I. Einleitung
Der Sozialstaat in Deutschland wurde lange Zeit von einem hohen gesellschaftlichen Konsens getragen, der als sozialstaatlicher Konsens bezeichnet wurde. Sowohl bei den politischen Eliten als auch bei den Bürgern war die Zustimmung zur staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit außergewöhnlich hoch. So wurde der Ausbau des Sozialstaats in der Nachkriegszeit von beiden großen Volksparteien, der CDU und der SPD, vorangetrieben. Sie werden deshalb auch als "Sozialstaatsparteien" bezeichnet.
Erste Anzeichen für ein Aufbrechen des sozialstaatlichen Konsenses gab es nach dem Wirtschaftseinbruch 1973/74. Finanzierungsprobleme waren der Anlass dafür, dass auf der Elitenebene der erreichte Umfang des Sozialstaats in Frage gestellt und eine Stärkung des Engagements der Bürger sowie marktwirtschaftlicher Mechanismen gefordert wurde. In der öffentlichen Diskussion fand danach eine zunehmende Polarisierung statt, und politisch wurde "eine sozialpolitische Wende" zu einer restriktiveren Sozialpolitik mit Leistungskürzungen vollzogen. Nach der deutschen Einheit hat die Auseinandersetzung um den Sozialstaat einen neuen Höhepunkt erreicht. Zum einen haben sich die Finanzierungsprobleme durch die lang andauernde Arbeitslosigkeit, demographische Ungleichgewichte und die Folgekosten der deutschen Einheit massiv verschärft. Zum anderen wird im Zuge der ökonomischen Globalisierung der Sozialstaat wegen seiner hohen Lohnnebenkosten zunehmend als Hemmnis für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft betrachtet. Diese politische Diskussion wird von weiteren Sozialleistungskürzungen begleitet.
Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass die zunehmend konflikthafte politische Auseinandersetzung und die restriktivere Sozialpolitik auch auf der Bürgerebene zu einer Erosion des sozialstaatlichen Konsenses geführt haben und dass die Konflikte um das angemessene wohlfahrtsstaatliche Arrangement
Das gemeinsame Merkmal dieser Hypothesen zu neuen sozialstaatlichen Konfliktstrukturen ist die Annahme, dass der Sozialstaat aufgrund von Verteilungskonflikten Gegensätze zwischen verschiedenen sozialstrukturellen Gruppierungen erzeugt. Das gilt vor allem bei gravierenden Finanzierungsproblemen des Sozialstaats. Grundsätzlich stehen sich die Nutznießer des Sozialstaats, die ein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung und Ausdehnung des Sozialstaats haben, und solche Gruppen gegenüber, die den Sozialstaat entweder finanzieren oder in geringerem Maß von dessen Existenz profitieren. Für diese vom Sozialstaat selbst erzeugten Gruppierungen hat M. Rainer Lepsius den Begriff der "Versorgungsklassen" geprägt.
In den neunziger Jahren dürfte noch der Konflikt zwischen den Bürgern der alten und der neuen Bundesländer hinzugekommen sein. Aus zwei Gründen kann angenommen werden, dass die Bürger der neuen Länder umfassendere Sozialstaatsvorstellungen besitzen als die Bürger der alten Länder: Zum einen handelt es sich beim Wohlfahrtsstaat um einen der wenigen Aspekte, bei dem die Bürger der ehemaligen DDR eine klare Überlegenheit des sozialistischen gegenüber dem westlichen Gesellschaftssystem sehen. Zum anderen ist diese Gruppe nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ökonomie in überdurchschnittlichem Ausmaß von den Leistungen des Sozialstaats abhängig.
Vor dem Hintergrund dieser Diskussion wird im Folgenden untersucht, ob der sozialstaatliche Konsens auf der Ebene der Bundesbürger nach dem Wirtschaftseinbruch 1973/74 tatsächlich aufgebrochen ist und ob dabei neue, durch den Sozialstaat selbst geschaffene Konfliktstrukturen entstanden sind. Die empirischen Analysen basieren auf verschiedenen repräsentativen Bevölkerungsumfragen, die zwischen 1976 und 2000 in den alten und zwischen 1990 und 2000 in den neuen Bundesländern durchgeführt worden sind.
II. Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland
Der sozialstaatliche Konsens bezieht sich auf die grundsätzliche Akzeptanz des Sozialstaats - und das wiederum bedeutet, dass einer staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zugestimmt wird. Dabei kann zwischen zwei Objekten der Zustimmung unterschieden werden: Die Zustimmung kann erstens dem institutionellen Kern des Sozialstaats gelten, der in einer Absicherung des Einkommens in Risikofällen wie Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit sowie in Notsituationen besteht. Sie kann sich zweitens auf das Wohlfahrtsstaatsmodell insgesamt beziehen, das neben der Einkommenssicherheit auch andere Aufgaben wie beispielsweise die Erhöhung der Chancengleichheit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einschließt. Die Grundlage für den institutionellen Kern des deutschen Sozialstaats wurde bereits von Bismarck mit der Errichtung der Sozialversicherungssysteme gelegt. Die weiteren Aufgaben sind im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats in der Nachkriegszeit hinzugekommen.
Die Akzeptanz des institutionellen Kerns des Sozialstaats wird empirisch über die Zustimmung zur folgenden Aussage ermittelt: "Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat." Die in Schaubild 1 dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die Akzeptanz dieses institutionellen Kerns in den alten und in den neuen Ländern außerordentlich hoch ist. In den alten Ländern liegt sie bei durchschnittlich 89 Prozent der Befragten und in den neuen Ländern sind es sogar durchschnittlich 96 Prozent. In beiden Landesteilen hat diese Zustimmung seit dem ersten Erhebungszeitpunkt (alte Länder: 1976, neue Länder: 1991) zwar kontinuierlich etwas abgenommen. Trotz dieser leichten Erosion liegt im Jahr 2000 die Zustimmung aber immer noch bei 85 Prozent in den alten Ländern und bei 93 Prozent in den neuen. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen beiden Landesteilen so marginal, dass im Hinblick auf den institutionellen Kern des Sozialstaats nicht von einem Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland gesprochen werden kann.
Zu deutlich anderen Ergebnissen kommt man allerdings, wenn man nach dem von den Befragten präferierten Wohlfahrtsstaatsmodell fragt (Schaubild 2). Auf der Basis der verfügbaren Daten können drei verschiedene Modelle untersucht werden, die jeweils ein unterschiedliches Aufgabenspektrum umfassen:
- Ein christdemokratisches Modell, das sich durch eine umfassende Staatsverantwortung für Einkommenssicherheit in Risikofällen auszeichnet und außerdem eine Verantwortung für sozioökonomische Chancengleichheit übernimmt (bspw. durch Maßnahmen im Bildungsbereich).
- Ein sozialdemokratisches Modell, das darüber hinaus durch eine staatliche Verantwortung für eine mehr oder weniger ausgeprägte Ergebnisgleichheit (Nivellierung sozioökonomischer Ungleichheit) sowie Vollbeschäftigung charakterisiert ist.
- Ein sozialistisches Modell, das zusätzlich noch Staatsinterventionen in die Ökonomie wie die Kontrolle von Löhnen und Gehältern umfasst.
Vom christdemokratischen zum sozialistischen Modell nimmt der Umfang der Staatsaufgaben kumulativ zu, d. h., jedes Modell schließt die Aufgaben des Vorgängermodells ein. Nach Experteneinschätzung entspricht der deutsche Sozialstaat am ehesten dem christdemokratischen Modell.
In Schaubild 2 ist verzeichnet, welches Wohlfahrtsstaatsmodell die Bundesbürger in den achtziger und neunziger Jahren subjektiv bevorzugen. Diese subjektiven Modelle wurden auf der Basis mehrerer Fragen nach der gewünschten staatlichen Verantwortung für einzelne Aufgaben wie die Bereitstellung von Arbeitsplätzen u. ä. konstruiert; die Befragten wurden also nicht direkt nach der Einschätzung der Modelle gefragt.
Im Zeitvergleich lassen sich nur leichte Verschiebungen in Richtung einer geringeren Verantwortung des Staates feststellen. In den alten Bundesländern steigt zwischen 1985 und 1996 der Anteil der Befragten, der lediglich einen christdemokratischen Wohlfahrtsstaat präferiert, von 12 auf 17 Prozent. In Ostdeutschland sinkt zwischen 1990 und 1996 die Präferenz für ein sozialistisches Modell von 76 auf 68 Prozent. Diese Entwicklung kann als eine gewisse Anpassung an die Finanzierungsprobleme des Sozialstaats und die restriktivere Sozialpolitik interpretiert werden. Die eklatante Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland bleibt allerdings auch noch zum letzten Erhebungszeitpunkt im Jahr 1996 bestehen.
III. Institutioneller Kern des Sozialstaats
Im nächsten Schritt werden die prognostizierten Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb Ost- und Westdeutschlands untersucht. Im Einzelnen werden Konflikte behauptet zwischen
1. den Empfängern von Sozialleistungen - Arbeitslose sowie Rentner und Pensionäre - und den Erwerbstätigen, die den Sozialstaat finanzieren;
2. Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die ebenfalls als Nutznießer des Sozialstaats betrachtet werden, und den im privaten Sektor Beschäftigten;
3. Männern und Frauen, und zwar in dem Maße, in dem Frauen durch die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird und sie dadurch zu Nutznießern des Wohlfahrtsstaats werden;
4. jüngeren Generationen, die insbesondere die Renten finanzieren, und den älteren Generationen, die von diesen Zahlungen profitieren.
Wenn diese Annahmen zutreffen, dann sollten die Nutznießer den institutionellen Kern des Sozialstaats stärker befürworten und sich für ein umfassenderes Wohlfahrtsstaatsmodell aussprechen als die Gruppen, die den Sozialstaat finanzieren oder in geringerem Maß von seiner Existenz profitieren. Um das zu überprüfen, wird die Entwicklung der Gruppenunterschiede zunächst für den institutionellen Kern des Sozialstaats und im nächsten Abschnitt für die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsmodelle analysiert.
Tabelle 1: Staatliche Zuständigkeit für Einkommenssicherheit in Risikofällen für verschiedene Bevölkerungsgruppen (Zustimmung in Prozent)
Bevölkerungsgruppe Alte Länder Neue Länder1976 1984 1994 2000 1994 2000 Erwerbstätig 92 89 85 82 95 90 Arbeitslos 93 97 92 91 99 96 Rentner/Pensionär 93 91 89 86 98 96 Privater Sektor - - 87 82 97 93 Öffentlicher Sektor - - 86 84 95 90 Männer 92 89 85 83 96 90 Frauen 94 93 89 86 97 95 18 - 24 Jahre 95 95 95 94 99 95 25 - 34 Jahre 92 92 91 89 97 93 35 - 54 Jahre 92 89 84 81 95 90 55 - 64 Jahre 94 93 83 84 98 92 65 Jahre und mehr 95 90 87 86 99 97Quelle: ZUMABUS 1976; Allgemeine Bevölkerungsumfrage Sozialwissenschaften 1984, 1994, 2000.
In der Tabelle 1 ist für jede der oben genannten Bevölkerungsgruppen der Prozentsatz derjenigen Befragten zusammengestellt, der einer staatlichen Verantwortung für Einkommenssicherheit in Risikofällen zustimmt. Pro Jahrzehnt wurde jeweils ein Zeitpunkt ausgewählt. 1976, unmittelbar nach der Wirtschaftskrise, lassen sich in den alten Ländern praktisch keine Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppierungen feststellen. Zwischen 1976 und 2000 nimmt in allen Gruppen die Akzeptanz des institutionellen Kerns des Sozialstaats zwar kontinuierlich, aber nur in geringem Ausmaß ab (Ausnahme: die Arbeitslosen im Jahr 1984). Die Gruppenunterschiede werden nach 1984 etwas größer, dabei ist in der Regel die Zustimmung zum institutionellen Kern des Sozialstaats bei den Nutznießern etwas höher. Allerdings nehmen die Gruppenunterschiede nicht kontinuierlich über die Zeit zu, und sie sind in späteren Jahren immer noch so gering, dass man bestenfalls von leichten Anzeichen eines möglichen Konfliktes zwischen den Gruppen sprechen kann. Auch im Jahr 2000 liegt der niedrigste Zustimmungswert immer noch bei 81 Prozent (Gruppe der 35- bis 54-Jährigen). Nach wie vor existiert in Westdeutschland also in Bezug auf den institutionellen Kern des Sozialstaats ein hoher Konsens.
In den neuen Ländern lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten: praktisch keine Unterschiede zwischen den Gruppen im Jahr 1994, leicht sinkende Akzeptanz in allen Bevölkerungsgruppen und leicht zunehmende Differenzen im Jahr 2000. Diese Entwicklungen finden aber auf einem noch höheren Zustimmungsniveau statt als in Westdeutschland, so dass in Ostdeutschland in Bezug auf den institutionellen Kern des Sozialstaats von einem nahezu vollständigen sozialstaatlichen Konsens gesprochen werden kann.
IV. Wohlfahrtsstaatsmodelle
Im Folgenden werden die über den institutionellen Kern des Sozialstaats hinausgehenden Präferenzen für verschiedene wohlfahrtsstaatliche Modelle betrachtet. Dafür stehen uns Befragungen aus den achtziger und neunziger Jahren (1985, 1996) zur Verfügung, d. h., direkte Aussagen zur aktuellen Situation können nicht gemacht werden.
In Tabelle 2 ist für jede Bevölkerungsgruppe der Anteil der Befragten ausgewiesen, der das jeweilige Wohlfahrtsstaatsmodell präferiert. In den alten Bundesländern ist nicht nur die Mehrheit aller Bürger für ein sozialdemokratisches Modell, sondern auch innerhalb der untersuchten Bevölkerungsgruppen spricht sich jeweils die Mehrheit für dieses Modell aus. Ebenso nimmt zwischen 1985 und 1996 in allen Gruppen der Anteil der Befragten zu, der ein christdemokratisches Wohlfahrtsstaatsmodell befürwortet (Ausnahme: Arbeitslose). Wenn Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen vorliegen, dann konzentrieren sich diese in erster Linie auf das sozialistische Modell. Der Konflikt ist also einseitig und bezieht sich vornehmlich auf einen noch umfassenderen Wohlfahrtsstaat als den, der gegenwärtig existiert.
Zu beiden Erhebungszeitpunkten sind die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf das präferierte Wohlfahrtsstaatsmodell gering. Wie erwartet, befürworten die Nutznießer des Sozialstaats tendenziell ein umfassenderes Modell. Lediglich bei den Altersgruppen liegt nicht der erwartete Zusammenhang vor (nämlich dass die Präferenz für einen umfassenderen Wohlfahrtsstaat mit zunehmendem Alter steigt). Stattdessen lässt sich ein U-förmiger Zusammenhang beobachten. Der sozialistische Wohlfahrtsstaat wird überdurchschnittlich stark nicht nur von den Angehörigen der ältesten Kohorte (der Generationengruppe über 65 Jahre), sondern auch von den Angehörigen der jüngsten Kohorte (18 - 24 Jahre) präferiert. Wir vermuten, dass es sich bei der starken Befürwortung eines umfassenden Wohlfahrtsstaats bei den jüngeren Alterskohorten um einen Lebenszykluseffekt handelt, der insbesondere 1985 durch die stark postmaterialistische Orientierung der jüngeren Alterskohorten verstärkt wurde. Insgesamt sind in Westdeutschland die Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen nur schwach ausgeprägt, und über die Zeit zeichnet sich keine Zunahme der Differenzen ab. In einem Fall, zwischen den Erwerbstätigen und Leistungsempfängern, kommt es sogar zu einer Abnahme der Gruppenunterschiede, weil die Rentner und Pensionäre im Jahr 1996 nicht mehr eine überdurchschnittliche Präferenz für das sozialistische Modell aufweisen.
In den neuen Bundesländern spricht sich in allen Bevölkerungsgruppen die Mehrheit für ein sozialistisches Modell aus. Sofern überhaupt Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen vorliegen, beziehen sie sich auch hier nur auf dieses Modell. Zum einen existieren die prognostizierten Unterschiede zwischen den Erwerbstätigen und den Leistungsempfängern. Zum anderen liegen, wenn auch in geringerem Ausmaß, die prognostizierten Unterschiede zwischen den Alterskohorten vor. Die Alterskohorten ab 55 Jahren präferieren in stärkerem Maß den sozialistischen Wohlfahrtsstaat als die 18- bis 34-Jährigen. Darin dürfte sich aber weniger der prognostizierte "Krieg der Generationen" als vielmehr ein Konflikt zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen abzeichnen. Die 55- bis 64-Jährigen, die nach dem massiven Arbeitsplatzabbau in Ostdeutschland ihren Arbeitsplatz verloren haben, besitzen wegen ihres Alters geringere Arbeitsmarktchancen und sind deshalb überproportional von Sozialleistungen abhängig. In beiden Fällen handelt es sich wohl um einen spezifischen postkommunistischen Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern der Systemtransformation, der letztlich in dem durch den Zusammenbruch der sozialistischen Ökonomie verursachten hohen Arbeitsplatzverlust begründet liegt. Insgesamt sind die Differenzen in Bezug auf das Wohlfahrtsstaatsmodell in Ostdeutschland jedoch ebenfalls nur schwach ausgeprägt.
V. Allmähliche Erosion des Konsenses und neue Konfliktlinie
Nach dem Wirtschaftseinbruch 1973/74 ging auch das "goldene Zeitalter" des Sozialstaats zu Ende, das durch eine kontinuierliche Expansion charakterisiert war. Das neue Zeitalter zeichnet sich durch zunehmende politische Auseinandersetzungen um das angemessene wohlfahrtsstaatliche Arrangement und durch Sozialleistungskürzungen aus. Nach den hier präsentierten empirischen Befunden haben die Bürger auf diese "sozialpolitische Wende" reagiert, allerdings nicht in dem Ausmaß und in der Art und Weise, wie dies von vielen angenommen worden ist.
Zwar gibt es, erstens, empirische Belege dafür, dass die Zustimmung zum institutionellen Kern des deutschen Sozialstaats abgenommen und die Präferenz für weniger umfassende Wohlfahrtsstaatsmodelle zugenommen hat. Aber in beiden Fällen ist das Ausmaß der Veränderung nur gering. Es lässt sich somit bestenfalls ein allmählicher Erosionsprozess konstatieren. Die Bürger der alten und der neuen Länder akzeptieren nach wie vor (mit überwiegender Mehrheit) den institutionellen Kern des Sozialstaats. Weiterhin präferiert die Mehrheit der Westdeutschen ein sozialdemokratisches Wohlfahrtsstaatsmodell und spricht sich die Mehrheit der Ostdeutschen für ein sozialistisches Wohlfahrtsstaatsmodell aus.
Ferner gibt es zwar, zweitens, empirische Anhaltspunkte für zunehmende Differenzen zwischen den Nutznießern des Sozialstaats und denjenigen, die ihn finanzieren oder in geringerem Maße von seiner Existenz profitieren. Allerdings handelt es sich dabei wiederum nur um schwache Anzeichen einer solchen Entwicklung. Die Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen haben nur leicht und in erster Linie zwischen den siebziger und achtziger Jahren zugenommen. Außerdem konzentrieren sie sich auf wenige Gruppen, und zwar auf die Sozialleistungsempfänger und die Erwerbstätigen einerseits und verschiedene Alterskohorten andererseits.
Im Unterschied zu den Kürzungen von Sozialleistungen, die in den achtziger und neunziger Jahren eine größere Zustimmung fanden,
Die relativ größte Differenz bei den Einstellungen zum Sozialstaat ist eine Folge der deutschen Einheit - sie lässt sich zwischen den Bürgern der alten und denen der neuen Bundesländer beobachten. Nach den hier präsentierten Befunden haben die Bürger der neuen Bundesländer andere Sozialstaatsvorstellungen als die der alten Länder. Sie sprechen sich in deutlich stärkerem Ausmaß für eine Ausweitung der Staatsaufgaben über den institutionellen Kern des Sozialstaats, die Einkommenssicherheit in Risikofällen, hinaus aus. Der stärkste Konflikt besteht also nicht zwischen Befürwortern eines Sozialstaatsabbaus und den Befürwortern des Sozialstaats in seinem gegenwärtigen Umfang, wie dies in Anbetracht der objektiven Finanzierungsprobleme erwartet werden konnte. In der wichtigsten Konfliktkonstellation stehen sich genau umgekehrt die Befürworter eines Status quo und eines weiteren Sozialstaatsausbaus in Richtung eines sozialistischen Wohlfahrtsstaats gegenüber.
Bei den Bürgern der neuen Bundesländer besteht also eine Inkongruenz zwischen dem in Deutschland implementierten Sozialstaat und dem mehrheitlich präferierten sozialistischen Wohlfahrtsstaatsmodell. Die Chancen, diese Inkongruenz aufzuheben oder auch nur zu reduzieren, sind in Anbetracht der massiven Finanzierungsprobleme unter den Bedingungen der ökonomischen Globalisierung sehr gering. Die künftige Sozialpolitik steht nicht im Zeichen des weiteren Ausbaus, sondern des Um- und Abbaus. Gleichzeitig kann von einer schnellen Anpassung der Bürger in den neuen Ländern an diese objektiven Bedingungen im Sinne einer Reduktion ihrer Ansprüche an den deutschen Sozialstaat nicht ausgegangen werden. Es gibt theoretische und empirische Anhaltspunkte dafür, dass diese umfassenden Sozialstaatsvorstellungen durch die Sozialisation im sozialistischen System der DDR erworben worden sind.
Nach Meinung vieler politischer Beobachter sollte sich eine Erosion des sozialstaatlichen Konsenses in Deutschland als Folge der Finanzierungsschwierigkeiten seit der Wirtschaftskrise von 1973/74 abzeichnen. Erwartet wurde demzufolge eine Konfliktlinie zwischen den Nutznießern des gegenwärtigen Sozialstaats und denjenigen, die ihn entweder finanzieren oder in geringerem Maß von seiner Existenz profitieren. Das Konfliktthema, an dem sich diese Konfliktlinie festmacht, sollte der Abbau des Sozialstaats sein. Nach unserer Analyse lässt sich ein solcher Konflikt nur schwach ausgeprägt und in ersten Anzeichen identifizieren. Diejenige Konfliktlinie, die nach unseren Befunden am ehesten zu erwarten ist, ist eine zwischen West- und Ostdeutschen. Dabei geht es um einen Ausbau des Sozialstaats in eine sozialistische Richtung. Da unter den bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen ein solcher Ausbau kaum durchführbar ist, existiert hier ein Konfliktpotenzial, das auf Dauer auch für das gesamte politische System der Bundesrepublik delegitimierende Wirkungen haben könnte.
Internetverweis der Autorin:
www.wz-berlin.de/siv/sb/aktuelles/datenreport_02.htlm