Einleitung
Seit einigen Jahren beobachten nicht nur Sozialwissenschaftler, dass die Ungleichverteilung von Armut und Reichtum weltweit wieder zugenommen hat.
Wir melden allerdings Zweifel an einer Sichtweise an, der zufolge von der ungleichen Armuts- und Reichtumsverteilung direkt auf den Kampf zwischen Arm und Reich zu schließen wäre. Wir wollen keineswegs bestreiten, dass die zu beobachtende Öffnung der Einkommensschere nicht wünschenswert sei. Es geht uns jedoch nicht um diese normative, letztlich politische Frage.
Vielmehr muss das Thema aus einer doppelten Perspektive behandelt werden: Erstens wollen wir in den beiden folgenden Kapiteln zunächst die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland aufzeigen. Um jedoch Aussagen und Prognosen über das Handeln der Armen und Reichen machen zu können, werden wir zweitens zur Diskussion stellen, wie in unserer Gesellschaft die Verteilung von Armut und Reichtum erlebt wird und welche Bedeutung Arme und Reiche ihr zuschreiben. Erst dann erhält man Hinweise auf Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit sozialer Auseinandersetzungen.
I. Die Verteilung des Einkommens
Die materiellen Vor- und Nachteile lassen sich recht gut an der Geldmenge ablesen, die dem Einzelnen zum Lebensunterhalt zur Verfügung steht, denn heute sind die meisten Güter und Dienstleistungen käuflich und machen Wohlstand, Wohlfahrt und Lebensqualität gleichermaßen aus. Heute steht in Deutschland nicht mehr, wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Nützlichkeit der Dinge im Vordergrund, sondern in zunehmendem Maße das Design, die Ästhetik, nicht mehr der Gebrauchs-, sondern der Erlebniswert. Durch die fortschreitende Ästhetisierung unseres Alltags unterliegen immer mehr Gegenstände und Bereiche des Alltagslebens dem klassifizierenden Geschmack des Publikums.
Einen ersten Hinweis auf das, was sich die Deutschen leisten können, liefert das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung (BSP p.K.). Es belief sich in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 auf 25 350 US-Dollar.
Eine solche Rangliste sagt allerdings noch nichts über den Grad der ungleichen Verteilung des Einkommens aus. Ein Maß, das über die Verteilung des Einkommens (oder der Konsumausgaben) Auskunft gibt, ist der so genannte Gini-Koeffizient. Er gibt den Grad an, zu dem die Verteilung des Einkommens zwischen Individuen oder Haushalten in einer Gesellschaft von einer perfekten, d. h. Gleich-Verteilung abweicht.
So betrug der Gini-Koeffizient für Deutschland im Jahre 1995 0,30. Damit gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den eher egalitären Gesellschaften. Von den 105 Gesellschaften, für die aktuelle Daten vorliegen, wiesen nur 16 Gesellschaften einen Wert unter dem Deutschlands auf. Ein Vergleich z. B. mit den restlichen G-7-Staaten ergibt folgendes Bild: Einen kleineren Gini-Koeffizienten als Deutschland wiesen Japan (0,25) und Italien (0,27) auf, während die USA (0,41), Frankreich (0,33), Großbritannien (0,36) und Kanada (0,32) einen höheren Wert und damit eine größere Einkommensungleichheit verzeichneten. Verglichen mit den übrigen 20 OECD-Ländern nimmt Deutschland einen Platz im oberen Mittelfeld ein.
Auch diese Angaben vermitteln noch kein klares Bild über Art und Ausmaß des Reichtums der Deutschen. Wir müssen daher zunächst klären, was Reichtum überhaupt ist, ab welcher Höhe des Einkommens und/oder Vermögens man in Deutschland als reich betrachtet wird.
Angesichts der erkennbaren Reichtumskonzentration liegt es nahe, etwa die Zahl der Millionäre als Konzentrationsmaßstab heranzuziehen. Immerhin weist die jüngste Datenquelle, die bundesdeutsche Lohn- und Einkommensstatistik für das Jahr 1995, 21 002 Personen und damit 0,08 % aller Steuerpflichtigen als Einkommensmillionäre aus.
Diese Angaben lassen eine deutliche Konzentration erkennen, erlauben aber noch keine Antwort auf die Frage, wer wie viel warum erhält. Eine klarere Vorstellung über die Einkommensverhältnisse lässt sich schon durch eine quantitative Definition von "reich" gewinnen: So zieht Ernst-Ulrich Huster die Reichtumsgrenze jenseits des doppelten durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens - in Anlehnung an die Erfassung von Armut, deren Grenze durch die Hälfte des gewichteten durchschnittlichen Einkommens markiert ist.
Nimmt man diese Kriterien als definitorische Richtschnur, ergibt sich für das erste Halbjahr 1998, dass in den rund 36,8 Millionen Haushalten das (ungewichtete) durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen bei 5 020 DM pro Monat lag. Rund 2,75 Millionen Haushalte (also 7,45 % oder jeder 13. Haushalt) bezogen 1998 ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen zwischen 10 000 und 35 000 DM und können damit als reich bezeichnet werden.
So manches unerwartete Resultat liefert auch ein regionaler Vergleich: In den alten Bundesländern lag das (ungewichtete) durchschnittliche Nettohaushaltseinkommen im ersten Halbjahr 1998 bei 5 254 DM, die Reichtumsgrenze bei rund 10 500 DM monatlich. Im Jahre 1998 bezogen in den alten Bundesländern 2,58 Millionen Haushalte (8,60 %) ein (ungewichtetes) Nettoeinkommen zwischen 10 000 und 35 000 DM pro Monat, die wir nach obiger Definition als reich bezeichnet haben. Unter die approximative Armutsgrenze von 2 500 DM pro Monat fielen 6,07 Millionen Haushalte (20,30 %). In den neuen Bundesländern lag im ersten Halbjahr 1998 das (ungewichtete) durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen bei 3 956 DM pro Monat und die Reichtumsgrenze bei rund 7 900 DM. Aufgrund dieser Kriterien können dort 0,606 Millionen Haushalte (8,90 %) als reich klassifiziert werden, während 0,941 Millionen Haushalte (13,80 %) unter der Armutsgrenze von 1 978 DM pro Monat liegen.
Am besten lässt sich Deutschlands Einkommenspyramide veranschaulichen durch das Nettoäquivalenzeinkommen, das Einkommenshöhe und Haushaltsgröße verbindet, und seine Verteilung auf die verschiedenen Quintile - verstanden als soziale Schichten (von der Unterklasse des ärmsten Fünftels bis zur Oberschicht, dem reichsten Fünftel).
Akzeptiert man die Abgrenzung von Huster, können sowohl Reichtum als auch Armut in Deutschland als weit verbreitetes Phänomen angesehen werden: Das Bild vom Reichtum wird von den rund 2,75 Millionen Haushalten geprägt, deren (ungewichtetes) Nettoeinkommen das Doppelte dieses monatlichen Durchschnitts übersteigt, das der Armut jedoch durch die über acht Millionen Haushalte, die weniger als die Hälfte des (ungewichteten) Nettodurchschnittseinkommens erreichten. Der im letzten Jahr vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sieht 1998 13,7 Millionen Menschen unter der Schwelle der Einkommensarmut. Sie setzten sich nicht zuletzt aus Langzeitarbeitslosen, allein erziehenden Frauen und kinderreichen, auch erwerbstätigen Familien zusammen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, so das Resümee des Berichts, habe in den letzten Jahren zugenommen.
II. Die Verteilung des Vermögens
Die sozialpolitische Diskussion der letzten Jahre macht eines deutlich: Die Möglichkeiten, auf das in der Vergangenheit gebildete Geld- und Sachvermögen - sei es bei (vorübergehend) geringem Einkommen, sei es zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards nach der Erwerbstätigkeit - zurückgreifen zu können, werden immer wichtiger und im Rahmen der künftigen Rentenfinanzierung auch gesetzlich eingefordert. Wie schon das Einkommen, zeichnet sich auch das Privatvermögen durch eine erhebliche Ungleichheit in der Verteilung zwischen Armen und Reichen, aber auch zwischen Jungen und Alten, Ost- und Westdeutschen aus.
Einer Berechnung des Magazins Forbes zufolge nahm die Bundesrepublik bei der Zahl der Milliardäre im Jahre 1991 den dritten Platz ein.
Die deutsche Vermögenssteuerstatistik verzeichnet für das Jahr 1993 130 944 natürliche Personen von insgesamt 1 132 683 Vermögenssteuerpflichtigen, die ein Rohvermögen von mehr als einer Million DM deklarierten.
Das Statistische Bundesamt verzeichnete zum Jahresende 1999 einen Spareinlagenbestand bei Privatpersonen von 1,165 Billionen DM allein bei Banken in Deutschland, einschließlich Bausparkassen (gerechnet ohne Bauspareinlagen).
Zum Jahresende 1993 betrug das durchschnittliche Nettogeldvermögen pro Haushalt 61 119 DM (nur Westdeutschland). Dabei lagen Selbständigenhaushalte mit 155 622 DM oder 254,6 % des durchschnittlichen Nettogeldvermögens aller Haushalte deutlich vorne. Landwirtschaftliche Haushalte verfügten über ein Nettogeldvermögen von 107 249 DM, Beamtenhaushalte über durchschnittlich 74 537 DM und Angestellte 66 734 DM. Unter dem Durchschnitt lagen Arbeiterhaushalte mit 45 139 DM und Arbeitslosenhaushalte mit 30 356 DM. Das Nettogeldvermögen von nichterwerbstätigen Haushalten belief sich am Ende des Jahres 1993 auf durchschnittlich 51 632 DM.
Ein Blick auf die Haushalte mit hohem und niedrigem Geldvermögensbesitz setzt diese Zahlen auf der Grundlage der EVS ins rechte Verteilungslicht: Die Hälfte der westdeutschen Haushalte verfügte 1993 über nicht mehr als 38 000 DM Spareinlagenvermögen, ein Zehntel über höchstens 4 000 DM. Die reichsten 6 % der Haushalte konnten jedoch auf finanzielle Rücklagen von über 200 000 DM zurückgreifen, auf sie entfiel rund ein Drittel des westdeutschen Geldvermögensbestandes. In Ostdeutschland waren diese Zahlen entsprechend niedriger: So verfügten nur 2 % der Haushalte über ein Geldvermögen von mehr als 100 000 DM - und damit über gut ein Zehntel des ostdeutschen Geldvermögensbestands. Auch hier enthält der schon zitierte Gini-Koeffizient eine wichtige Botschaft: Die Konzentration des Nettogeldvermögens der privaten Haushalte im Jahre 1993 betrug bundesweit 0,60, für Westdeutschland 0,62 und für Ostdeutschland 0,59. Die Verteilung des Nettogeldvermögens war also in Westdeutschland geringfügig ungleicher als in den neuen Bundesländern.
Erwartungsgemäß ist auch die Ungleichheit in der Verteilung des Immobilienvermögens im Vergleich zum Geldvermögen beträchtlich größer. Im Vergleich zum Geldvermögen ist die Konzentration von Immobilienbesitz in den neuen Bundesländern stark ausgeprägt, und zwar in den unteren Bereichen der Vermögensskala. Der Grund dafür liegt nicht nur im größeren Anteil der Haushalte mit Haus- und Grundvermögen in Westdeutschland zum Zeitpunkt der deutschen Einigung. Darüber hinaus bewirkt die schlechtere Bausubstanz in den neuen Ländern eine starke Klumpung der Grundvermögenswerte im unteren Bereich.
Das Vermögen ist also deutlich ungleicher verteilt als das Einkommen. Meinhard Miegel rechnete schon zu Beginn der achtziger Jahre vor, dass die "Reichen", die 2,1 % der Bevölkerung ausmachen, nicht nur über knapp ein Zehntel (genau: 9 %) aller Haushaltseinkommen, sondern auch über ein Fünftel (genau: 19,2 %) des gesamten Privatvermögens verfügten. Ein ähnliches disproportionales Verhältnis ergab sich beim Bevölkerungsdrittel der "unterdurchschnittlich Gestellten", deren Anteil am Einkommen ein knappes Viertel (genau: 23,6 %), am Vermögen aber nur ein Siebtel (genau: 14,2 %) ausmachte.
Natürlich ist diese Diskrepanz in der Verteilung von Einkommen und Vermögen mit der Chance zur Vermögensbildung zu erklären. Sie hängt entscheidend von der Einkommenshöhe ab, genauer: von dem Einkommensanteil, der nicht zum täglichen Verbrauch bestimmt ist.
Von einer Nivellierung der materiellen Ungleichheit in Deutschland kann also nicht die Rede sein, allenfalls von einer leichten Verbesserung des Verhältnisses zwischen dem reichsten und dem ärmsten Quintil - und das auch nur beim Einkommen, beim Vermögen haben die Disparitäten eher zugenommen.
Natürlich hat sich auch die Bedeutung der weitgehend konstanten Einkommensungleichheit geändert, die heute im Vergleich zu früher auf einem höheren Niveau zum Tragen kommt. "Schlechtgestellt" zu sein bedeutet heute etwas anderes als in der unmittelbaren Nachkriegszeit oder in den "Goldenen Zwanzigern".
Die Entwicklung des Volkseinkommens war zwischen 1800 und 1950 eher bescheiden, auch wenn sich das Realeinkommen im Kaiserreich immerhin verdoppelte und das reale Volkseinkommen pro Kopf 1950 nur ein Drittel größer war als 1900. Da die Größe der Haushalte schrumpfte, war das reale Volkseinkommen pro Haushalt 1950 sogar niedriger als zu Beginn des Jahrhunderts.
Seit der Gründung der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende hat sich das reale Volkseinkommen allerdings mehr als vervierfacht, allein in den Wirtschaftswunderjahren veränderte es sich ebenso stark wie in den vorangegangenen drei Jahrhunderten - mit revolutionären Folgen durch die neuen Möglichkeiten für den Einzelnen, der den Schutz durch den Staat eigentlich nicht mehr nötig hätte. Doch viele Gesellschaftsmitglieder verhalten sich noch immer wie vor ein oder zwei Generationen.
III. Kampf der Armen gegen die Reichen?
Nicht nur Sozialwissenschaftler fragen sich, warum "die in einer Gesellschaft (bzw. in der Welt) bei der Verteilung begehrter Güter regelmäßig benachteiligte, an der selbstständigen Bestimmung ihres Schicksals gehinderte und vielfach diskriminierte Mehrheit der Bevölkerung diesen Zustand so häufig tatenlos hinnimmt"
Betrachtet man die modernen Schauplätze, an denen Arme Reiche treffen könnten, um ihre Ansprüche zu formulieren, muss man zwangsläufig das Gegenteil annehmen. Lenkt man zunächst den Blick auf mögliche Reichtumskonflikte in der Welt der Berufe, fällt ein banales, aber nicht minder wirksames Phänomen auf: Als hierarchisch strukturierte Gebilde erzeugen Betriebe als Arbeitsorganisationen in der modernen Gesellschaft zwar primär ungleiche Einkommen, schließen jedoch intern Konflikte weitgehend aus. Der Grund dafür liegt in der Mitgliedschaftsregel. Sie besagt, dass sich jedes Mitglied einer formalen Organisation mit seinem Beitritt bestimmten, teilweise ausformulierten Verhaltenserwartungen unterwirft. In Konfliktsituationen zieht sich die Arbeitsorganisation darauf zurück, dass alle Mitglieder primär und auf gleiche Weise dem Organisationszweck verbunden sein sollen.
Frustrationen, Enttäuschungen und Konflikte müssen sich deshalb in der Berufswelt ihren Weg oft unterirdisch bahnen. So ist die Ungleichheit von Karrieremöglichkeiten und die Benachteiligung der Frauen zwar offenkundig, dennoch können Enttäuschungen nicht adäquat ausgedrückt werden. Karrierehoffnungen treffen angesichts der Knappheit höherer Stellen zwangsläufig auf die arbeitsorganisatorische Abwehr von Ansprüchen, die den Mitgliedern eine enttäuschungsbereite Vorsichtshaltung nahe legt.
Das duale System der industriellen Beziehungen verhindert zudem schon im Ansatz die Verhärtung von Konflikten zwischen Mitarbeitern, Betriebsräten und Geschäftsführungen. Während sich der Betriebsrat um die interne Vertretung von Interessen kümmert, wird der Streit ums Geld jeweils der Bühne des Unternehmens ausgetragen.
Die Ventilfunktion des Flächentarifvertrags wird dadurch jedoch nicht vermindert. Wären an seiner Stelle unzählige Verhandlungen zu führen, würden die Verteilungskonflikte in jedem Betrieb zu einer viel debattierten Realität. Sie würden nicht nur von der Arbeit abhalten. Folgenreicher wäre ihre Verunsicherung über die Angemessenheit ungleicher Einkommensverteilungen. Flächentarifverträge speisen so das Normalitätsempfinden. Auch wenn man sein Gehalt bescheiden findet, weiß man wenigstens, dass die Kolleginnen und Kollegen auf derselben Stufe genauso bezahlt werden, und zwar nicht nur die am nächsten Schreibtisch, sondern auch im gesamten Land.
Was im außertariflichen Bereich passiert, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die tariflich bezahlten Mitarbeiter stellen bestenfalls Vermutungen über die Gehälter der leitenden Angestellten und Führungskräfte an. Werden Spitzengehälter dennoch thematisiert, führen sie eher zur Bewunderung als zu Konflikt und Aufbegehren. Die hohen Gehälter der Leitenden erscheinen dann eher als Beweis für ihre Übermacht.
Immerhin schreibt z. B. das Aktiengesetz im § 87 Abs. 1 vor, dass "die Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft" stehen müssten. Wenn der Aufsichtsrat der Deutschen Bank ihrem Vorstandsvorsitzenden 12,682 Millionen Euro Jahresgehalt zubilligt, dann scheint das für die normalen Angestellten kaum nachvollziehbar zu sein. Diese Vergütung entspricht dem Jahresgehalt von mehr als 400 Bankangestellten, die gemäß Tarifvertrag mit rund 30 000 Euro "angemessen" entlohnt werden.
Die frühere Faustregel, dass Vorstandsmitglieder das Zwanzigfache des Facharbeiterlohnes verdienen, bewegt sich heute jenseits des Dreihundertfachen. Ganz abgesehen davon schließen hohe Abfindungen das persönliche Existenzrisiko ohnehin aus, auch wenn "goldene Handschläge" wie jene für Mannesmann-Chef Klaus Esser (60 Millionen DM) oder Chrysler-Chef Robert Eaton (97 Millionen Dollar) von der Größenordnung her Ausnahmen waren. Die Angemessenheit ungleicher Bezahlungen ist kaum mehr erkennbar, wenn sich die durchschnittliche Vergütung der Vorstände deutscher Großunternehmen zwischen 1995 und 2000 fast verdreifacht und ihre Grundvergütung mehr als verdoppelt, während tarifvertraglich entlohnte Arbeitnehmer in dieser Zeit in den meisten Branchen nur knapp zehn Prozent mehr Geld erzielen konnten.
Diese Entwicklung ändert jedoch nichts daran, dass es in der Berufswelt heute im Regelfall gelingt, mit Hilfe von kollektiven Tarifverträgen das Willkürempfinden der Menschen weitgehend aufzulösen. Wer als Neuankömmling in der Welt der Berufe eine Enttäuschung erlebt und ungerechte Unterordnung beklagt, dem bestätigen die bereits sozialisierten Kollegen, dass alles seine Richtigkeit habe. Der erste mögliche Schauplatz des Konflikts zwischen Arm und Reich stellt sich für den Bürger erstaunlich konfliktfern dar.
Wendet sich der Bürger hingegen politischen Öffentlichkeiten zu, kann er anders erleben, empfinden und handeln, denn dort gilt die Hemmung des Konfliktausdrucks gerade nicht. In der Familie, Verwandtschaft und in geselligen Freundeskreisen, im öffentlichen Protest, neuen sozialen Bewegungen oder abends vor dem Bildschirm beschwert sich der Bürger nicht selten über die Ungerechtigkeit von Armut und Reichtum. Wer es im Beruf nicht geschafft hat, eine Tarifgruppe höher eingestuft zu werden, ganz zu schweigen von Beförderungen in Führungsebenen, die andere Einkommensdimensionen versprechen, sucht nach Ausdrucksmöglichkeiten für seine Enttäuschungen. Das gilt vor allem dann, wenn ein Vorankommen im Berufsleben ausbleibt oder sich das Gegenteil einstellt: der berufliche Abstieg, der durch Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Firmenschließungen, Karriereeinbrüche und Standortverlagerungen heute millionenfach eintritt.
Wenn der Bürger seinen Frust in der Öffentlichkeit ausspricht, bleibt wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass dessen eigentliche Quellen politisch nicht konfliktfähig sind. Die Organisationshierarchie hat in politischen Konflikten noch nie zur Disposition gestanden. Über Berufskarrieren kann nur in Unternehmen selbst entschieden werden. Führungspositionen können nicht vermehrt werden. Dass berufliche Hierarchien ungleiche Anerkennungs- und Achtungschancen hervorbringen, können Gewerkschaften ebenso wenig verhindern wie die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit von Berufskarrieren schon zu einem frühen Zeitpunkt in eine Sackgasse mündet und in erstaunlichem Ausmaß immer noch vom Status der Herkunftsfamilie abhängt.
Zudem können, seitdem in den siebziger Jahren der kurze Traum immerwährender Prosperität zu Ende gegangen ist, die westlichen Wohlfahrtsstaaten die Kluft zwischen Arm und Reich nicht mehr durch steigende Steuereinnahmen mildern. Noch Anfang der siebziger Jahre haben die Erfahrung ständiger Einkommenserhöhungen, wachsender Konsumchancen und der Glaube an ein ewiges Wachstum dem Bürger eine Lebensperspektive gegeben, die gleichsam automatisch nach "oben" zeigte. Berufliche Mobilitätserwartungen brauchten sich deshalb nicht unbedingt auf hierarchische Aufstiege zu richten.
Seit dem Ende dieser Träume befinden sich die Rollen der Menschen im Berufsleben und als Staatsbürger im Rückwärtsgang, so dass der Bürger nicht nur viel öfter in "unkonventionellen" Rollen gegenüber dem Staat auftritt.
Während Finanzminister, egal welcher politischen Couleur, schon beim Amtsantritt ein grundsätzliches Veto gegen jeglichen Ausgabenwunsch verkünden, wird die Anspruchsinflation durch Interessenvertreter, Verbände, Parteien und Massenmedien verstärkt. Die Klagen über neue Armut, Massenarbeitslosigkeit und die sich erweiternde Schere von Arm und Reich verhallen zwar nicht ungehört. Aber das laute, politische Getöse spaltet die Gesellschaft nicht, weil es weitgehend folgenlos bleibt. Im Ergebnis findet sich der Staatsbürger am Feierabend zu den Nachrichten wieder und schüttelt den Kopf über das, was Interessenvertreter und Politik ihm zu bieten haben. Politikverdrossenheit ist das Ergebnis; Armut und Reichtum bleiben von öffentlichen Auseinandersetzungen weitgehend unberührt.
In der korporatistisch formierten Gesellschaft Deutschlands ist ein etwaiger Schauplatz für Kämpfe um Vermögensverteilungen nicht auszumachen. Im institutionalisierten, entschärften Tarifkonflikt geht es um Einkommens-, nicht um Vermögensfragen, schon gar nicht um grundsätzliche Verteilungsfragen. Vermögen wird still vererbt, leise angehäuft oder zufällig im Lotto gewonnen, nicht jedoch durch öffentlich sichtbare, beabsichtigte und bestimmten Gruppen zurechenbare Entscheidungen zugewiesen. Dadurch ist es desintegrierenden Auseinandersetzungen von vornherein entzogen. Die weniger Reichen und auch die Armen erleben den Reichtum der Reichen mit Bewunderung in den Boulevardblättern und bei RTL-Exklusiv. Sie schauen zu ihnen auf, hegen keine Umsturzgelüste und wissen zudem nicht viel über das genaue Ausmaß dieses Reichtums.
Wie Untersuchungen immer wieder gezeigt haben, definieren die Menschen ihre Lage nicht, wie man als externer Beobachter leicht glauben könnte, nach statistischen Verteilungsmaßstäben sozialer Gleichheit oder Gerechtigkeit. Sie beurteilen ihre materielle Lebenslage vielmehr im Verhältnis zu ihren jeweiligen Bezugsgruppen, um eigene Normalitätserwartungen zu bilden. Selbst wenn sie "objektiv" als arm erscheinen, meinen sie, sie seien selbst eher ein Durchschnittsfall.
IV. Die Rechtfertigung: Anspruch und Wirklichkeit
Die ungleiche Verteilung und das ungleiche Erleben von Armut und Reichtum erinnern daran, dass unsere Gesellschaft nicht nur eine Meritokratie ist, in der jeder das erhält, was seiner Begabung und Anstrengung entspricht. Vielmehr wird auch heute ein nicht geringer Teil dessen, was die Menschen im Lebensverlauf erhalten, über die Geburt, die soziale Herkunft, den Status und das Vermögen der Eltern von Generation zu Generation weitergereicht. Allerdings ist die Transparenz dieser aristokratischen Kontinuität verloren gegangen. Während Leistung als Begründung von Verteilungsentscheidungen hoch im Kurs steht und einige Forscher gar glauben, den sich verstärkenden Aufstieg der intelligentesten Menschen in die höchsten Positionen belegen zu können,
Langfristig überwiegen zweifellos die institutionalisierten Kräfte, die im ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital der Gesellschaftsmitglieder schlummern und die Kluft zwischen Arm und Reich eher öffnen denn schließen. Überdies wird über die Verteilung der erstrebten Ressourcen in den Zentren der Organisationen von Wirtschaft und Verwaltung, Politik und Bildung entschieden. Das Beispiel der Selbstbedienung bei Aktienoptionen, mit denen sich neuerdings auch deutsche Manager die astronomischen Millionengehälter ihrer amerikanischen Kollegen einräumen (wollen), zeigt, dass Einkommensverteilungen nicht abstrakten Angemessenheits- oder Gerechtigkeitsprinzipien folgen. Sie hängen vielmehr von der jeweiligen sozialen Position und der Macht ab, die dieser Stellung innewohnt.
Die unübersehbare Aufspreizung distributiver Ungleichheit geschieht heute ohne besondere Aufregung und wird zunächst nur von Statistikern bemerkt. Sie braucht keine aufwendigen Konflikte. Ihre treibende Kraft ist ungebrochen und wurde in der Ausbauphase des Wohlfahrtsstaates nur kurzzeitig gebremst, nicht aber außer Kraft gesetzt. Auf mehr Gleichheit und Einkommensgerechtigkeit zielende Gegenbewegungen brauchen demgegenüber intensive politische Konflikte, um erfolgreich sein zu können. Heute darf auch nicht übersehen werden, dass die wohlfahrtsstaatliche Befriedung des kapitalistischen Wirtschaftens in einer Zeit großen wirtschaftlichen Wachstums erfolgte.
Wer vor diesem Hintergrund mit seinen materiellen Lebenschancen hadert, hat immer noch den selbstbetäubenden Ausweg: Man macht sich einfach nichts aus Geld, denn Geld (allein) macht nicht glücklich. Wenn, ja wenn das Wünschen nicht wäre und der Neid nicht in aller Munde, auch wenn er keinem über die Lippen kommt! Immerhin zeigen amerikanische Studien über den Zusammenhang von Glück und Geld, dass trotz gestiegener Einkommen die Zufriedenheit in den Industrienationen über Jahrzehnte gleich geblieben ist.