I. Krise als Chance - Die Wiederentdeckung rationaler Ressourcennutzung
"Lassen Sie uns die BSE-Krise als Chance zum Neuanfang begreifen", rief die frisch gebackene Bundesverbraucherschutzministerin Renate Künast den Eröffnungsgästen der Internationalen Grünen Woche am 18. Januar 2001 in Berlin zu. Damit lag sie zur Hochzeit der BSE-Krise Anfang 2001 voll im Trend der Zeit. Bundeskanzler Schröder hatte bereits vorher die konsequente "Abkehr von den Agrarfabriken" und von "industrieller Landwirtschaft" gefordert
Ausgehend von dieser grundlegenden Idee eines Ressourcenübernutzungsverbots soll daher zunächst die Frage beantwortet werden, welche Nachhaltigkeitsaspekte für die deutsche und europäische Agrarpolitik zu berücksichtigen sind. Dabei können im Rahmen dieses Beitrages nur die maßgeblichen Meilensteine der Konzeptualisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs aufgegriffen werden. Im Zuge dessen wird abzuwägen sein, inwieweit die auf die Agrarpolitik zugeschnittenen Nachhaltigkeitskonzepte als Lösungsansätze und Korrektiv für die offensichtlichen Fehlentwicklungen der Agrarpolitik fungieren können.
Als Ergebnis soll ein weitgehend auf der Arbeit der niedersächsischen Regierungskommission "Zukunft der Landwirtschaft - Verbraucherorientierung" fußender Vorschlag dargestellt werden, auf dem eine mittelfristig angelegte und dringend notwendige Debatte über ein belastbares agrarpolitisches Nachhaltigkeitskonzept aufbauen kann. In diesem Zusammenhang sollen auch die verschiedenen Nachhaltigkeitselemente einer Politik für die ländlichen Räume vorgestellt werden.
II. Nachhaltigkeit als sozial- ökologisches Modernisierungs- projekt
Die eigentliche Renaissance und Weiterentwicklung des Konzepts der Nachhaltigkeit ging von der Brundtland-Kommission
Gerade diese weit gefasste Definition birgt die Gefahr der Überformung in sich. Insbesondere diejenigen Akteure, die den aus der Reichsnährstandsideologie
Sicherlich vermag die rein regional-ökologisch ausgerichtete Agrarpolitik als alleinige Nachhaltigkeitsstrategie nicht zu überzeugen. Noch weniger nachvollziehbar und durch die historische Genese des Nachhaltigkeitsbegriffs gerechtfertigt ist es jedoch, diese gegen eine eindimensionale rein betriebswirtschaftlich geprägte technisch-ökonomische Sichtweise auszuspielen. Das Beispiel zeigt deutlich, dass eine Konkretisierung des Nachhaltigkeitsleitbildes sowohl in der Agrarpolitik als auch in vielen anderen Politikfeldern dringend geboten ist, um dem offensichtlichen Missbrauch des "kritisch gedacht[en Konzepts] gegenüber Wachstumsfixierung und Ressourcenverschleiß"
III. Agenda 21 als universelle Grundlage agrarpolitischer Zukunftsfähigkeit?
Umso wichtiger wäre es daher, in der Agenda 21 eine eindeutig missbrauchssichere Ausprägung des Nachhaltigkeitsbegriffs fixiert zu wissen. Sollte dort eine konsistente und allgemeingültige Entwicklungsstrategie vorzufinden sein, wären die in den einzelnen Kapiteln für verschiedene Politikfelder formulierten Ziele und Maßnahmen bedeutende Wegweiser auf dem beschwerlichen Weg der Nachhaltigkeit. Insbesondere die Tatsache, dass 178 Staaten auf der von den Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro
Mag der erste, die Agenda 21 durchziehende Grundsatz, dass die Menschen im Zentrum der Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung stehen, noch auf unsere Zustimmung stoßen, so ist eine allgemein postulierte, bereits heute stattfindende, primär ökonomisch motivierte Globalisierung als generelle Heilsbringerin abzulehnen. Gleiches gilt für einen weitgehend auf technischen Fortschritt
Grundsätzlich gilt es aber zu beachten, dass die jetzigen Nachhaltigkeitsdefizite der europäischen und deutschen Agrarpolitik nicht durch eine fortschreitende Technisierung oder den Einsatz der grünen Gentechnik lösbar sind. Schließlich werden im EG-Binnenmarkt noch immer mehr Agrarprodukte produziert, als von den 370 Mio. Bürgern der Gemeinschaft verzehrt werden können. Freilich wäre eine Überproduktion in den mitteleuropäischen Gunstlagen nachzuvollziehen, gäbe es die Möglichkeit, Agrarprodukte auf den internationalen Märkten unsubventioniert zu verkaufen. Dies ist derzeit nicht der Fall, da beispielsweise Roggen nur dank EU-Exportprämien verbilligt auf dem Weltmarkt abgesetzt oder gar im Rahmen von Entsorgungsmaßnahmen vor der Küste Koreas als Fischfutter verklappt wird.
Schon heute zeigen die Forschungsergebnisse zur ökologischen Modernisierung sehr deutlich, wo die Grenzen eines rein technozentrierten und auf die wundersamen Heilkräfte der neoliberalen Ökonomie vertrauenden Ansatzes liegen. Konnten die technisch einfach zu lösenden Umweltschutzaufgaben durch End-of-Pipe-Technologien noch erfolgreich bearbeitet werden, so reift allmählich in der Politik die Erkenntnis, dass die "persistent problems"
Diese einschlägigen Beispiele verdeutlichen, dass die die Agenda 21 durchziehenden Grundtendenzen der Liberalisierung der Weltmärkte und des technischen Fortschritts somit keinen Anspruch als maßgebliches Paradigma einer europäischen Nachhaltigkeitsstrategie für die Agrarpolitik haben können.
IV. Agrarpolitisches Leitbild der Nachhaltigkeit
Sowohl der Bericht der Brundtland-Kommission als auch die Agenda 21 vermögen es aus den vorgenannten Gründen nicht, einen konsistenten Weg für eine nachhaltige Entwicklung der europäischen Agrarpolitik aufzuzeigen. Um aber auch für diesen Politikbereich zukunftsfähige Politikalternativen anbieten zu können, ist es zunächst erforderlich, Kriterien festzulegen. Nachhaltigkeit, ver-standen als Prozessregulierungsfunktion bestimmter Entwicklungsmuster, gründet dabei im engeren Sinne auf das bereits eingangs angeführte Ressourcenübernutzungsverbot. Die Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des Deutschen Bundestages hat dazu im Jahre 1994 mit ihren vier Grundsätzen des Nachhaltigkeitsleitbildes einen bemerkenswerten Konkretisierungsbeitrag geleistet.
1. erneuerbare Ressourcen nur ihrer Regenerationsrate entsprechend genutzt werden sollen;
2. endliche Rohstoffquellen nur insoweit einer anthropogenen Nutzung unterzogen werden sollen, soweit diese sowohl in stofflicher als auch funktionaler Sicht durch erneuerbare Ressourcenträger ersetzt werden und gleichzeitig eine höhere Produktivität garantieren;
3. Umweltbelastungen nicht die natürlich vorgegebene Umweltkapazität der Hauptumweltmedien Luft, Boden und Wasser bzw. deren Abbauleistung übersteigen;
4. eine temporäre Äquivalenz zwischen Eintrags- bzw. Eingriffszeitpunkt einerseits und zwischen natürlichen Zeiträumen und Prozessabläufen andererseits bestehen soll.
Diese nun vordergründig sehr starke Ausrichtung auf die ökologische Dimension des Nachhaltigkeitskonzepts ist entwicklungshistorisch dadurch bedingt, dass die Nachhaltigkeitsdiskussion von Beginn an sehr stark mit Fragen der ökologischen Modernisierung und einer innovationsorientierten Umweltpolitik gekoppelt war. Dennoch darf dieser Sachverhalt nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ökonomische und soziale Funktionen gleichberechtigt behandelt werden müssen. Letztgenannte Faktoren erfordern deshalb die Beachtung bestimmter Spielregeln hinsichtlich einer inter- und intragenerationellen Verteilungsgerechtigkeit um materielle und immaterielle Ressourcen. Letztendlich bedarf insbesondere die ökonomische Komponente gesteigerter Aufmerksamkeit, da es für eine nachhaltige Entwicklung von existenzieller Bedeutung ist, Wirtschaftsinteressen gezielt einzubinden und zu regulieren. Die heute in großem Umfang um den Preis ökologischer Degradation oder sozialer Ausbeutung realisierten kurzfristigen Gewinne sind in einem der Nachhaltigkeit verpflichteten Wirtschaftssystem nicht länger tolerierbar.
Die Extrapolation dieser Grundsätze auf die Agrarpolitik ergibt nun ein Leitbild, das bereits in weiten Teilen von der agrarpolitischen Arbeitsgruppe des Rats für nachhaltige Entwicklung treffend formuliert wurde.
1. in ökonomischer Hinsicht durch unternehmerisches Handeln geprägt ist, weitgehend ohne Subventionen auskommt und somit wettbewerbsfähig ist. Die in der Agrarwirtschaft Beschäftigten erzielen ihr Einkommen nicht nur durch die Erzeugung gesunder Lebensmittel und deren teilweise regional gebundene Direktvermarktung und Weiterverarbeitung, sondern im Sinne einer multifunktionalen Landwirtschaft auch durch die Erschließung weiterer Erwerbsquellen im Tourismussektor, durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe oder die Erzeugung von Energie aus Biomasse. Darüber hinaus ergeben sich weitere Einkommensmöglichkeiten durch die staatliche Honorierung von Naturschutz- und Landschaftspflegeleistungen;
2. in der ökologischen Dimension mit den natürlichen Ressourcen Boden, Luft und Wasser so umgeht, dass diese auch vor langfristigen negativen Einflüssen geschützt sind. Das bedeutet konkret, dass Dünge- und Pflanzenschutzmittel so sparsam und sorgfältig eingesetzt werden, dass angrenzende unkultivierte Bereiche und Gewässer nicht beeinträchtigt werden. Die Bewirtschaftungsform soll ferner eine artenreiche und vielfältige Kulturlandschaft erhalten, wobei es auch das genetische Potenzial alter Kulturpflanzensorten und Haustierrassen zu bewahren gilt;
3. im sozialen Bereich sichere Arbeitsplätze im ländlichen Raum bereitstellt. Die Frage, ob dabei auch der Erhalt bäuerlicher Familienbetriebsstrukturen angestrebt werden soll, ist hinsichtlich ihrer Arbeitsplatzwirksamkeit derzeit nicht eindeutig zu klären. So kann ein auf Gesellschafterbasis operierender Betrieb
4. in den ethischen Fragen des Tierschutzes gewährleistet, dass Nutztiere sowohl in der Haltung als auch der Zucht und Fütterung tiergerecht behandelt und nicht unnötig gequält werden;
5. den Verbraucherschutz zu einem neuen politischen Paradigma macht. Der mit der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in einem fordistischen Produktionssystem abgeschlossene historische Kompromiss, gegen Einkommenssicherheit die Bereitstellung einer ausreichenden Lebensmittelversorgung für die städtischen Ballungsgebiete und die Industriebeschäftigten zu gewährleisten, hat in dieser Schlichtheit ausgedient.
V. Nachhaltigkeitsdefizite der EU-Agrarpolitik
Neben der zu Recht kritisierten Beliebigkeit und Unverbindlichkeit soll jedoch anerkannt werden, dass in Kapitel 14.4 der Agenda 21 eine "Überprüfung der Agrarpolitik, Planung und Entwicklung integrierter Programme unter Berücksichtigung des multifunktionalen Aspekts der Land-wirtschaft ..."
Die GAP, die bereits 1957 in den Römischen Verträgen angelegt wurde, ist das beste Beispiel für die fortschreitende europäische Integration,
"Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik ist es:
a) die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu steigern;
b) auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung, insbesondere durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen, eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten;
c) die Märkte zu stabilisieren;
d) die Versorgung sicherzustellen;
e) für die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen Sorge zu tragen."
Betrachtet man objektiv den Erreichungsgrad der vorgenannten Ziele, so wird deutlich, dass die Produktivität der Landwirtschaft in den vergangenen fünf Jahrzehnten EU-weit exponentiell zugenommen hat und die Versorgung der Bevölkerung mit preiswerten Lebensmitteln im Binnenmarkt sichergestellt ist. Wie das Janusgesicht, so weisen aber auch die Erfolge der EU-Agrarpolitik eine Kehrseite auf. Denn neben diesen offensichtlichen Wohlstandsgewinnen hat die GAP gleichzeitig bei der Stabilisierung der Einkommen der in der Landwirtschaft Tätigen und bei der Angebotsbegrenzung auf den Produktmärkten kläglich versagt. Insbesondere das unzeitgemäße Beharren auf falschen Mechanismen der GAP hat dazu geführt, dass das eine zugunsten des anderen zunehmend teurer erkauft wurde. Während vor der McSharry-Reform 1992 die produktionsgekoppelten Stützungsmaßnahmen zu einem gigantischen Anstieg der Produktion führten, drohten die Agrarmärkte im Sinne einer massiven Überschussproduktion außer Kontrolle zu geraten. Nur noch durch umfangreiche Stützungskäufe sowie durch teuer subventionierte Lagerhaltung und Exporte konnten die Märkte auf einem bestimmten Preisniveau gehalten werden. Gleichzeitig wurden die kleinen und mittleren Betriebe durch diese Politik zunehmend aus dem Markt gedrängt, da nur die reine Massenproduktion honoriert wurde. Der Strukturwandel ist deshalb nicht als ein notwendiges Übel, sondern als das Ergebnis einer politisch bewusst gewollten, aber aus heutiger Sicht fehlgesteuerten GAP zu verstehen, die die großen Betriebe immer verhältnismäßig stärker subventionierte als die Kleinbauern. Zwar ist durch die Einführung von einkommenstützenden Direktzahlungen an die Landwirte
Die Zielstrukturen der heutigen GAP sind veraltet und dringend reformbedürftig, weil sie der Nachkriegszeit entstammen, in der Nahrungsmittel Mangelware waren. Auf der EU-Agrarpolitik lastet damit ein Reformstau, der alle Dimensionen der Nachhaltigkeit betrifft und nur durch eine Änderung des EG-Vertrages aufgelöst werden kann:
1. Die GAP ist ökonomisch nicht nachhaltig, weil sie aus volkswirtschaftlicher Perspektive den Verbrauchern in der EU enorme Subventionskosten anlastet und aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein angemessenes Einkommen für die kleinen und mittleren Betriebe gewährleistet. Fiskalisch betrachtet, ist die GAP ein schwerer Mühlstein für den Finanzhaushalt der EU, dessen Rahmen durch eine Expansion auf die MOE-Beitrittskandidaten endgültig gesprengt werden dürfte.
2. In der ökologischen Dimension fördert die jetzige GAP eine Landwirtschaft, die Massenrohstoffe für den Weltmarkt produziert und damit nicht nur Märkte in sich entwickelnden Ländern zerstört, sondern auch große Umweltprobleme mit sich bringt, deren Umweltkosten bis heute von der Allgemeinheit getragen werden. Die seit 1992 von der EU geförderten Agrarumweltmaßnahmen sind jedoch nur als ökologisches Feigenblatt zu bewerten, die den zunehmenden Belastungstrend nicht aufzuhalten oder umzukehren vermögen.
3. Letztendlich ist die GAP auch sozial ungerecht, da diejenigen vier Prozent der Landwirte, die einen Spitzenbetrieb bewirtschaften, 40 Prozent der Subventionen erhalten, während diejenigen Bauern, die ums Überleben kämpfen, weitgehend leer ausgehen.
Neben diesen ungelösten agrarinnenpolitischen Fragen existieren aber auch durch die EU-Osterweiterung und die nächste Verhandlungsrunde der WTO weitere agraraußenpolitische Herausforderungen, die eine Reform der GAP unter echten Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zwingend erforderlich machen. Im Folgenden soll die Arbeit der 17-köpfigen Niedersächsischen Regierungskommission "Zukunft der Landwirtschaft - Verbraucherorientierung" vorgestellt werden, die sich dieser Aufgabe bereits gestellt und ein weitgehend konsistentes, finanzierbares und nachhaltiges Agrarpolitikmodell entworfen hat.
VI. Zukunftsperspektiven für eine nachhaltige EU-Agrarpolitik
Dass Niedersachsen für die Konzeption einer neuen, nachhaltigen europäischen Agrarpolitik eine besondere Rolle spielt, ist alles andere als ein Zufall. Zwei Drittel der Landesfläche werden landwirtschaftlich genutzt. Die trotz eines rapiden und umfassenden Strukturwandels immer noch relativ hohe Bedeutung der Landwirtschaft in Niedersachsen spiegelt sich in der Bruttowertschöpfung des Landes wider: Während im Bundesdurchschnitt nur noch 1,1 Prozent in diesem Sektor erwirtschaftet werden, sind es in Niedersachsen mehr als doppelt so viel: 2,8 Prozent. Mit 175 000 Personen umfasst der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft immerhin noch 4 Prozent der Beschäftigten und liegt damit wiederum doppelt so hoch wie im Bundesvergleich. Noch existieren 66 000 Bauernhöfe, allerdings ca. 42 Prozent davon im Nebenerwerb. Der gesamte Landwirtschaftssektor inklusive der Ernährungsindustrie ist, gemessen an der Beschäftigtenzahl und Wertschöpfung, der zweitwichtigste Wirtschaftszweig nach der Automobilindustrie. 1999 wurde Niedersachsen neben 7,8 Mio. Menschen u. a. von 2,8 Mio. Rindern, 5,5 Mio. Schweinen, 13,7 Mio. Legehennen und 26,4 Mio. Jung-Masthühnern "bevölkert".
Aber Niedersachsen teilt als führendes Agrarland Deutschlands ebenso Licht und Schatten einer Landwirtschaft, die permanenten gesellschaftlichen und industriellen Umwälzungen und Fortentwicklungen unterworfen ist. Steter struktureller Wandel und schließlich der erste BSE-Fall in Schleswig-Holstein gaben am 24. November 2000 der niedersächsischen Landesregierung den Anstoß für die Einsetzung einer Regierungskommission. Unter dem programmatischen Titel "Zukunft der Landwirtschaft - Verbraucherorientierung" hatte sie den Auftrag, sowohl die dringlichsten Schritte zu einer umfassenden Qualitätssicherung und -kontrolle in der Fleischproduktion aufzuzeigen als auch die "derzeitige Agrarpolitik vorbehaltlos zu hinterfragen"
Die Kommission entwickelte im Kern folgendes Szenario für eine zukunftsfähige Agrarpolitik und setzt dabei zeitlich im Jahr 2007, mit dem Auslaufen der Beschlüsse der EU zur "Agenda 2000", an:
1. Entkoppelung von der Produktion und Auslaufenlassen der bisherigen landwirtschaftlichen Direktzahlungen innerhalb eines Zeitraumes von rund 20 Jahren. Die dabei eingesparten Mittel sollen für einen Zeitraum von zehn Jahren in vollem Umfang in eine Politik für den ländlichen Raum investiert werden, also für die Weiterentwicklung und Neuausrichtung der Agrarstruktur zur Verfügung stehen.
2. Gleichzeitig soll die "2. Säule der gemeinsamen Agrarpolitik", also die Maßnahmen für die Landwirtschaft und die ländlichen Räume zur Honorierung von gesellschaftlich erwünschten Leistungen ausgebaut werden, die durch das Marktgeschehen selbst nicht ausgelöst werden.
3. Aus ethischen bzw. gesellschaftlichen Gründen gewählte höhere nationale Produktionsstandards in der Landwirtschaft sollen durch nationale Kompensationszahlungen ausgeglichen werden. Als Instrumente dieser Politik sind Kompensationszahlungen auf EU-Ebene, Schutzzölle auf Drittlandsprodukte und die Besteuerung nicht gewünschter Haltungs- und Produktionsverfahren durch Abgaben auf entsprechende in- und ausländische Produkte denkbar.
Mit diesem Szenario wird für die Agrarpolitik ein Paradigmenwechsel vorgeschlagen. Anstelle von Subventionen soll eine Honorierungspolitik für das Erbringen gesellschaftlich erwünschter Leistungen treten. Danach können zukünftig alternative Einkommensquellen in der Landwirtschaft, beispielsweise durch verstärkten Tier- und Umweltschutz, ergebnisorientierter erschlossen werden. Zudem hat das Szenario das Potenzial, den anstehenden Verhandlungen zur WTO und EU-Osterweiterung standhalten zu können. Es wäre daher wünschenswert, wenn dieses Konzept von der Bundesregierung in die bevorstehenden Verhandlungen zum mid-term-review der Agenda 2000 einbezogen würde, da in diesem Verfahren für ein Bundesland keine direkte Einwirkungsmöglichkeit auf die EU-Ebene besteht.
Eine Reihe von Vorschlägen der Kommission zielt auf eine Verbesserung der ökologischen Rahmenbedingungen, unter denen die Landwirtschaft produzieren soll. Stärkere Förderung des Vertragsnaturschutzes, Ackerrandstreifenprogramme und Handlungsempfehlungen im Bereich des Grundwasserschutzes zur Begrenzung des Nährstoffaustrages sind hier beispielhaft zu nennen.
Für den Bundesgesetzgeber relevant ist die Forderung, den Tierschutz zu stärken. Tierschutz ist in Deutschland schon seit einigen Jahren, und zunehmend auch in der EU, ein Thema von wachsender Bedeutung. Bestehende Mindeststandards müssen wie bei der Schweinehaltung überprüft und angehoben oder sogar in einigen Bereichen wie beispielsweise bei der Rinderhaltung neu etabliert werden.
Nach den Vorschlägen der Kommission soll mit dem Ausbau der 2. Säule eine deutliche Politikentflechtung im Mehrebenensystem EU-Bund-Bundesländer einhergehen. Das Ziel ist eine allgemeine Effizienzsteigerung durch die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips mit damit einhergehender fiskalischer Äquivalenz.
In diesem Kontext ist die einzelbetriebliche Investitionsförderung EU-weit auf Investitionen zu beschränken, mit denen gesellschaftliche Ziele wie Tier- oder Umweltschutz verfolgt werden. Das Gutachten schlägt eine Förderung nur für über dem Standard liegende Umwelt- bzw. Tierschutzstandards vor.
VII. Die dritte Säule der Nachhaltigkeit und eine Politik für die ländlichen Räume
Der Endbericht der Regierungskommission greift prägnant einen Aspekt in der Diskussion um eine nachhaltige Agrarpolitik auf, der in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommt. Die Forderungen nach einer umweltverträglicheren und Aspekte des Tierschutzes berücksichtigenden Agrarpolitik sind mittlerweile geläufig. Was allerdings ein Desiderat zu werden droht, ist die Auseinandersetzung um die dritte Säule der Nachhaltigkeitsstrategie: die soziale Dimension der Entwicklung ländlicher Räume.
Dies erstaunt umso mehr, als die Fakten allgemein zugänglich sind. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und der Beschäftigten sank in den letzten zehn Jahren stark, während die durchschnittliche Betriebsgröße wuchs. 2001 gab es rund 447 000 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland, 32 Prozent weniger als 1991. Gleichzeitig sank die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen um 560 000 auf 1,3 Mio., darunter 860 000 Familienarbeitskräfte. Die durchschnittliche Hofgröße wuchs im gleichen Zeitraum von 26,1 ha auf 38,2 ha.
Diese Entwicklung trifft auch auf Niedersachsen zu
Die ausreichende Besiedlung der ländlichen Räume und damit ihre Funktionsfähigkeit hängen davon ab, ob bei der landwirtschaftlichen Nutzung auch eine ökologisch intakte und vielfältige Kulturlandschaft bewahrt wird. In diese Richtung weisen die Vorschläge der Regierungskommission. Mit einer Umwidmung der Finanzmittel werden wesentliche Bedingungen für attraktive und qualitätsvolle Wohnstandorte, für Naherholung und Fremdenverkehr geschaffen. Den konzeptionellen Mittelpunkt bildet das "neue Dorf". Es geht darum, das bürgerschaftliche Engagement durch die Verwaltung zu fördern, die Nachteile bei der verkehrlichen Anbindung durch den Zugang zu modernen IuK-Techniken zu kompensieren und sich um eine lebendige örtliche Kultur zu bemühen. Entscheidend neben solchen weichen Standortfaktoren wird es sein, den Landwirten Einkommensalternativen insbesondere im Bereich des Tourismus und der erneuerbaren Energien zu bieten. In Niedersachsen mit seinem vielfältigen und reichen Angebot an unterschiedlichen Landschaftstypen, aber auch in anderen Regionen Deutschlands wäre dies ein gangbarer Entwicklungspfad, der durch Regionalisierungskonzepte politisch zu unterstützen ist. Einer der wesentlichen Schwachpunkte der bisher entwickelten Politikkonzepte liegt allerdings darin, dass die Bevölkerung der ländlichen Räume in der Regel selbst noch zu wenig an der Entwicklung neuer Konzepte beteiligt ist und so der vorhandene Sachverstand für die "Weiterentwicklung der Agrarlandschaften" nicht ausgeschöpft wird.
Im Rahmen einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie ist insbesondere den ländlichen Räumen eine erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen und organisatorisch abzusichern, indem die Zuständigkeiten für Regionalmanagement, Strukturförderung, Infrastrukturentwicklung und regionale Wirtschaftsförderung in einer Hand zusammengeführt werden. Unter diesem Aspekt ist Agrarpolitik heute nicht mehr in Landwirtschaftsressorts traditionellen Zuschnitts, sondern in Ministerien für den ländlichen Raum mit entsprechenden Zuständigkeiten anzusiedeln.
VIII. Fazit
Nach unserem Eindruck kann die weitere Diskussion um die Neuausrichtung der Agrarpolitik, die materiell eine Debatte um eine nachhaltige Landwirtschaft sein muss, in vielen Bereichen aus dem oben dargestellten Endbericht der Regierungskommission "Zukunft der Landwirtschaft - Verbraucherorientierung" wertvolle Ansätze entnehmen. Entscheidend ist, dass unabhängig davon die an einer nachhaltigen Landwirtschaft Interessierten einige Leitlinien beachten, mit denen wir unseren Überblick über die Problematik der bisherigen Landwirtschaft und die Lösungsansätze für eine Konzeption der Nachhaltigkeit schließen wollen:
These 1: Nachhaltigkeit als neues Leitbild. Nach der BSE-Krise und auch nach dem Nitrofen-Skandal besteht die politische Chance, qualitativ ein neues Leitbild in der Ernährungs- und Gesundheitspolitik durchzusetzen. Das Interesse an der Produktion ausreichender und preislich billiger Nahrungsmittelmengen tritt hinter einem Interesse an gesundheitsförderlichen und sicheren Nahrungsmitteln zurück, deren Produktion die Umweltbedingungen nicht verschlechtert: "Klasse statt Masse." Dieser Paradigmenwechsel der Nahrungsmittelerzeugung bietet zudem die Möglichkeit für neue Bündnisse, denn dieses Leitbild ist nicht nur für aufgeklärte Unternehmer und die Öko-Branche gültig, sondern entspricht auch den Zielen der Arbeitnehmer-, Verbraucher- und Umweltorganisationen für die "Qualität des Lebens", die diese Forderung bereits in den Zeiten der sozialliberalen Reformperiode erhoben haben.
These 2: Neues Politikmodell fördert Nachhaltigkeitsansätze. Mit der BSE-Krise hat ein Wechsel des Politikmodells in der Agrarpolitik begonnen. Auch hier gilt nunmehr die Erkenntnis, dass eine hochkomplexe kapitalistische Industriegesellschaft nicht mehr zentralistisch, ohne Mitwirkung aller an einem Problem beteiligten gesellschaftlichen Kräfte quasi "von oben" geleitet werden kann. Beteiligung, strukturierte Diskussion an "Runden Tischen" und die abschließende Absicherung der Ergebnisse durch die gewählten Parlamente und Regierungen sind moderne Politikformen. Dieser Wechsel ist ein wichtiger Bestandteil der von der Bundesregierung postulierten "Agrarwende" oder besser "Neuausrichtung der Agrarpolitik". Wichtig ist dabei die Einbeziehung der Interessen der Verbraucher und der abhängig Beschäftigten.
These 3: Europäisierung und Globalisierung von Nachhaltigkeitspolitik. Die politische Debatte darf nicht ohne Berücksichtigung der hier wirksamen Aspekte von Europäisierung und Globalisierung geführt werden. Der in der Vergangenheit erzeugte Preisdruck auf die landwirtschaftlichen Produzenten verführte zum Unterlaufen von Gesundheitsstandards und ökologischen Anforderungen. Diese Tendenz wird im Zusammenhang mit der anstehenden EU-Osterweiterung und WTO-Runde nicht verschwinden, sondern sich eher verstärken. Die Öffentlichkeit darf daher nicht einseitig die Landwirte aufs Korn nehmen, sondern muss die Verantwortung der Nahrungsmittelindustrie und Handelsketten für diesen Prozess benennen. Darüber wurde und wird in der öffentlichen Debatte nach der BSE-Krise bisher zu wenig oder gar nicht diskutiert. Hier kann nur dann wirkungsvoll entgegengesteuert werden, wenn Nachhaltigkeitsforderungen und -ansätze auf europäischer und internationaler Ebene politisch mit Bündnispartnern aus der Ökologiebewegung und den Landwirtschaftsverbänden abgestimmt und vernetzt werden.
These 4: Keine Nachhaltigkeit ohne Bündnis mit den Verbrauchern. Es wird darauf ankommen, dass dieses neue Leitbild nicht zu einer Spaltung der Verbrauchergruppen führt. Dazu bedarf es der politischen Mobilisierung der Organisationen, die sich traditionell den Interessen der breiten Schichten der Verbraucher verpflichtet fühlen, die abhängig oder gar nicht beschäftigt sind. Ein politischer Ansatz für eine nachhaltige Agrarpolitik bedarf daher der Flankierung durch die Organisations- und Durchsetzungspotenz der verbraucherstärkenden Maßnahmen. So sind in den Länder- und Bundeshaushalten ausreichende Mittel für den institutionellen Verbraucherschutz einzustellen
These 5: Koordinierte Entwicklungsprogramme für den gesamten ländlichen Raum. Nachhaltigkeit ist nicht erreichbar, wenn Landflucht und Perspektivlosigkeit für die Bewohner der ländlichen Regionen einerseits und die weitere Verdichtung in den Metropolregionen andererseits ungebremst fortschreiten. Ohne politische Steuerung ist diesem Trend nicht zu begegnen. Die Landwirtschaft im eigentlichen Sinne ist dabei ein wesentlicher Faktor, aber nicht der alleinige Schlüssel zur Problemlösung in den ländlichen Räumen. Die Politik für die ländlichen Räume kann nicht allein von den Zentren her und mit einer ungezielten Subventionierung gesteuert werden. Nachhaltigkeit ist ohne die Beachtung ihrer dritten Säule, also ohne soziale Verträglichkeit und Perspektivenbildung für die Bewohner der ländlichen Räume, nicht erreichbar. Entwicklungskonzepte für die Regionen sollten an ihren jeweiligen Stärken ansetzen, um Schwachstellen in der Infrastruktur und im kulturellen Bereich auszugleichen. Dazu muss der Sachverstand der Landwirte und der Bewohner der ländlichen Regionen genutzt und ihre Beteiligung an der Realisierung von regionalen Entwicklungskonzepten institutionalisiert werden.