinaus seine Bevölkerung aber eher schwach gegen soziale Risiken wie etwa Arbeitslosigkeit absichert und auf private Vorsorge setzt. Dazwischen gibt es ein heterogenes Mittelfeld (konservativ-korporatistischer Typus), das stark lohnarbeitszentriert ist und Statuserhalt anstrebt. Dieser Gruppe ist auch Deutschland mit einer Armutsquote von 13,7 Prozent im Jahr 1996 zuzuordnen.
Tabelle 2 zeigt ergänzend Indikatoren zur Ressourcenausstattung und Unterversorgung in den EU-Mitgliedsstaaten, an denen man ablesen kann, ob ein bestimmter Grundbedarf gesichert ist. Die groben Linien der Einkommensanalyse bestätigen sich. So sind es erwartungsgemäß vor allem die südeuropäischen Länder, aber auch Irland, in denen ein relativ hoher Anteil der Haushalte große Schwierigkeiten hat, mit dem Geld auszukommen, sich weit verbreitete Konsumgüter nicht leisten kann und auch nicht über ein Bad bzw. eine Dusche verfügt. In den anderen Ländern ist diese grundlegende Versorgung nahezu durchgehend gewährleistet trotz unterschiedlicher Armutsquoten.
Die Wohlfahrtsstaaten sozialdemokratischen und konservativen Typs rücken in Bezug auf einen gewährleisteten minimalen Lebensstandard näher zusammen und grenzen sich ihrerseits vom deutlich schlechter gestellten europäischen Süden, aber auch von Irland und Großbritannien ab. Einige Abweichungen gibt es dennoch: So hat Finnland trotz relativ geringer Einkommensarmut einen hohen Anteil der Bevölkerung, der finanzielle Probleme beklagt und auf Basisressourcen verzichten muss. In Deutschland hingegen ist eine Basisversorgung eher verwirklicht, obwohl die Armutsquote im europäischen Vergleich für 1996 im oberen Mittelfeld liegt.
2. Lebensstandard und Unterversorgung
Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man über die Verfügbarkeit von essentiellen Konsumgütern und Lebensstandardindikatoren hinausgeht und zudem eine Einschätzung der Bevölkerung über das, was ein Minimum an Versorgung ausmachen sollte, in die Analyse einbezieht. Für eine entsprechende Auswertung stehen bislang Euromodul-Daten aus fünf Ländern zur Verfügung: Neben Deutschland und Spanien können wir uns auch ein Bild vom Lebensstandard in drei Nicht-EU-Mitgliedsstaaten bzw. Beitrittskandidaten machen, die zudem erheblich in ihrem Wohlstandsniveau divergieren: Schweiz, Slowenien und Ungarn.
Über die Ländergrenzen hinweg gibt es einen Konsens über das, was eine Grundversorgung ausmachen sollte (Tabelle 3). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland zählt die sanitäre Einrichtung, eine Waschmaschine, eine warme Mahlzeit am Tag, ein Telefon und einen Fernseher heutzutage zur notwendigen Ausstattung eines Haushaltes. Dies ist mit nur wenigen Abweichungen auch in den anderen Ländern der Fall. Generell steigen die Ansprüche mit dem gewohnten Niveau an Lebensqualität. Die Zahlen spiegeln darüber hinaus auch kulturelle und sozialstaatliche Charakteristika. So ist die private Rentenvorsorge vor allem in Deutschland und der Schweiz ein Thema. Luxusartikel wie bspw. die Geschirrspülmaschine zählen in wohlhabenderen Ländern für einen etwas höheren Prozentsatz der Bevölkerung zum Minimalstandard.
Tabelle 3 weist zusätzlich für die einzelnen Merkmale die Verfügbarkeit bzw. den Mangel aus. Die Zahlen bestätigen den hohen Lebensstandard in der Schweiz und in Deutschland mit einer Basisversorgung, die nahezu jedem zugänglich ist. Hier sind jedoch vor allem Vorsorgeleistungen wie die private Altersvorsorge und monatliches Sparen für etwa ein Fünftel der Bevölkerung problematisch. In Ungarn hingegen ist die Versorgungslage prekärer, jeder zweite muss bspw. auf neue Kleidung, neue Möbel, finanzielle Vorsorge oder eine einwöchige Urlaubsreise verzichten. Für einen vergleichsweise hohen Bevölkerungsanteil sind grundlegende Konsumgüter wie etwa eine Waschmaschine oder ein Telefon nicht erschwinglich.
Tabelle 4 fasst diese Einzeleindrücke zusammen. Etwa 30 Prozent der Ungarn haben Defizite bei der Grundversorgung, während diese in Slowenien für mehr Menschen (96 Prozent) als in Spanien (94 Prozent) gegeben ist. In Deutschland und der Schweiz sind alle Lebensstandardindikatoren der Liste für mehr als die Hälfte der Bevölkerung unproblematisch zu beschaffen, in Spanien gilt dies nur für ein Drittel, in Ungarn sogar nur für ein Zehntel. Entsprechend hoch ist der Anteil derjenigen Ungarn, die sich mehr als die Hälfte der gesamten Lebensstandardliste nicht leisten können (18 Prozent) und als unterversorgt gelten können.
Vor allem Niedrigeinkommensbezieher und Personen mit niedrigem Ausbildungsniveau sind in allen Ländern von Unterversorgung betroffen. Die Arbeitsmarktanbindung ist ebenfalls von großem Einfluss auf das Deprivationsrisiko: Langzeitarbeitslosigkeit (Deutschland, Spanien), Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit (Deutschland, Schweiz, Spanien) und Ruhestand (Spanien) sind entscheidende Problemlagen. Kinderreiche Familien sind in Spanien und Ungarn relativ häufig von Unterversorgung betroffen, in Deutschland und Ungarn vor allem Ein-Personen-Haushalte und Alleinerziehende.
3. Prekäre Lebenslagen und Teilhabe
In der Debatte um soziale Ausgrenzung geht es wesentlich darum, ob kumulierende Benachteiligungen auch grundlegende Partizipationsvoraussetzungen der Individuen tangieren. Neben sozialen Notlagen für den Einzelnen ginge dies, so die Annahme, auch mit der Gefährdung der gesamtgesellschaftlichen Stabilität und Integrationsleistung einher.
Um diese Zusammenhänge annäherungsweise abzubilden, können wir auf Indikatoren zurückgreifen, die einerseits Aufschluss über gesellschaftlichen Zusammenhalt, Normbindung und generalisiertes Vertrauen geben, andererseits Einsamkeit, Pessimismus und Ängste der Menschen beschreiben.
Schwache Normbindung und generelles Misstrauen gegenüber den Mitmenschen ist in den postsozialistischen Gesellschaften am stärksten ausgeprägt. Besonders auffällig ist die hohe Zustimmung zu normwidrigem Handeln, um im Leben voranzukommen. In Ungarn können acht von zehn Personen dieser Aussage zustimmen, in Slowenien ist es jeder Zweite. Derartige anomische Tendenzen sind vor allem Begleiterscheinung von Umbruchsgesellschaften in Zeiten eines tief greifenden sozialen Wandels, wie ihn die osteuropäischen Gesellschaften mit allen damit verbundenen Problemen im letzten Jahrzehnt durchlaufen haben.
Individuelle Ängste und Sorgen, Einsamkeit und Pessimismus sind zwar auch stärker in Ungarn als in den westeuropäischen Staaten ausgeprägt. Slowenien ist davon im Vergleich jedoch weniger belastet; in der Schweiz und Deutschland hingegen blickt ein relativ hoher Bevölkerungsanteil pessimistisch in die eigene Zukunft und wird immer wieder von Ängsten und Sorgen geplagt.
Die Abbildung veranschaulicht, wie Ressourcenmangel mit geringen Teilhabechancen einhergeht. Es wird zwischen finanziellen Problemen als eindimensionaler Problemlage und mehrfacher Unterversorgung (in den Bereichen Einkommen, Lebensstandard und Wohnen) unterschieden. Generell lässt sich zunächst die Aussage treffen, dass Anomie und Ängste umso weiter verbreitet sind, je schlechter die materielle Ressourcenausstattung ist. In Deutschland, wo anomisches Verhalten und individuelle Ängste in der Gesamtbevölkerung vergleichsweise schwach ausgeprägt sind, ist jeder Dritte der mehrfach Unterversorgten davon betroffen; Einsamkeit, Ängste und Pessimismus sind hier häufiger mit Ressourcenmangel verbunden als in den Vergleichsländern. Dies ist angesichts des relativ hohen sozialstaatlichen Absicherungsniveaus in Deutschland erklärungsbedürftig.
Zwei Thesen bieten sich dafür an: Zum einen ist es das allgemeine Niveau von Wohlstand und Lebensqualität in einem Land, das die individuelle Bewertung prekärer Lebensumstände beeinflusst. Die persönliche Verantwortlichkeitszuschreibung ist geringer, wenn Armut oder Arbeitslosigkeit generell weit verbreitet sind. Diese Erklärungsebene betont allgemeine Vergleichsprozesse und Ansprüche, die sich an den Lebensumständen einer Region orientieren. Als zweite Erklärung lassen sich verschiedenartig ausgeprägte soziale Unterstützungsnetzwerke anführen, die Armut und mehrfache Unterversorgung abmildern können. Dies gilt insbesondere für Spanien, wo entsprechende private Hilfeleistungen eine wesentliche Komponente im Wohlfahrtsmix ausmachen. Vor allem im Vergleich zeigt sich, dass eine prekäre Lebenslage mit kumulierter Unterversorgung in Deutschland häufiger ohne familiären Rückhalt und ein stabiles soziales Beziehungsnetz bewältigt werden muss.
4. Ausgrenzungserfahrung und ihre Gründe
Für Deutschland können wir abschließend exemplarisch Gründe betrachten, die nach Meinung der Befragten dazu geführt haben, dass sie sich im Laufe des letzten Jahres entweder ganz oder teilweise ausgeschlossen gefühlt haben. Sie stehen, wie Tabelle 6 veranschaulicht, in besonderem Maße mit dem Arbeitsmarktzugang in Verbindung. Nur wenige befragte Deutsche sehen sich allerdings ganz und gar "außen vor", viel öfter empfinden sie ihre Teilhabemöglichkeiten als eingeschränkt. Der am deutlichsten hervortretende Grund für derartige Ausgrenzungserfahrungen sind finanzielle Engpässe, in Westdeutschland beklagen 23 Prozent, in Ostdeutschland 35 Prozent der Bevölkerung deswegen ein Integrationsdefizit.
Etwa jeweils 30 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung fühlen sich wegen einer schwierigen Arbeitsplatzsuche, wegen Arbeitslosigkeit im Haushalt oder Problemen im Berufsalltag ganz oder teilweise ausgeschlossen. Auch gesundheitliche Probleme sind ein wichtiges Integrationshemmnis. Dies betrifft vor allem ältere Menschen und ist oft an ein niedriges Einkommensniveau gekoppelt. Für etwa ein Zehntel der Bevölkerung sind Probleme mit Freunden, Verwandten, der Familie oder kritische Lebensereignisse wie Scheidung, Trennung oder Tod eines nahe stehenden Menschen mit eingeschränkter sozialer Teilhabe verbunden. Ausweglosigkeit und Abwärtsdynamiken entstehen gerade dann, wenn kritische Lebenssituationen mit anderen Problemlagen wie finanziellen Engpässen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zusammentreffen.
VI. Abschließende Bemerkungen
Anhand der Einkommens- und Lebensstandardindikatoren lässt sich unschwer erkennen, wie stark Lebensbedingungen, Wohlstand und Versorgungsdefizite in Europa divergieren. Mit der Erweiterung der Union wird sich die Heterogenität der Lebensumstände, der kulturellen sowie sozialpolitischen Traditionslinien nochmals verstärken und erhöhten Druck auf die angestrebte Angleichung der Lebensbedingungen ausüben. Sozialen Ausgrenzungsprozessen wird dabei nicht mit einer länderübergreifenden Strategie zu begegnen sein; sie stehen im Gegenteil in enger Verbindung mit wohlfahrtsstaatlichen und nationalspezifischen Eigenheiten, mit dem allgemeinen Niveau an Lebensqualität in einem Land und den zur Verfügung stehenden Unterstützungsnetzwerken. Obwohl Desintegration, anomisches Verhalten sowie individuelle Ängste und Sorgen mit Arbeitslosigkeit und Armut deutlich in Verbindung stehen, folgt ihr Ausmaß doch nicht proportional der Verbreitung derartiger struktureller Benachteiligungen, sondern wird maßgeblich von deren Relativität und vorhandenen Bewältigungsmustern in nationalen Kontexten bestimmt. Diese Erkenntnis gerät angesichts der enormen konzeptionellen Gestaltungsfunktion europäischer politischer Akteure auf dem Gebiet der Armutsberichterstattung etwas in Vergessenheit und ist doch maßgebliche Voraussetzung, um Ausgrenzungsrisiken in ihrer Entstehung zu begreifen und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung vorantreiben zu können.